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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 13.04.2006
Aktenzeichen: 5 Ws (B) 135/06
Rechtsgebiete: OWiG


Vorschriften:

OWiG § 74 Abs. 2
Aus der dem Gericht obliegenden Fürsorgepflicht ergibt sich, dass vor der Verwerfung eines Einspruchs mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von etwa 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten ist. Wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, dass er sich verspäten werde, ist ein weiterer Zeitraum zuzuwarten. Dies gilt unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zur Last fällt.
Beschluß

Geschäftsnummer: 5 Ws (B) 135/06 2 Ss 56/06

In der Bußgeldsache gegen

1.

2.

wegen Zuwiderhandlung gegen die Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen und über Fachbetriebe (VAwS)

hat der 5. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts in Berlin am 13. April 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 15. Juni 2005 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat die Einsprüche der Betroffenen gegen die Bußgeldbescheide des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin vom 21. März 2005 (jeweils 125,-- Euro Geldbuße wegen Zuwiderhandlung gegen die Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen und über Fachbetriebe (VAwS)) durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil die vom persönlichen Erscheinen nicht entbundenen Betroffenen in der Hauptverhandlung am 15. Juni 2005 trotz ordnungsgemäßer Ladung ausgeblieben waren. Gegen das am 5. Dezember 2005 zugestellte Urteil haben die Betroffenen rechtzeitig auf die Zulassung der Rechtsbeschwerde angetragen (§§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 OWiG) und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Den Antrag auf Wiedereinsetzung hat das Amtsgericht mit Beschluß vom 5. Januar 2006 als unzulässig verworfen. Die Rechtsbeschwerde wurde durch Beschluß des Senats vom 11. April 2006 zugelassen. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

1. Das Amtsgericht Tiergarten hatte Termin zur Hauptverhandlung auf den 15. Juni 2005, 10.45 Uhr anberaumt. Am Terminstage begaben sich die im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf, Ortsteil Lankwitz wohnhaften Betroffenen versehentlich in die im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf, Ortsteil Zehlendorf und nicht die im Stadtbezirk Mitte, Ortsteil Tiergarten gelegene Kirchstraße, in der sich die Sitzungssäle der Wirtschaftsabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten befinden. Dieses Amtsgericht ist in Berlin zentral für die Entscheidungen nach § 68 Abs. 1 OWiG zuständig. Gegen 10.15 Uhr trafen sie dort ein. Da der Bußgeldbescheid vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf erlassen war, gingen sie davon aus, daß die in der Ladung bezeichnete Kirchstraße die in Zehlendorf gelegene sei. Dort befindet sich das Rathaus Zehlendorf.

Nachdem sie festgestellt hatten, daß es sich um das falsche Gebäude handelte, riefen sie gegen 10.30 Uhr im Amtsgericht Tiergarten an und teilten mit, daß sie sich aufgrund des Versehens etwas verspäten würden und das Gericht solange warten solle. Als sie kurz nach 11.00 Uhr im Gericht eintrafen, war ihr Einspruch bereits gegen 11.05 Uhr durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen worden.

2. Das Amtsgericht hat den Einspruch der Betroffenen unter Mißachtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens verworfen. Das Urteil verletzt insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht und führt im Ergebnis dazu, die Betroffenen in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör zu beeinträchtigen, da sie sich nicht zur Sache einlassen konnten (vgl. KG NZV 2001, 356, 357, Beschluß vom 29. November 2000 - 3 Ws (B) 513/00 -).

