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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 04.12.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 102/06 Vollz
Rechtsgebiete: StVollzG, BDSG, StGB


Vorschriften:

StVollzG § 116 Abs. 1
StVollzG § 185
BDSG § 19
StGB § 57 a
"Zum Recht eines Strafgefangenen auf Einsicht in ein kriminologisch-prognostisches Gutachten einer Dipl.-Psychologin."
KAMMERGERICHT Beschluß

5 Ws 102/06 Vollz

In der Strafvollzugssache

wegen Akteneinsicht

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 4. Dezember 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 18. Januar 2006 - mit Ausnahme der Bestimmung des Streitwerts - aufgehoben. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel wird verpflichtet, dem Strafgefangenen eine Fotokopie des kriminologischen Gutachtens der Diplom-Psychologin H... vom 27. Mai 1999 auszuhändigen.

Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen sowie die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Landeskasse Berlin.

Gründe:

Der Beschwerdeführer verbüßt seit dem Jahr 1973 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Im Jahre 1999 erstellte die Diplom-Psychologin H... im Auftrag der Senatsverwaltung für Justiz ein kriminalpsychologisches Gutachten über den Beschwerdeführer, weil dieser schwer erkrankt war und ermittelt werden sollte, ob etwaige vollzugslockernden Maßnahmen in Aussicht genommen werden könnten. In den darauf folgenden Vollzugsplanfortschreibungen wird das Gutachten nicht mehr erwähnt.

Mit Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin vom 21. Februar 2003 wurde der Antrag des Beschwerdeführers, den Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel zu verpflichten, ihm eine Fotokopie des in Rede stehenden Gutachtens vom 27. Mai 1999 auszuhändigen, als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung der Strafvollstreckungskammer hat der Beschwerdeführer kein Rechtsmittel eingelegt.

Mit dem angefochtenen Beschluß vom 18. Januar 2006 hat die Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er sich gegen die erneute Ablehnung seines Antrags wendet, ihm eine Fotokopie des Gutachtens auszuhändigen, abgelehnt.

Die gegen diesen Beschluß der Strafvollstreckungskammer gerichtete Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat Erfolg.

1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde (§ 118 StVollzG) erfüllt die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG, weil es geboten ist, die Nachprüfung der Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Der angefochtene Beschluß steht - jeweils in Teilen seiner Begründung - den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 18. November 2004 - 1 BvR 2315/04 - (NJW 2005, 1103) und des OLG Koblenz vom 8. Mai 2003 - 1 Ws 31/03 - (ZfStrVo 2003, 301) entgegen. Er widerspricht ferner dem nach seinem Erlaß bekanntgewordenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Januar 2006 - 2 BvR 443/02 - (NJW 2006, 1116).

2. Gemäß § 185 StVollzG steht dem Strafgefangenen nach Maßgabe des § 19 BDSG ein Anspruch auf Akteneinsicht zu, wenn er (zu Recht) geltend macht, daß auf Grund bestimmter Umstände eine bloße Auskunftserteilung für die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreichend und er deswegen auf unmittelbare Einsichtnahme angewiesen ist (vgl. OLG Frankfurt am Main, NStZ-RR 2005, 64; OLG Koblenz, ZfStrVo 2003, 301, 302; OLG Hamm NStZ 2002, 615). Die vom Beschwerdeführer beantragten Kopien aus der Akte sind eine Form dieser Akteneinsicht. Zwar besteht das Recht auf Akteneinsicht nicht unbeschränkt. Der Betroffene muß darlegen, daß der nach dem Gesetz vorrangige Auskunftsanspruch zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht ausreicht und die Notwendigkeit einer Akteneinsicht besteht (vgl. KG, Beschluß vom 7. November 2003 - 4 VAs 26/03 m.w.Nachw.). Dies ist jedoch vorliegend der Fall.

a) Der Beschwerdeführer hat unter anderem vorgetragen, daß er sich "ein umfassendes Bild über den Inhalt des über ihn erhobenen Gutachtens machen" und es "gegebenenfalls durch ein Gegengutachten überprüfen lassen will". Er hat ferner ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich um ein Gefahrenprognosegutachten handelt. Damit hat er ausreichend sein Interesse an der Akteneinsicht dargelegt. Denn ein solches Gutachten muß - unabhängig von seinem Alter und den Umständen seiner Entstehung - bei der Entscheidung berücksichtigt werden, ob der Antragsteller, der sich seit mehr als 30 Jahren in Haft befindet, gemäß § 57 a StGB jemals wieder der Freiheit teilhaftig werden kann. Daß das Gutachten tatsächlich eine Gefahrenpro-gnose enthielt, hat die Strafvollstreckungskammer festgestellt.

