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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 08.08.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 352/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
5 Ws 284/06 5 Ws 348/06 5 Ws 349/06 5 Ws 350/06 5 Ws 351/06 5 Ws 352/06 5 Ws 353/06 5 Ws 354/06 5 Ws 355/06

In der Strafsache gegen

wegen Vergehens gegen die Abgabenordnung

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 8. August 2006 beschlossen: Tenor:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird die Verfügung der Vorsitzenden der Strafkammer 72 des Landgerichts Berlin vom 11. Mai 2006, mit der sie die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zur Begründung der Revision gegen das Urteil vom 8. März 2006 abgelehnt hat, aufgehoben. Dem Angeklagten ist zur ergänzenden Begründung seiner Revision ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Die Landeskasse Berlin hat die Kosten dieses Rechtsmittels zu tragen.

2. Die Beschwerden des Angeklagten gegen die Beschlüsse und Verfügungen des Landgerichts Berlin vom 10. Februar 2006, 23. Februar 2006, 6. März 2006 und 8. März 2006 werden verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten dieser Rechtsmittel zu tragen.

Gründe:

Am 7. September 1999 leitete das Finanzamt Wedding nach § 397 Abs. 2 AO gegen den Beschwerdeführer das Strafverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) ein. Die Ermittlungen betrafen zunächst die Einkommen- und Gewerbesteuer 1996-1998 sowie die Umsatzsteuer 1996-1999 für den Angeklagten in seiner Tätigkeit als Einzelunternehmer unter den Firmen "C... B... S...", "C... B... S... M. S... & Co" und "C... L... B... C..." sowie vermutete Einkünfte aus "Schleusertätigkeit", ferner die Umsatzsteuer für 1998 und die ersten beiden Quartale 1999 der GbR S... + .... Es wurde - auch von anderen Finanzämtern - noch mehrfach erweitert. In diesem Verfahren sowie in einem weiteren, unter anderem wegen Urkundenfälschung und Betruges im Zusammenhang mit der "Schleusertätigkeit" geführten Verfahren fanden mehrere Durchsuchungen in der Wohnung und den Geschäftsräumen des Angeklagten statt, bei denen unter anderem Geschäftsunterlagen beschlagnahmt wurden. Den letzten das hiesige Verfahren betreffenden Durchsuchungsbeschluß erließ das Amtsgericht Tiergarten in Berlin am 22. September 2001. Die Durchsuchung fand am 24. September 2001 statt. Nach Durchführung aller Ermittlungen wurde dieses Verfahren am 22. März 2005 ganz überwiegend eingestellt. Es verblieb lediglich der Vorwurf, der Beschwerdeführer habe für sein Einzelunternehmen "C...-L... B... S..." (Kopien, Bürobedarf, Telefondienstleistungen und Trockenbau) durch Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärungen die Umsatzsteuer für 1997 in Höhe von 16.959,45 DM verkürzt. Das Amtsgericht Tiergarten erließ am 10. Mai 2005 wegen dieses Tatvorwurfs einen Strafbefehl über 45 Tagessätze zu je 20 Euro. Auf seinen Einspruch verurteilte das Amtsgericht Tiergarten ihn in der Hauptverhandlung vom 22. November 2005 zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 25 Euro und sah nach § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB davon ab, mit den Einzelstrafen einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten aus dem Urteil des erweiterten Schöffengerichts Tiergarten vom 24. Juni 2002 (rechtskräftig seit dem 15. Januar 2004) wegen Urkundenfälschung, Beihilfe zur mittelbaren Falschbeurkundung, Betruges und Vergehens gegen das Ausländergesetz (betreffend die oben erwähnte "Schleusertätigkeit") eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden.

Im - erfolglosen - Berufungsverfahren vor dem Landgericht Berlin stellte der Angeklagte folgende Anträge, welche das Gericht sämtlich (mit einer Ausnahme) zurückwies, wogegen er in allen Fällen Beschwerde einlegte, der das Landgericht nicht abhalf:

