Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 04.06.2004
Aktenzeichen: 5 Ws 227/04 Vollz
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 14 Abs. 2 Satz 2
StVollzG § 115 Abs. 2 Satz 2
StVollzG § 115 Abs. 5
StVollzG § 116 Abs. 1
1. Nimmt die Vollzugsbehörde die Zuweisung des Gefangenen in den behandlungsorientierten Wohngruppenvollzug auf, geht sie damit eine Selbstbindung ein. Eine Rückverlegung in den Regelvollzug ist nur unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 2 StVollzG möglich. Dem Anstaltsleiter steht insoweit kein "freies Belegungsermessen" zu.

2. Zur Folgenbeseitigung und Spruchreife bei § 115 Abs. 2 Satz 2 StVollzG.

3. Zur Pflicht des Anstaltsleiters zur Beachtung gerichtlicher Entscheidungen.


5 Ws 227/04 Vollz

In der Strafvollzugssache

wegen Rückverlegung in den Wohngruppenvollzug

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 04. Juni 2004 beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde des Leiters der Justizvollzugsanstalt Tegel gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 25. März 2004 wird als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die dem Gefangenen in diesem Rechtszug entstandenen notwendigen Auslagen werden der Landeskasse Berlin auferlegt.

Gründe:

Der Gefangene, gegen den eine lebenslange Freiheitsstrafe vollstreckt wird, war in der Justizvollzugsanstalt Tegel im behandlungsorientierten Wohngruppenvollzug der Teilanstalt V untergebracht. Nach einem Zwischenfall am 19. Dezember 2002, bei dem es zwischen ihm und einem Besucher zu Tätlichkeiten kam, verlegte ihn der Anstaltsleiter mit Bescheid vom 23. Dezember 2002 in Abänderung des für ihn erstellten Vollzugsplans in den Regelvollzug der Teilanstalt III. Auf den Antrag des Gefangenen hob die Strafvollstreckungskammer durch rechtskräftig gewordenen Beschluß vom 04. April 2003 den Bescheid vom 23. Dezember 2002 auf und verpflichtete den Anstaltsleiter zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Neubescheidung des Gefangenen unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer. Der Anstaltsleiter beließ den Gefangenen auch nach dieser Entscheidung im Regelvollzug. Am 30. Juli 2003 widerrief er in Abänderung eines bereits am 04. Juni 2003 erlassenen Bescheides erneut die Unterbringung des Gefangenen im Wohngruppenvollzug der Teilanstalt V und ordnete seine Verlegung in die Teilanstalt III an. Zur Begründung berief er sich auf das Geschehen vom 19. Dezember 2002 und ergänzend auf mehrere im einzelnen dargelegte, dem Gefangenen angelastete Vorfälle.

Den hiergegen gerichteten Antrag des Gefangenen auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer durch Beschluß vom 30. September 2003 als unzulässig verworfen. Auf die Rechtsbeschwerde des Gefangenen hat der Senat diesen Beschluß am 17. Februar 2004 aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Nunmehr hat die Strafvollstreckungskammer durch Beschluß vom 25. März 2004 die Bescheide des Anstaltsleiters vom 04. Juni 2003 und 30. Juli 2003 aufgehoben und den Anstaltsleiter verpflichtet, den Gefangenen in die Teilanstalt V zurückzuverlegen. Der Anstaltsleiter hat Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel ist unzulässig, weil es die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG nicht erfüllt.

1. Die von dem Anstaltsleiter erhobene Aufklärungsrüge kann die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde nicht begründen. In welchem Umfang und nach welchen Rechtsgrundsätzen die Strafvollstreckungskammern in Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz den Sachverhalt zu ermitteln haben, ist durch zahlreiche obergerichtliche Entscheidungen geklärt (vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 9. Aufl., § 115 Rdnrn. 3 und 4). Das Vorbringen der Rechtsbeschwerde gibt keinen Anlaß, diese Grundsätze zu überprüfen oder fortzuentwickeln. Im übrigen wäre die Aufklärungsrüge auch unbegründet.

Wie noch auszuführen ist, war die Strafvollstreckungskammer bei der gegebenen Sachlage auch in Bezug auf den von dem Gefangenen geltend gemachten Folgenbeseitigungsanspruch zur weiteren Aufklärung nicht verpflichtet.

