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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 01.12.2005
Aktenzeichen: 5 Ws 482/04 Vollz
Rechtsgebiete: StVollzG, StGB, VwVfG, SGB I, GVG, GKG


Vorschriften:

StVollzG § 13 Abs. 3
StVollzG § 43
StVollzG § 43 Abs. 6
StVollzG § 43 Abs. 9
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 1
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 2
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 3 letzter Halbsatz
StVollzG § 116 Abs. 1
StVollzG § 121 Abs. 2 Satz 1
StVollzG § 200
StGB § 57 Abs. 4
VwVfG § 35
VwVfG § 36 Abs. 2
SGB I § 40
SGB I § 40 Abs. 1
SGB I § 41
GVG § 121 Abs. 1 Nr. 3
GVG § 121 Abs. 2
GKG § 52 Abs. 1
GKG § 52 Abs. 2
GKG § 52 Abs. 3
GKG § 60
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Beschluß

5 Ws 482/04 Vollz

In der Strafvollzugssache

des Strafgefangenen geboren am in B , zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt Tegel, Gef.-Buch-Nr.: ,

wegen Ausgleichsentschädigung

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 1. Dezember 2005 beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Leiters der Justizvollzugsanstalt Tegel wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 27. August 2004 - mit Ausnahme der Bestimmung des Streitwerts - aufgehoben.

Der Antrag des Gefangenen, die Ausgleichszahlung nach § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG seinem Eigengeld gutzuschreiben, wird zurückgewiesen.

Der Gefangene hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

Gründe:

I. Der Gefangene verbüßt seit dem 12. März 1991 eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Tegel.

15 Jahre der Strafe waren - unter Anrechnung der Untersuchungshaft - am 26. Juni 2005 vollstreckt. Ein Entlassungszeitpunkt ist noch nicht bestimmt. Mit Schreiben vom 11. Mai und 5. Juni 2004 beantragte er, die gemäß § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe zu gewährende Ausgleichsentschädigung für nach § 43 Abs. 6 StVollzG erworbene Freistellungstage seinem Eigengeldkonto gutzuschreiben. Der Anstaltsleiter lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. Juni 2004 mit der Begründung ab, die maßgebliche Zehnjahresfrist habe erst am 26. Juni 2000 zu laufen begonnen. Die zuvor verbüßte Haftzeit könne nicht berücksichtigt werden, da die angesparten Freistellungstage nur nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe auszugleichen seien. Bei dem Gefangenen, der in dieser Sache (unter Berücksichtigung der Untersuchungshaft) seit dem 26. Juni 1990 inhaftiert ist, sei die erste Zehnjahresfrist daher bereits abgelaufen gewesen, als die Neuregelung der Gefangenenentlohnung und in deren Rahmen die Ausgleichsentschädigungsvorschrift am 1. Januar 2001 in Kraft trat. Daher seien ihm die seit dem 1. Januar 2001 erworbenen und etwaige künftige Freistellungstage erst nach Ablauf der zweiten Zehnjahresfrist am 26. Juni 2010 oder bei vorzeitiger Entlassung aus der Haft zu vergüten.

Auf seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung hob die Strafvollstreckungskammer den Bescheid des Anstaltsleiters mit Beschluß vom 27. August 2004 auf und verpflichtete die Vollzugsbehörde, die beantragte Gutschrift vorzunehmen. Das Landgericht ist der Auffassung, für die Berechnung der Zehnjahresfrist sei die tatsächliche Verbüßungsdauer maßgebend und folgert daraus, daß es allein darauf ankomme, ob zur Zeit des Begehrens der Ausgleichsentschädigung bereits zehn Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßt seien. Da diese Voraussetzung bei dem Antragsteller schon "vor geraumer Zeit" eingetreten sei, habe er bereits jetzt einen Anspruch auf Gutschrift der Ausgleichsentschädigung.

Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel erfüllt die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG. Der Senat hält es für geboten, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen. Die in Rede stehende Rechtsfrage ist zwar, soweit ersichtlich, obergerichtlich von dem Oberlandesgericht Hamm (ZfStrVo 2005, 304) entschieden worden. Das OLG Hamm ist der Ansicht, die Zehnjahresfrist beginne (erst) mit dem Inkrafttreten der Neuregelung des § 43 StVollzG am 1. Januar 2001; Untersuchungshaftzeiten seien nicht auf diese Frist anzurechnen. Es ist aber in der Rechtsprechung (vgl. OLG Hamburg MDR 1970, 527, 528; OLG Hamm VM 1978, 69; NJW 1972, 1061) zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten anerkannt, daß die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zuzulassen ist, wenn erst eine vereinzelte Entscheidung eines Oberlandesgerichts vorliegt und eine weitere Entscheidung zu einer gefestigten Rechtsprechung hinsichtlich der Rechtsfrage führen kann (vgl. KG VRS 82, 206, 207; Schuler in Schwind/Böhm/Jehle, StVollzG 4. Aufl., § 116 Rdn. 4; Göhler, OWiG 13. Aufl., § 80 Rdn. 3 mit weit. Nachw.). Erst recht ist die Zulassung geboten, wenn die erneute Befassung mit der Rechtsfrage geeignet ist, zu einer vertiefenden Bearbeitung beizutragen.

Zugleich ist der Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gegeben. Denn ohne die Entscheidung des Senats wäre in der die vorliegende Rechtsfrage betreffenden Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammer(n) mit einer Fortführung der in dem angefochtenen Beschluß vertretenen - nach Auffassung des Senats unzutreffenden - Rechtsauffassung zu rechnen.

II. In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg.

Der Senat teilt die von dem Anstaltsleiter vertretene Ansicht, daß die nach § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG Lebenszeitgefangenen zu gewährende Ausgleichsentschädigung nur nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe, mithin nur nach Ablauf einer bestimmten Frist und damit zu einem bestimmten Zeitpunkt - einem bestimmten Stichtag - gutzuschreiben ist. Einen solchen Stichtag, zu dem angesparte Freistellungstage auszugleichen gewesen wären, hat der Gefangene aber noch nicht (wieder) erreicht; denn (weitere) zehn Jahre seiner lebenslangen Freiheitsstrafe werden erst am 26. Juni 2010 verbüßt sein. Die Gutschrift wird daher nach diesem Zeitpunkt zu erfolgen haben, es sei denn, der Antragsteller wird zuvor aus der Strafhaft entlassen; in diesem Fall erhielte er den bis dahin aufgelaufenen Betrag bei der Entlassung ausgezahlt, sofern der Entlassungszeitpunkt nicht nach § 43 Abs. 9 StVollzG vorverlegt wird.