a) Urteile, durch die ein Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen wird, müssen so begründet sein, daß das Rechtsbeschwerdegericht die für die Verwerfung maßgebenden Erwägungen nachprüfen kann. Hierzu gehört insbesondere, daß im Urteil von dem Betroffenen vorgebrachte Entschuldigungsgründe und sonstige das Ausbleiben möglicherweise rechtfertigende Tatsachen wiedergegeben werden (Kammergericht, a.a.O., m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil noch gerecht. Das Gericht hat sich mit der oben dargestellten telefonischen Mitteilung der Betroffenen in den Urteilsgründen zwar kurz aber gerade noch ausreichend auseinandergesetzt. Warum es jedoch "ganz offensichtlich keine ausreichende Entschuldigung für (das) Ausbleiben" ist, daß sich die Betroffenen zur Kirchstraße in Zehlendorf begeben haben, erschließt sich nicht ohne weiteres. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, daß der angefochtene Bußgeldbescheid vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf erlassen worden ist und sich in der dortigen Kirchstraße das Rathaus befindet, wo der Bußgeldbescheid verfaßt worden ist. Es lag demnach für einen rechtsunkundigen Laien nicht völlig fern, daß die Verhandlung über den gegen diesen gerichteten Einspruch ebenfalls in Zehlendorf stattfinden würde.

Unabhängig hiervon war das Ausbleiben der Betroffenen jedoch zunächst (ohne Berücksichtigung ihres Anrufs) nicht ausreichend entschuldigt, da sich aus der Ihnen zugestellten Ladung zum Termin eindeutig ergab, daß dieser in Berlin-Tiergarten und nicht in Zehlendorf stattfinden würde. Bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt hätten die Betroffenen dies auch erkennen können.

b) Das Amtsgericht hat jedoch auch in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Verspätung nicht ausreichend entschuldigt ist, die Grundsätze eines fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht zu beachten (vgl. KG a.a.O., S. 357, m.w.N.).

Aus dieser ergibt sich zum einen die Pflicht mit einer gewissen Verzögerung des Betroffenen zu rechnen und eine Wartezeit von etwa 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten. Zum anderen jedoch hat das Gericht ebenfalls die Pflicht, wenn der Betroffene innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, daß er sich verspäten werde, einen weiteren Zeitraum zuzuwarten (vgl KG a.a.O.). Dies gilt unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zur Last fällt.

Vorliegend haben die Betroffenen jedoch nicht grob nachlässig oder gar mutwillig gehandelt. Angesichts der im Streitfall besonders naheliegenden Verwechslung der beiden Straßen durch die Betroffenen lag allenfalls leichte Fahrlässigkeit vor, so daß das Gericht ihr Eintreffen hätte abwarten müssen.

Anderes gilt nur dann, wenn dem Gericht wegen anstehender weiterer Termine schlechterdings - auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter - kein weiteres Zuwarten zugemutet werden kann (vgl. KG a.a.O.). Hierzu enthält das Urteil jedoch keine Ausführungen.

Bei der Bemessung der weiteren Wartezeit ist zunächst auf den Ausnahmecharakter der Regelung des § 74 Abs. 2 OWiG abzustellen und daran anknüpfend eine Abwägung zwischen dem Streben nach einer möglichst gerechten Entscheidung im Allgemeinen bzw. dem Interesse des Betroffenen an der Sachentscheidung, das sich letztlich auch aus der Höhe der im Bußgeldbescheid festgesetzten Geldbuße ergibt, im Besonderen und dem Interesse an der beschleunigten Durchführung des Verfahrens bzw. der Aufrechterhaltung des geordneten und zeitlich geplanten Ablaufs der Hauptverhandlungen vorzunehmen (vgl. KG a.a.O.).

Eine solche Abwägung hat das Amtsgericht vorliegend nicht vorgenommen. Aus den Gesamtumständen ergibt sich jedoch, daß dem Gericht ein weiteres Zuwarten auf deren Erscheinen durchaus zumutbar war. Die Betroffenen hatten etwa 30 Minuten vor der Verwerfung aus dem etwa 10 km entfernten Zehlendorf angerufen und ihr Kommen mit einer plausiblen Erklärung angekündigt. Das Amtsgericht hat demnach seine ihm gegenüber den Betroffenen obliegende Fürsorgepflicht und damit die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG verletzt.



Ende der Entscheidung

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