2. Die Sachrüge wirft keine Rechtsfrage auf, die einer eingehenderen Erörterung durch den Senat bedürfte. Entgegen der Auffassung des Anstaltsleiters gefährdet der angefochtene Beschluß auch nicht die Einheitlichkeit der Rechtsprechung.

a) Die Verlegung eines Gefangenen aus dem Regelvollzug in den behandlungsorientierten Wohngruppenvollzug stellt eine ihn begünstigende Maßnahme mit Dauerwirkung dar. Ihr kommt im Rahmen der Gestaltung des Vollzuges beträchtliche Bedeutung zu, wie schon die Tatsache belegt, daß die Zuweisung zu Wohngruppen und Behandlungsgruppen einen Bestandteil des Vollzugsplans darstellt (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 StVollzG). Mit der Aufnahme der Zuweisung in den Vollzugsplan geht die Vollzugsbehörde eine Selbstbindung ein, die zur Folge hat, daß sie die Maßnahme nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 14 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zurücknehmen kann (vgl. OLG Celle ZfStrVo 1989, 116; KG NStZ 1997, 207, 208; Beschluß des Senats vom 21. Februar 2002 - 5 Ws 1/02 Vollz -). Ein freies Belegungsermessen, das der Anstaltsleiter in seiner Rechtsbeschwerdebegründung wiederholt für sich in Anspruch nimmt, steht ihm infolgedessen nicht mehr zu.

Bei der Entscheidung der Frage, ob der Gefangene den besonderen Anforderungen des Wohngruppenvollzuges noch genügt, hat der Anstaltsleiter allerdings einen Beurteilungsspielraum, der einer Kontrolle nur nach den Rechtsgrundsätzen des § 115 Abs. 5 StVollzG unterliegt. Das Gericht muß auf einen Antrag des Gefangenen aber überprüfen, ob der Anstaltsleiter seiner Entscheidung einen zutreffenden, vollständig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt und den Beurteilungsspielraum eingehalten hat (vgl. BGHSt 30, 320, 327; Beschluß des Senats aaO.).

Die Strafvollstreckungskammer hat bei der Entscheidung, die Bescheide des Anstaltsleiters vom 04. Juni 2003 und 30. Juli 2003 aufzuheben, diese Rechtsgrundsätze zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Die Begründung ihres Beschlusses läßt aber nicht besorgen, daß sie sie verkannt hat. Die Kammer hat rechtsfehlerfrei ihre Auffassung dargelegt, daß der dem Gefangenen zur Last gelegte Zwischenfall vom 19. Dezember 2002 den Hauptgrund für seine Rückverlegung in den Regelvollzug gebildet hat, also nicht nur, wie die Rechtsbeschwerde behauptet, ein letzter Anlaß für diese Maßnahme gewesen ist, das Verhalten des Gefangenen an diesem Tage aber keinen Rückschluß auf seine Ungeeignetheit für den Wohngruppenvollzug erlaubt, weil sich daraus kein Vorwurf gegen ihn herleiten läßt. Den anderen in den Verlegungsbescheiden genannten Vorfällen kommt nach der im einzelnen begründeten Einschätzung der Strafvollstreckungskammer nicht das Gewicht zu, das erforderlich wäre, um die den Gefangenen stark belastende Rückverlegung in den Regelvollzug zu tragen. Ein Eingriff der Kammer in den dem Anstaltsleiter vorbehaltenen Beurteilungsspielraum liegt hierin nicht. Sollte der angefochtene Beschluß das Verhalten des Gefangenen unzutreffend würdigen, würde es sich zudem um einen die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde nicht begründenden Fehler im Einzelfall handeln.

b) Die Verpflichtung des Anstaltsleiters, den Gefangenen in die Teilanstalt V zurückzuverlegen, hat die Strafvollstreckungskammer gemäß § 115 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ausgesprochen. Die Rückgängigmachung der Verlegung eines Gefangenen vom offenen in den geschlossenen Vollzug oder - wie hier - vom Wohngruppen- in den Regelvollzug ist eine typische Maßnahme der durch diese Vorschrift ermöglichten Folgenbeseitigung (vgl. OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 102; Calliess/Müller-Dietz, § 115 Rdn. 11). Die Spruchreife, die sie voraussetzt, durfte die Strafvollstreckungskammer hier nach den gesamten Umständen annehmen.

Hat die Strafvollstreckungskammer über die Verpflichtung des Anstaltsleiters zum Erlaß einer Maßnahme zu befinden, bei der dem Anstaltsleiter ein Beurteilungsspielraum oder ein Handlungsermessen zusteht, so ist maßgeblicher Zeitpunkt für den Verpflichtungsausspruch regelmäßig die letzte Behördenentscheidung, da das Gericht nur für diesen Zeitpunkt überprüfen kann, ob die Behörde den Anspruch zu Recht abgelehnt hat (vgl. Calliess/Müller-Dietz, § 115 Rdn. 9; Arloth/Lückemann, StVollzG, § 115 Rdn. 5, beide m. Rsprnachw.). Anders ist die Situation jedoch, wenn ein Beurteilungsspielraum oder ein Handlungsermessen nicht bzw. nicht mehr besteht. Da die Kammer in einem solchen Fall über die Verpflichtung der Behörde zum Erlaß der Maßnahme abschließend befinden kann, hat sie auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Entscheidung abzustellen (vgl. OLG Nürnberg StV 2000, 573; Calliess/Müller-Dietz und Arloth/Lückemann aaO.). Hiernach ist es rechtlich nicht zu beanstanden, daß die Strafvollstreckungskammer in der vorliegenden Sache nicht nur den Verlegungsbescheid erneut aufgehoben, sondern auch über die Rückverlegung entschieden hat. Das rechtfertigten folgende besonderen Umstände.