1. § 43 StVollzG regelt in Verbindung mit § 200 StVollzG die Anerkennung der von Strafgefangenen geleisteten Pflichtarbeit. Diese Vorschriften wurden durch Art. 1 Nr. 2 und 9 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 27. Dezember 2000 (BGBl. I, 2043) neu gefaßt und traten am 1. Januar 2001 in Kraft. Die Neuregelung dient der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 (BVerfGE 98, 169 = NJW 1998, 3337 = ZfStrVo 1998, 242), in dem das Gericht die zuvor geltende Bemessung des Arbeitsentgelts für mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar erklärte und dem Gesetzgeber die Normierung einer angemessenen Anerkennung geleisteter Pflichtarbeit aufgab. Die grundlegende Neufassung des § 43 StVollzG greift den Gedanken des Bundesverfassungsgerichts auf, daß die Anerkennung der Arbeitsleistung nicht ausschließlich finanzieller Art sein müsse, sondern mit nicht-monetären Maßnahmen kombiniert werden könne. Die Neuregelung erhöht zum einen das Barentgelt der Gefangenen um 80%; zum anderen tritt ein Naturalentgelt hinzu, indem den Gefangenen die Freistellung von der Arbeit ermöglicht wird, die grundsätzlich als Urlaub innerhalb oder außerhalb der Haftanstalt gewährt oder mit bis zu sechs Tagen im Jahr auf den Entlassungszeitpunkt im Sinne einer Haftzeitverkürzung angerechnet werden kann (§ 43 Abs. 6, 7 und 9 StVollzG). § 43 Abs. 11 Satz 1 StVollzG gewährt für den Fall, daß eine Anrechnung der erarbeiteten Freistellungstage auf den Entlassungszeitpunkt nicht möglich ist, einen 15%igen Zuschlag zum Arbeitsentgelt als Ausgleichsentschädigung, wobei der Anspruch auf Auszahlung nach § 43 Abs. 11 Satz 2 StVollzG erst mit der Entlassung entsteht. Da bei Gefangenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe und bei Sicherungsverwahrten der Entlassungszeitpunkt regelmäßig noch nicht bestimmt ist und die konkrete Möglichkeit besteht, daß sie nie entlassen werden, so daß damit auch eine Anrechnung von Freistellungstagen ausgeschlossen wäre, trifft § 43 Abs. 11 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 10 Nr. 1 StVollzG für diese Personen eine Sonderregelung. Sie besteht darin, daß ihnen - wenn sie ihre Freistellungstage nicht in der Anstalt verbringen wollen ("Zellenurlaub") und Urlaub außerhalb der Haftanstalt ("Arbeitsurlaub", § 43 Abs. 7 StVollzG) nicht genehmigt erhalten - die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung zum Eigengeld gutgeschrieben wird.

Dieser Sonderregelung ist folgende Gesetzgebungsgeschichte vorausgegangen: Dem Gesetzentwurf des Bundesrates (BT-Drs. 14/4452) lag ein Gesetzentwurf des Landes Sachsen-Anhalt (BR-Drs. 405/00) zugrunde, der vorsah, eine Anrechnung insgesamt auszuschließen, soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt oder die Sicherungsverwahrung vollzogen wird. In diesen Fällen sollte wegen der Art der Freiheitsstrafe oder der Person des Gefangenen oder Untergebrachten eine Vorverlegung der Entlassung nicht in Frage kommen, weil sie dem Zweck des Strafvollzuges bzw. der Sicherungsverwahrung zuwiderliefe. Ohne einen Ausschluß hätten Lebenszeitgefangene und Sicherungsverwahrte deutlich mehr Tage zur Vorverlegung der Entlassung ansparen können als Gefangene mit zeitigen Freiheitsstrafen, die auf höchstens 90 Freistellungstage (15 mal 6) kommen. Diese Häufung war rechtspolitisch nicht gewollt. Folge eines pauschalen Ausschlusses der haftzeitverkürzenden Anrechnung wäre aber gewesen, daß gerade die Gruppe der besonders schwer verurteilten Straftäter bei der Entlassung eine erhebliche Ausgleichsentschädigung in Geld erhalten hätte; auch dieses Aufstauen eines großen Geldanspruchs sollte verhindert werden. Die Gesetz gewordene Lösung dieses Zielkonfliktes beruht auf einer Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundesrates (BR-Drs. 405/1/00), nach der Gefangene mit lebenslanger Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrte nach zehn Jahren (und ggf. nach 20 Jahren und so fort) Verbüßungsdauer gemäß § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG die Gutschrift einer Ausgleichsentschädigung erhält. Damit sind die bis dahin angefallenen Freistellungstage verbraucht und können nach Festlegung des Entlassungszeitpunktes nicht etwa aufleben (vgl. zum Gesetzgebungsverfahren Lückemann in Arloth/Lückemann, StVollzG § 43 Rdn. 25).

Die beschriebene Neuregelung der Entlohnung der Strafgefangenen ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG NJW 2002, 2023 = NStZ 2003, 109 = StV 2002, 374).