 lfd. Nr.Datum des Antrags (2006)BlattInhaltEntsch.Bl.Datum der BeschwerdeBl..
127.1., 21.2.II/245Beiordnung eines Pflichtverteidigers (bzw. Rechtsanwalts S.)10.2.II/253, II/26223.2. ergänzt am 24.2., 27.2.II/263, II/267, III/13
224.2. ergänzt am 3.3.II/267, III/24Akteneinsicht, ergänzt durch Bezeichnung der Aktenteile6.3. teilw. stattgegeben: Ablichtungen liegen in der GeschSt bereitIII/313.3. (wegen Unterbleibens der BescheidungIII/24, III/26
38.3. (Hauptverhandlung)III/32 ff., 33, 42Aussetzung 8.3.III/339.3.III/62
4 III/33, 42Ablehnung der Vors. wg. Befangenheit8.3.III/339.3.III/66
5 III/34,44Einstellung wg. Verjährung8.3.III/348.3.III/60
6 III/34, 35, 46Ladung des Insolvenzverwalters + Aussetzung8.3.III/389.3.III/70
7 III/38Ladung der Zeugen P. und B.8.3.III,399.3. (Zeuge M. P.)III/64
8 III/35,69Aushändigung der vom FA beschlagnahmten Belege8.3.III/38  
99.3.III/57Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Revision11.5.III/123 III/200

Die Beschwerden sind überwiegend unzulässig. Der Angeklagte hat jedoch mit seinem Rechtsmittel Erfolg, soweit er die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Begründung seiner Revision begehrt.

1. Die Beschwerden vom 23./24. Februar und 27. Februar 2006, mit denen er beanstandet, daß es die Vorsitzende der Strafkammer abgelehnt hat, ihm im Berufungsverfahren einen Rechtsanwalt (bzw. Rechtsanwalt S...) als Pflichtverteidiger beizuordnen, sind unzulässig. Das Berufungsverfahren ist abgeschlossen; eine rückwirkende nachträgliche Beiordnung kommt nicht in Betracht (vgl. Senat, Beschluß vom 9. März 2006 - 5 Ws 563/05 -; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl., § 141 Rdn. 8 - jew. mit weit. Nachw.). Sollte dem Landgericht bei der Entscheidung ein Rechtsfehler unterlaufen sein, ist er im Revisionsverfahren mit der Verfahrensrüge zu beanstanden, was der Beschwerdeführer bereits getan hat.

2. Die Beschwerde vom 3. März 2006 gegen das Unterbleiben der Entscheidung über die Akteneinsicht ist gegenstandslos geworden, soweit dem Angeklagten durch Verfügung vom 6. März 2006 die Einsicht in bestimmte Aktenteile gestattet worden ist. Im übrigen ist sie sowohl nach § 305 Satz 1 StPO ausgeschlossen, als auch mangels einer fortdauernden Beschwer (vgl. Meyer-Goßner, vor § 296 StPO Rdn. 8) des Angeklagten unzulässig geworden, weil sich ein Erfolg des Rechtsmittels - die Gewährung der Akteneinsicht - nicht mehr rückwirkend auf das abgeschlossene Berufungsverfahren auswirken könnte. Auch zu diesem Punkt kann der Beschwerdeführer etwaige Mängel im Revisionsverfahren mit der Verfahrenrüge angreifen.

3.-8. Die während der Hauptverhandlung angebrachten Beschwerden sind sämtlich nach § 305 Satz 1 StPO ausgeschlossen. Zur Anfechtbarkeit mit der Revision gilt das unter 1. und 2. Gesagte.

9. Dem Angeklagten ist für das Revisionsverfahren ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Das Landgericht hat diesen Antrag zu Unrecht abgelehnt. Die Notwendigkeit der Verteidigung ergibt sich aus § 140 Abs. 2 StPO. Zwar führt nicht die Annahme allein, das Revisionsrecht sei für einen Angeklagten zu kompliziert, dazu, in jedem Fall die Notwendigkeit der Beiordnung für die Revisionsbegründung zu bejahen. Denn der Gesetzgeber hat mit der einem jeden Angeklagten eingeräumten und auch von dem Beschwerdeführer beschrittenen Weg, die Revisionsbegründung zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erklären, eine andere gesetzliche Regelung getroffen (vgl. Schl Holst. OLG SchlHA 1995, 6 bei Lorenzen/Thamm; OLG Köln VRS 78, 119; OLG Oldenburg JR 1985, 256 mit abl. Anm. Dahs = NStZ 1984, 523; OLG Hamm NStZ 1982, 345 mit abl. Anm. Dahs; Laufhütte in KK, StPO Rdn. 5; Wohlers in SKStPO Rdn. 45; Meyer-Goßner, Rdn. 29 - jeweils zu § 140 StPO; für eine umfassende Annahme der Notwendigkeit der Verteidigung indes: Dahs NJW 1978, 140). Zum bloßen "Aufspüren" von Verfahrensfehlern (vgl. Dahs aaO) hat die obergerichtliche Rechtsprechung die Notwendigkeit der Verteidigung bislang nicht angenommen.