Die dagegen erhobenen Einwendungen der Justizvollzugsanstalt Tegel, daß das Gutachten keinerlei Wirkungen auf die Vollzugsplanung entfalte, sind unerheblich. Das trifft bereits deshalb nicht zu, weil die bloße Nichterwähnung im Vollzugsplan den Schluß der Gutachterin auf die Gefährlichkeit des Antragstellers und die Feststellung einer schweren Persönlichkeitsstörung nicht aus der Welt schafft. In der Vollzugsplanfortschreibung ist es entbehrlich, die bisherigen Regelungen sowie die Erkenntnisse, auf denen sie beruhen, lediglich abzuschreiben, wenn für eine Änderung kein Anlaß besteht (vgl. Senat NStZ 2001, 410 bei Matzke). Daraus folgt, daß aus der bloßen Nichterwähnung des Gutachtens in den Vollzugsplanfortschreibungen ab 2000 nicht der Schluß gezogen werden darf, es habe seine Bedeutung verloren. Ebenso wurde es nicht mit dem Abklingen der Krebserkrankung des Beschwerdeführers obsolet, weil die dort attestierte Gefährlichkeit nicht ursächlich mit diesem Krankheitsbild verknüpft war.

b) Das Akteneinsichtsrecht des Strafgefangenen ist grundsätzlich dem Recht des sich in Freiheit befindenden Bürgers als Patienten anzugleichen. Der sich in Freiheit befindende Bürger hat ein Recht auf Aktenauskunft und auch auf Akteneinsicht, abgeleitet aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG, welches ihm zu personaler Würde verhilft. Dies gilt auch im Bereich der ärztlichen Untersuchungsberichte, denn ein Patient ist im Rahmen der Behandlung nicht als Objekt zu behandeln (vgl. BVerfG NJW 2005, 1103, 1104). Zwar reicht es üblicherweise aus, daß der behandelnde Arzt dem Patienten die Diagnose mündlich erläutert, doch gehört es bei besonderen Fällen, wenn beispielsweise der Patient den Erläuterungen nicht folgen kann, auch zur vertraglichen Pflicht des Arztes, die Ergebnisse der Untersuchung dem Patienten schriftlich zugänglich zu machen (vgl. BVerfG a.a.O.)

c) Bei einem Strafgefangenen ergibt sich zudem die Besonderheit, daß er sich seine ihn behandelnden Ärzte, Psychologen und Gutachter nicht nach eigenem Wunsch aussuchen kann. Ferner gibt es für ihn keine Möglichkeit, in ein anderes Behandlungsverhältnis zu wechseln, wenn ihm jedes Vertrauen zum Therapeuten fehlt und nach seiner Wahrnehmung die Beziehung zerrüttet ist. Bei einer Versagung der Einsicht in die Krankenunterlagen ist in einem solchen Fall das Selbstbestimmungsrecht wesentlich intensiver berührt, als wenn sich der Betroffene aus einem Behandlungsverhältnis löst und allein hierdurch sein Selbstbestimmungsrecht ausübt (vgl. BVerfG NJW 2006, 1116, 1118 für einen im Maßregelvollzug Untergebrachten). Dem Akteneinsichtsrecht eines inhaftierten Patienten ist daher als Ausfluß des informationellen Selbstbestimmungsrechts eine hohe Bedeutung beizumessen, dem die Vollzugsbehörde kein eigenes Zurückbehaltungsinteresse entgegengesetzt hat und das folglich Vorrang genießt.

d) Der Beschwerdeführer hat ferner unwidersprochen vorgetragen, daß das Gutachten vermutlich eine beachtliche Länge habe und zahlreiche Fremdwörter beinhalte. Aus diesem Grund ist ohne weiteres davon auszugehen, daß der Strafgefangene, wenn er sich mit diesem Schriftgut intensiv und textnah auseinandersetzen will, auf die Kenntnis von dessen exaktem Wortlaut angewiesen ist, so daß eine Auskunft allein nicht genügt (vgl. OLG Koblenz a.a.O.). Die Beantragung einer Fotokopie des Gutachtens ist daher nicht zu beanstanden. Da die Sache spruchreif ist (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG), hat der Senat die Verpflichtung der Vollzugsbehörde selbst ausgesprochen.

3. Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Landeskasse Berlin zur Last (§§ 121 Abs. 4 StVollzG, §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO).

Ende der Entscheidung

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