2. a) Daß die Ausgleichszahlung nicht zu einem beliebigen, von dem Gefangenen zu bestimmenden Zeitpunkt, sondern nur nach Verbüßung bestimmter Zeitintervalle dem Eigengeld des Gefangenen gutzuschreiben ist, legt bereits der Wortlaut des § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG nahe. Denn mit der Formulierung, "die Ausgleichszahlung (wird) bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe (...) zum Eigengeld (...) gutgeschrieben", sind feste Zeitintervalle umschrieben, deren Vollendung jeweils mit einem bestimmten Erfolg, der Gutschrift, verbunden ist. "Wird ... nach Verbüßung... gutgeschrieben" bedeutet für die Rechtspflicht der Anstalt: nicht "irgendwann" nach Ablauf, sondern von Amts wegen - also unabhängig von einem Antrag - "unverzüglich" nach dem Eintreten der Auszahlungsvoraussetzungen: dem Ablauf der Zehn-Jahres-Frist und dem Vorhandensein von nicht durch Arbeitsurlaub oder "Zellenurlaub" verbrauchten Geldansprüchen. Bereits der Wortsinn ergibt ferner, daß die Ausgleichszahlung nur für diejenige Arbeitstätigkeit gutgeschrieben wird, die bis zum Ende der zurückliegenden Verbüßungsdekade von dem Gefangenen erbracht worden ist. Im Falle des Beschwerdegegners war die erste Zehnjahresfrist, worauf er selbst hinweist, am 26. Juni 2000 beendet. Demgegenüber beruft er sich in seinem Antrag auf Arbeitstätigkeiten, die er seit dem 1. Januar 2001, also erst nach Ablauf der ersten Verbüßungsdekade, erbracht hat.

b) Auch die anschließende in § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG enthaltene einschränkende Formulierung, "soweit er nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen wird", erweist nach ihrem Wortsinn und dem Bedeutungszusammenhang, in dem sie zu der vorerörterten Zehnjahresregel steht, daß von der gesetzlichen Anordnung, daß die Gutschrift nur nach Erreichen bestimmter Stichtage erfolgt, allein in dem dort genannten Ausnahmefall, nämlich der Haftentlassung zwischen zwei Dekadenendpunkten, abzuweichen ist. Daran, daß das Gesetz hier von "diesem Zeitpunkt" spricht und sich damit ersichtlich auf das Ende des jeweiligen Zehnjahreszeitraumes bezieht, wird deutlich, daß es damit unverrückbare Zeitpunkte meint, die nicht der Disposition des Gefangenen oder der Anstalt unterliegen sollen.

c) Diese am Wortsinn orientierte Auslegung steht auch im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Norm, wie er sich nach den oben unter 1. skizzierten Vorstellungen des Gesetzgebers darstellt. Dessen Anliegen war es, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen und dem Gefangenen den Wert der regelmäßig geleisteten Arbeit in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen (vgl. BVerfGE 98, 169). Das geschieht aber entgegen dem Vorbringen des Antragstellers nicht dadurch, daß auch die Ausgleichszahlung dem Gefangenen möglichst rasch zugewendet werden muß, um seine Einkaufsmöglichkeiten zeitnah zur Arbeitsleistung zu verbessern. Gegen eine solche Sicht spricht schon die sehr lang bemessene Frist von zehn Jahren. Dem verfassungsrechtlichen Gebot einer die Resozialisierung fördernden Entlohnung dient ein abgestuftes System: In erster Linie wird die Arbeit monetär durch das auf 9% der Bezugsgröße angehobene, dem Gefangenen regelmäßig monatlich ausgezahlte Arbeitsentgelt und nicht-monetär durch Freistellung von der Arbeit oder Anrechnung auf den Entlassungszeitpunkt ("good time") anerkannt (§ 43 Abs. 1 StVollzG). Die Ausgleichsentschädigung hingegen ist nur ein Surrogat für den Fall, daß der Gefangene von dem Regelfall der nicht-monetären Anerkennung nicht profitieren kann (vgl. Lückemann in Arloth/Lückemann, StVollzG, § 43 Rdn. 30). Ihre verfassungsrechtliche Bedeutung erschöpft sich darin zu verhindern, daß ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Gefangener oder ein Sicherungsverwahrter regelhaft voraussehbar möglicherweise zu keinem Zeitpunkt eine Gelegenheit erlangen kann, je der Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts teilhaftig werden zu können, sofern ihm Arbeitsurlaub nicht gewährt wird und er "Zellenurlaub" nicht in Anspruch nimmt. Soweit der Antragsteller damit argumentiert, er dürfe immer nur sechs Urlaubstage ansparen und verliere nach jeweils einem Jahr den Urlaubsanspruch, ist ihm entgegenzuhalten, daß der Senat diese Verwaltungsvorschriften (Nr. 5 Abs. 1 VV zu § 43 StVollzG in Verbindung mit Nr. 4 Abs. 1 VV zu § 42 StVollzG) für unwirksam erklärt hat (vgl. Senat ZfStrVO 2005, 242).