Ob dieser Ansicht allgemein beizutreten ist, kann dahingestellt bleiben. Denn Ausnahmen bestehen für die Abfassung besonders schwieriger Revisionsrügen, mit denen der als Urkundsbeamter tätige Rechtspfleger überfordert wäre (vgl. OLG Kob-lenz RPfleger 1984, 366), oder wenn der Angeklagte aufgrund objektiver Umstände des Verfahrensgeschehens oder subjektiver Eigenschaften nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, die Revision - auch unter Mitwirkung des Urkundsbeamten - zu begründen (vgl. Lüderssen in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl., § 140 Rdnrn. 96, 98, 99).

a) So liegt es hier. Die Beiordnung eines Verteidigers ist immer dann geboten, wenn ohne die Kenntnis der Akten eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist (vgl. Lüderssen in Löwe-Rosenberg, § 140 StPO Rdn. 122). Der Angeklagte meint, die Strafverfolgung sei verjährt. Da die Tatzeit deutlich mehr als fünf Jahre zurückliegt, liegt diese Beanstandung nahe. Auf eine zulässige Revision hat der Senat sie - als Verfahrensvoraussetzung - zwar von Amts wegen zu prüfen. Dem Angeklagten muß aber zur Herstellung der Waffengleichheit ermöglicht werden, hierzu Ausführungen zu machen. Dazu ist weder er noch der Urkundsbeamte uneingeschränkt in der Lage; denn beiden steht die Akteneinsicht nicht zu (§ 147 Abs. 1 StPO). Mittels Auskünften und Abschriften aus den Akten (§ 147 Abs. 7 StPO) läßt sich die Fähigkeit, sich sachgerecht zu verteidigen, zu diesem Punkt nicht vollständig herstellen. Denn welche Verfahrenshandlungen nach § 78c StGB die Verjährung unterbrochen haben, ob sie der erforderlichen Form entsprachen und sich auf die zur Verurteilung führenden Tatvorwürfe bezogen, läßt sich zutreffend nur durch eine Auswertung der vollständigen Verfahrensakten beurteilen.

b) Auch die persönlichen Fähigkeiten des Angeklagten (vgl. Lüderssen in Löwe-Rosenberg, § 140 StPO Rdn. 96) geben Anlaß, die Verteidigung durch einen Rechtsanwalt im Revisionsverfahren für notwendig zu erachten. Zwar war er geschäftlich tätig, so daß man annehmen könnte, er wisse über das Verfahren, das aus der Führung seines Geschäftsbetriebes resultiert, genügend Bescheid (vgl. OLG Koblenz wistra 1983, 122). Beeinträchtigt wird diese Kenntnis aber dadurch, daß ihm aufgrund von Durchsuchungen in umfangreichem Maße seit geraumer Zeit die Geschäftsunterlagen fehlen, um sich die erforderlichen Kenntnisse ins Gedächtnis zu rufen. Ferner geben die weitschweifigen, nicht immer zum Kern der Sache vordringenden Beschwerdeschriften des Angeklagten Anlaß zu der Annahme, daß der Bewertung des Landgerichts, der Beschwerdeführer habe durch seine Eingaben bewiesen, daß er sich selbst verteidigen könne, nicht uneingeschränkt zu folgen ist; denn mehr als nur gelegentlich deuten sie auf eine Fehleinschätzung der Verfahrenslage und ein verfehltes Verteidigungsgebaren (vgl. Lüderssen aaO Rdn. 99) des Angeklagten hin, was zur Beiordnung eines Verteidigers zwingt.

c) Daß der Angeklagte die Revision bereits umfangreich zu Protokoll des Urkundsbeamten begründet hat, steht dem nicht entgegen. Denn weitere Erläuterungen und spezielle Ausführungen zur Sachrüge kann der Angeklagte bis zur Entscheidung des Revisionsgerichts jederzeit nachschieben (vgl. OLG Stuttgart NStZ 1981, 492). Für bislang aufgrund des Fehlens eines Verteidigers unterbliebene Verfahrensrügen kann er auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand antragen.

Das Landgericht wird nunmehr das Verfahren nach § 142 StPO durchführen und dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beiordnen.

10. Die Kostentscheidungen beruhen auf §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Über die notwendigen Auslagen des Angeklagten ist nicht zu befinden, weil es sich um ein Zwischenverfahren handelt, das das Strafverfahren nicht abschließt.

Ende der Entscheidung

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