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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 20.10.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 569/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
StPO § 310 Abs. 1
StPO § 467 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Beschluß

5 Ws 569/06 2 AR 157/06

In der Strafsache gegen

wegen Steuerhinterziehung

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 20. Oktober 2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten werden der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 13. September 2006 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 10. März 2006 - 351 Gs 825/06 - aufgehoben.

Die Kosten der weiteren Beschwerde fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

Mit dem Haftbefehl vom 10. März 2006 legt die Staatsanwaltschaft Berlin dem Beschuldigten zur Last, in der Zeit vom 10. November 2003 bis 10. Februar 2004 gemeinschaftlich mit dem gesondert verfolgten italienischen Staatsangehörigen Tu. in fünf Fällen die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen und dadurch Steuern verkürzt zu haben (§§ 370 Abs. 1 Nr. 2, 369 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 18 Abs. 1 UStG, § 25 Abs. 2 StGB). Ihm wird vorgeworfen, mit der von ihm und seinem Mittäter gegründeten Vi. GmbH im Tatzeitraum steuerpflichtige Umsätze erzielt zu haben, die weder von dem im Handelsregister eingetragenen Geschäftsführer Tu. noch von ihm als faktischer Geschäftsführer der Gesellschaft beim zuständigen Finanzamt für Körperschaften in Berlin rechtzeitig zum jeweils 10. des auf die Umsatzerzielung folgenden Monats im Rahmen von Umsatzsteuervoranmeldungen erklärt wurden.

Der Beschwerdeführer verbüßt derzeit in der Justizvollzugsanstalt Dieburg eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 7. Februar 2006 - 5/2 KLs 23/05 - 7511 Js 244354/04 WI -. Zwei-Drittel der Strafe werden am 29. Januar 2007 verbüßt sein, das Strafende ist auf den 19. Februar 2008 notiert. Für das hiesige Verfahren ist Überhaft notiert. Durch den angefochtenen Beschluß vom 13. September 2006 hat das Landgericht die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Haftbefehl vom 10. März 2006 verworfen. Seiner dagegen gerichteten, gemäß § 310 Abs. 1 StPO zulässigen weiteren Beschwerde kann der Erfolg nicht versagt werden.

Zwar ist der Senat ebenfalls der Auffassung, daß der Beschuldigte der ihm vorgeworfenen Straftaten dringend verdächtig ist und der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht. Der Haftbefehl kann jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrecht erhalten bleiben. Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 MRK folgende Beschleunigungsgebot (vgl. BVerfG StV 1992, 121, 122; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl., § 121 Rdn. 2 m.w.Nachw.) gilt auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil sich der Beschwerdeführer in anderer Sache in Strafhaft befindet und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist (vgl. BVerfG StV 2006, 251, 253; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 29; OLG Karlsruhe StV 2002, 317; OLG Bremen StV 2000, 35; KG StV 2002, 554).

Die Sachbehandlung der Staatsanwaltschaft ist mit dem Beschleunigungsgebot nicht mehr in Einklang zu bringen. Obwohl sie bereits mit Schreiben vom 6. Februar 2006 die Erhebung der Anklage "in den nächsten Tagen" angekündigt hat, ist diese bislang nicht erfolgt. Zwingende verfahrensrechtliche Gründe, die eine derartige Verzögerung sachlich rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich.

Der Beschuldigte hat sich über seine Verteidigerin mehrfach dezidiert zu den Tatvorwürfen geäußert und sie zu einem bedeutsamen Teil eingeräumt. Seit mehr als einem Jahr hat die Verteidigerin erfolglos - stets drängender werdend - die Erhebung der Anklage angeregt, damit der Beschuldigte in angemessener Zeit (vgl. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) Gewissheit erlangt, welches Gesamtstrafenübel ihn treffen wird. Den Akten ist ebenfalls nicht zu entnehmen, daß weitere Ermittlungen stattgefunden haben, die für die Anklageerhebung erforderlich wären. Die ersichtliche Nichtbearbeitung der Haftsache ohne rechtfertigenden Grund verstößt vor allem auch deshalb gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil der Beschwerdeführer nach 22 Monaten Untersuchungs- und Strafhaft derzeit immer noch Freiheitsbeschränkungen unterliegt, die beim Vollzug einer Freiheitsstrafe nicht zulässig wären. Er befindet sich seit dem 24. August 2006 zwar in Strafhaft, unterliegt jedoch den Beschränkungen der Untersuchungshaft, weil für das hiesige Verfahren eine Überhaftnotierung besteht (§§ 10, 122 StVollzG; Senat, Beschluß vom 13. April 2006 - 5 Ws 70/06 Vollz - JURIS). Der Umstand, daß der Haftbefehl nicht vollzogen wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es jedoch keineswegs auf. Vielmehr sind die Zeiten, in denen ein Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voran zu treiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (vgl. OLG Stuttgart a.a.O. m.w.Nachw.). Vorliegend ist das Verfahren seit dem Erlaß des Haftbefehls am 10. März 2006 nicht mehr gefördert worden, so daß er wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot nicht mehr aufrecht erhalten bleiben darf (vgl. BVerfG StV 2006, 251, 253).

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

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