Die Einführung der Zehn-Jahres-Frist diente dazu, den Anrechnungsumfang bzw. die Höhe des Ausgleichsanspruchs für die Gefangenengruppe, der der Antragsteller angehört, aus den genannten rechtspolitischen Gründen im Voraus berechenbar zu begrenzen. Dieses Ziel könnte indes nicht erreicht werden, hätten es diese Gefangenen in der Hand, den Zeitpunkt der Gutschrift der Ausgleichsentschädigung beliebig selbst zu bestimmen. So wäre es aber, folgte man dem Antragsteller und mit ihm der Strafvollstreckungskammer. Denn nach deren Auffassung hätte der Gefangene seinen Antrag zu einem beliebigen Zeitpunkt seit dem 1. März 2001 (als er den ersten Urlaubstag erarbeitet hatte) stellen können.

3. Der Senat teilt allerdings nicht die Ansicht des OLG Hamm (ZfStrVo 2005, 304), daß nicht nur die Entstehung von Ansprüchen (siehe unten 4.), sondern auch die maßgebliche Verbüßungsdauer erst mit dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Januar 2001 beginne. Für die Berechnung der Zehnjahresfrist ist allein die tatsächliche Verbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe maßgebend.

Die Fragen der Entstehung des Anspruchs und der Berechnung der zehnjährigen Verbüßungsdauer müssen gedanklich getrennt werden; denn die Berechnung der Verbüßungsdauer betrifft nicht die Anspruchsentstehung, sondern allein die Bemessung der jeweiligen Zeitintervalle, nach deren Ende die Gutschrift der Ausgleichszahlung zu erfolgen hat. Daß die erste zu berücksichtigende Dekade erst mit dem Inkrafttreten der Neufassung des § 43 StVollzG am 1. Januar 2001 beginnen soll, hat der Gesetzgeber nicht angeordnet; einen dahingehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt es nicht. Die Bemessung der Stichtage anhand einer Anknüpfung an ein vergangenes Ereignis - den Beginn der Strafhaft - führt zu keiner Rückwirkung des Gesetzes. Vielmehr ergibt sich aus der in § 43 Abs. 11 Satz 3 letzter Halbsatz StVollzG enthaltenen Anordnung, § 57 Abs. 4 StGB gelte entsprechend, daß bei der Berechnung der Frist in dem Verfahren erlittene Untersuchungshaft oder eine sonstige Freiheitsentziehung entsprechend der Regelung in § 13 Abs. 3 StVollzG zu berücksichtigen ist (vgl. LG Frankfurt am Main NStZ 2005, 55). Diese Anrechnungsregel liefe ins Leere, wollte man mit dem OLG Hamm die Untersuchungshaft nicht anrechnen. Sie zeigt aber auch auf, daß der Gesetzgeber durchaus einen Unterschied zwischen der (erst seit dem 1. Januar 2001 möglichen) Anspruchsentstehung und der Berechnung der Zehnjahresfrist macht.