Der Anstaltsleiter hat nach dem Zwischenfall vom 19. Dezember 2002 die Entscheidung über die Ablösung des Gefangenen vom Wohngruppenvollzug bereits am 23. Dezember 2002 getroffen und durchgeführt, obgleich zu diesem Zeitpunkt noch in keiner Weise ausreichend geklärt war, inwieweit das Geschehen dem Gefangenen anzulasten war. Der Beschluß der Strafvollstreckungskammer vom 04. April 2003, mit dem sie den Verlegungsbescheid mangels hinreichender Sachaufklärung aufhob, ging dem Anstaltsleiter wenige Tage später zu. Seit diesem Zeitpunkt befand sich der Gefangene entgegen dem Vollzugplan ohne rechtliche Grundlage im Regelvollzug. Angesichts dessen war der Anstaltsleiter verpflichtet, den Gefangenen entweder zurückzuverlegen oder aber unverzüglich unter Beachtung der von der Strafvollstreckungskammer in dem Beschluß vom 04. April dargelegten Rechtsauffassung eine neue Verlegungsentscheidung zu treffen. Tatsächlich erging diese Entscheidung erst am 30. Juli 2003, nachdem sie in dem Bescheid des Anstaltsleiters vom 04. Juni 2003 erneut unterlassen worden war.

Nach dieser verzögerlichen Bearbeitung einer ersichtlich eilbedürftigen Sache bestand für die Beteiligten besonderer Anlaß, beschleunigt zu klären, ob dem Gefangenen ein Recht auf Rückverlegung in den Wohngruppenvollzug zustand. Hierauf hat der Senat in seinem Beschluß vom 17. Februar 2004 nochmals ausdrücklich hingewiesen. Er hat außerdem klargestellt, daß die Strafvollstreckungskammer gehalten sei, den Anstaltsleiter zur Rückverlegung des Gefangenen zu verpflichten, wenn sich im gerichtlichen Verfahren nicht feststellen lasse, daß die Voraussetzungen für den Widerruf seiner Unterbringung im Wohngruppenvollzug und die damit verbundene Änderung des Vollzugsplans vorgelegen haben. In Kenntnis dieser Ausführungen war der Anstaltsleiter ganz offenkundig gehalten, der Strafvollstreckungskammer etwaige neu hervorgetretene Umstände, die gegen die Eignung des Gefangenen für den Wohngruppenvollzug sprachen, ohne weitere Verzögerungen mitzuteilen. Seit der angefochtenen Verlegung des Gefangenen war weit mehr als ein Jahr vergangen. Irgendeinen Anlaß, gleichwohl zunächst wieder abzuwarten, ob die Strafvollstreckungskammer ihn erneut zur Stellungnahme auffordern werde, hatte der Anstaltsleiter nicht. Unter diesen besonderen Umständen durfte die Strafvollstreckungskammer annehmen, daß es keine den Gefangenen belastenden neuen Erkenntnisse gab und die Sache damit spruchreif war. Die Rechtsbeschwerde ist daher zu verwerfen.

Angemerkt sei noch, daß der Anstaltsleiter die Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen auch nach dem Beschluß der Strafvollstreckungskammer vom 25. März 2004 unbeachtet gelassen hat. Der Senat hat ihn in dem Beschluß vom 21. November 2002 - 5 Ws 628/02 Vollz - unmißverständlich darauf hingewiesen, daß er verpflichtet ist, Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer schon vor deren Rechtskraft nachzukommen, solange sie nicht im Rechtsbeschwerdeverfahren aufgehoben worden sind oder ihr Vollzug vom Rechtsbeschwerdegericht ausgesetzt worden ist. Ein Antrag auf Aussetzung des Vollzuges hemmt diese Verpflichtung nur, wenn er unverzüglich, also ohne vermeidbare Verzögerungen gestellt wird. Gleichwohl hat der Anstaltsleiter den Aussetzungsantrag auch in der vorliegenden Sache ohne erkennbaren Grund wiederum erst am letzten Tag der Frist für die Begründung der Rechtsbeschwerde gestellt. Das hat dazu geführt, daß der Gefangene seit dem Beschluß der Strafvollstreckungskammer vom 25. März 2004 erneut ohne ausreichende Rechtsgrundlage im Regelvollzug untergebracht ist.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 4 StVollzG, § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

Zurück