Die Senatsverwaltung für Justiz hat auf Bitten des Senats eine Länderumfrage zur Handhabung des § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG durchgeführt. Sie hat aufgezeigt, daß eine große Mehrheit (10:3) derjenigen Bundesländer, die sich in der Sache geäußert haben, die Zehn-Jahres-Frist unabhängig von dem Inkrafttreten des Gesetzes beginnen läßt.

Konsequenz der Handhabung, die erste Zehnjahresfrist erst mit Inkrafttreten des Änderungsgesetzes beginnen zulassen, wäre überdies, daß sämtliche in der Bundesrepublik Deutschland einsitzenden Gefangenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrten, deren Strafen und Maßregeln über den 1. Januar 2011 hinaus länger als zehn Jahre vollstreckt werden, massenhaft zum gleichen Zeitpunkt zu entschädigen wären, was dann ohne sachliche Notwendigkeit zu einer unzuträglichen Belastung der Arbeitsverwaltungen und Zahlstellen der Justizvollzugsanstalten führte, anstatt daß sich die Arbeitslast kontinuierlich auf zehn Jahre verteilt.

4. Unabhängig vom Beginn des Laufs der Zehnjahresfrist des § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG können gesetzlich gewährte Ansprüche erst mit Beginn der Geltung des anspruchsbegründenden Gesetzes, also ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens, entstehen. Etwas anderes gälte nur, wenn der Gesetzgeber eine Übergangsregelung mit entsprechender Rückwirkungsanordnung zugunsten der am 1. Januar 2001 inhaftierten Lebenszeitgefangenen und Sicherungsverwahrten getroffen hätte; dies ist indes nicht der Fall.

Zwar weist der Rechtsbeschwerdegegner zutreffend auf die strukturelle Nähe des Strafvollzugsrechts zum Verwaltungsrecht hin, die es grundsätzlich erlaubt, Grundsätze und Rechtsgedanken dieses Rechtsgebietes für das Strafvollzugsrecht nutzbar zu machen, wenn dort eigene Regelungen fehlen. Aus den von ihm herangezogenen verwaltungsverfahrens- und sozialrechtlichen Vorschriften läßt sich jedoch nichts entnehmen, was seine Rechtsansicht stützte. § 35 VwVfG definiert den Begriff des Verwaltungsaktes, § 36 Abs. 2 VwVfG nennt mögliche Nebenbestimmungen, mit denen ein solcher erlassen oder verbunden werden darf. Verwaltungsakte und (formelle) Gesetze betreffen grundlegend unterschiedliche Regelungsebenen. Diese Unterschiede in der Natur und dem Zweck dieser Rechtsakte macht es problematisch, für den Erlaß und die Geltung von Verwaltungsakten bestehende Grundsätze bei der Auslegung von Gesetzen anzuwenden. Ob und - gegebenenfalls - inwieweit dies möglich ist, kann hier jedoch dahinstehen; denn § 36 Abs. 2 VwVfG belegt (unter anderem) gerade, daß es einer besonderen Bestimmung bedarf, wenn eine Vergünstigung zu einem bestimmten Zeitpunkt, der von dem des Erlasses des Verwaltungsaktes abweicht, beginnen soll. Fehlt eine solche Nebenbestimmung, ist der Zeitpunkt des Erlasses maßgebend. Auch die von dem Antragsteller genannten Vorschriften der §§ 40, 41 SGB I (Entstehen und Fälligkeit von Ansprüchen auf Sozialleistungen) können seine Auffassung nicht untermauern. § 40 Abs. 1 SGB I ordnet lediglich an, daß Sozialleistungsansprüche entstehen, sobald ihre im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Das hat mit der Thematik des vorliegenden Falles nichts zu tun. Denn hier ist nur die Frage angesprochen, wann der durch die gesetzliche Regelung Begünstigte über einen ihm zustehenden Geldbetrag verfügen kann. Die vorgenannte Vorschrift steht insbesondere nicht dem Grundsatz entgegen, daß ein gesetzlich gewährter Anspruch erst mit Beginn der Geltung des Gesetzes entsteht.

Auch aus anderen Vorschriften des Verwaltungsrechts oder sonstiger Rechtsgebiete des öffentlichen Leistungsrechts läßt sich die Rechtsauffassung des Antragstellers nicht begründen.

Für den Antragsteller gilt daher, daß er Freistellungstage, die eine Ausgleichsentschädigung begründen könnten, vor dem 1. Januar 2001 nicht hat erwerben können. Das Bundesverfassungsgericht hat seiner in BVerfGE 98, 169 abgedruckten Entscheidung keine rückwirkende Herstellung einer verfassungsgemäßen Bezahlung der Gefangenenarbeit angeordnet.

5. Eine Vorlegung der Sache an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 in Verbindung mit Abs.1 Nr. 3 GVG ist nicht veranlaßt. Zwar weicht der Senat mit der vorliegenden Entscheidung von der Rechtsprechung des OLG Hamm (ZfStrVo 2005, 304) zu § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG, wie dargelegt, ab; jedoch kann nur die Abweichung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage die Vorlegungspflicht auslösen. Für die Entscheidung erheblich ist die Rechtsfrage nur, wenn ihre Beantwortung in die eine oder in die andere Richtung im konkreten Fall zu unterschiedlichen prozessualen Ergebnissen führte (vgl. Hannich in KK, StPO 5. Aufl., § 121 GVG Rdnrn. 13 ff. mit weit. Nachw.). Daran fehlt es hier. Denn sowohl nach der Rechtsansicht des OLG Hamm als auch nach der des Senats kann die Ausgleichsentschädigung zum Eigengeld dem Antragsteller gegenwärtig nicht gutgeschrieben werden.

6. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, an Stelle der Strafvollstreckungskammer selbst in der Sache zu entscheiden; denn sie ist spruchreif (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG), da keine weiteren Erhebungen erforderlich waren.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 Satz 1 StVollzG.

Der Senat hat auch den Streitwert überprüft (§§ 65, 63 Abs. 3 Satz 1 GKG) und den von der Strafvollstreckungskammer bestimmten bestätigt.

In Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz ist der Streitwert gemäß § 60 GKG entsprechend § 52 Abs. 1 bis 3 GKG von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. Da der Sach- und Streitstand für die Wertbestimmung genügend Anhaltspunkte bietet und der Antrag des Gefangenen keine Geldleistung beziffert hat, ist der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Gefangenen für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach objektiven Maßstäben zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Bei der Beurteilung, welche Bedeutung die Sache für den Antragsteller hat, kommt es allein auf den gestellten Antrag an. Ein weitergehendes Interesse, etwa die allgemeine wirtschaftliche Lage des Antragstellers, hat unberücksichtigt zu bleiben (vgl. Meyer, GKG 6. Aufl., § 52 Rdn. 6). Danach ist zunächst der Vergütungsanspruch zugrundezulegen, den der Antragsteller für die 18 von ihm geltend gemachten Arbeitstage insgesamt erworben hat. Das sind einschließlich aller Zulagen und der 15%-igen Ausgleichsentschädigung 18 mal 14,50 EUR = 291,- EUR. Hinzu treten die Ansprüche, die der Gefangene während der Dauer des Verfahrens erarbeitet haben dürfte. Das sind weitere 8 mal 14,50 EUR. Daraus ergibt sich ein Betrag, der es unter Berücksichtigung der allgemeinen Bedeutung der Sache erlaubt - aufgerundet - den Streitwert in beiden Rechtszügen entsprechend der von der Strafvollstreckungskammer vorgenommenen Bestimmung auf 500,- EUR zu bemessen.

Ende der Entscheidung

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