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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 15.02.2006
Aktenzeichen: 5 Ws 607/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
Bei der Beurteilung, ob ein Strafaufschub wegen Krankheit zu gewähren ist, hat die Vollstreckungsbehörde eine Gesamtabwägung durchzuführen, bei der die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs einerseits und das Interesse des Verurteilten andererseits (insbesondere an seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit) gegenüberzustellen sind und nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einen Interessenausgleich herbeizuführen.
Geschäftsnummer: 5 Ws 607/05

In der Strafsache gegen

wegen Steuerhinterziehung u.a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 15. Februar 2006 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 24. November 2005 aufgehoben.

2. Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

Der Beschwerdeführer verbüßt zur Zeit eine unter Einbeziehung der Strafen aus zwei früheren Verurteilungen gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren wegen Betruges aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 3. März 2004 - (506) 61/55 Js 1776/02 KLs (3/04) -, die - vorbehaltlich einer Aussetzungsentscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB - voraussichtlich noch bis zum 4. Mai 2010 zu vollstrecken ist. Ferner bestehen Anschlußnotierungen für die Strafreste aus den Urteilen des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 21. Dezember 1992 - 53 Js 1103/86 - und des Landgerichts Halle vom 27. Juni 1995 - 1101 Js 30986/94 - bis einschließlich 24. September 2011. Mit Schriftsätzen seines Verteidigers vom 10. Oktober 2005 beantragte der Beschwerdeführer sowohl bei der Staatsanwaltschaft Halle als auch bei der Staatsanwaltschaft Berlin die Bewilligung von Strafaufschub zur Durchführung zwingend anstehender Operationen. Aus einem beigefügten Schreiben des Beschwerdeführers an seinen Verteidiger vom 28. September 2005 ergab sich weiterhin, daß die angestrebte Haftunterbrechung der Durchführung einer Operation des linken Hüftgelenks durch einen hierauf spezialisierten Arzt des Bonner Universitätsklinikums dienen sollte.

Mit Verfügung vom 21. Oktober 2005 lehnte die Staatsanwaltschaft Halle eine Unterbrechung der Strafvollstreckung ab und verwies zur Begründung auf ein Schreiben vom 20. Januar 2005, mit dem ein früherer Antrag auf Strafunterbrechung abgelehnt worden war. Ebenso lehnte die Staatsanwaltschaft Berlin mit Verfügung vom 28. Oktober 2005 die von dem Beschwerdeführer angestrebte Strafunterbrechung ab.

Während die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berlin unangefochten blieb (der Verteidiger beantragte insoweit nur, den Verurteilten nach § 65 Abs. 2 StVollzG in ein geeignetes Krankenhaus zu bringen), erhob der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Halle Einwendungen, die das gemäß § 462a Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit §§ 462 Abs. 1 Satz 1, 458 Abs. 2 StPO zur Entscheidung berufene Landgericht Berlin - Strafvollstreckungskammer - mit dem angefochtenen Beschluß zurückwies. Dieser wurde dem Verteidiger am 2. Dezember 2005 zugestellt.

1. Die mit Schriftsatz des Verteidigers vom 8. Dezember 2005, eingegangen an demselben Tag, und mit Schreiben des Beschwerdeführers vom 2. Dezember 2005, eingegangen am 6. Dezember 2005, eingelegte sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 462 Abs. 3 Satz 1, 311 Abs. 2 StPO zulässig. Es mangelt dem Beschwerdeführer insbesondere nicht an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Zwar wendet er sich lediglich gegen die ablehnende Verfügung der Staatsanwaltschaft Halle, nicht aber gegen die ebenfalls abschlägige Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berlin, was zur Folge hat, daß die von ihm erstrebte Strafunterbrechung selbst im Falle vollständigen Obsiegens im vorliegenden Verfahren weiterhin an der fehlenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft Berlin scheitern würde. Diese ist als Vollstreckungsbehörde gemäß § 451 Abs. 1 StPO für die Bewilligung eines Strafausstandes gemäß § 455 Abs. 4 StPO für die gegenwärtig vollstreckte Strafe zuständig; ihre örtliche Zuständigkeit folgt aus § 7 Abs. 1 StrVollstrO. Gleichwohl ist ein Rechtsschutzbedürfnis auch für die sofortige Beschwerde im hiesigen Verfahren anzuerkennen, da der Beschwerdeführer durch die beanstandete Verfügung der Staatsanwaltschaft Halle, die einer Strafunterbrechung auch bei stattgebender Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft Berlin entgegenstünde, beschwert ist und ein berechtigtes Interesse an deren Aufhebung geltend macht.

2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache - vorläufigen - Erfolg. Die Bewilligung einer Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 StPO liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft (vgl. Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl., § 455 Rdn. 7). Ihre Entscheidung unterliegt daher im Verfahren nach §§ 458 Abs. 2, 462 Abs. 3 S. 1 StPO nur einer Überprüfung auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. Fischer in KK, StPO 5. Aufl., § 455 Rdn. 10). Von dem ihr danach zustehenden Ermessen hat die Staatsanwaltschaft Halle in der angefochtenen Entscheidung nicht erkennbar Gebrauch gemacht.

Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen des hier allein als Strafunterbrechungsgrund in Betracht kommenden § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO vorliegen, hat die Vollstreckungsbehörde auf der Grundlage sämtlicher ihr im Entscheidungszeitpunkt vorliegender Erkenntnisse eine Gesamtabwägung durchzuführen, bei der die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs einerseits und das Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, insbesondere seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit, andererseits gegenüberzustellen sind und nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein Interessenausgleich herbeizuführen ist (vgl. BVerfG NStZ-RR 2003, 345). Die angefochtene Verfügung der Staatsanwaltschaft Halle läßt besorgen, daß eine derartige Abwägung nicht erfolgt ist und insbesondere neuere Erkenntnisse bei der Entscheidungsfindung keine Berücksichtigung gefunden haben. Die Begründung der Entscheidung erschöpft sich in der Verweisung auf ein Schreiben vom 20. Januar 2005, mit dem die Staatsanwaltschaft Halle einen früheren Antrag auf Strafunterbrechung ähnlich knapp abgelehnt hatte, und der pauschalen Feststellung, aus der jetzigen Antragstellung hätten sich keine neuen Gründe ergeben. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Vorbringen des Verurteilten in seinem Schreiben vom 28. September 2005 nebst Anlagen (Bd. VI Bl. 44 ff. d. Vollstr.H.) - darunter ein neueres (zur Frage der Verhandlungs- und Reisefähigkeit erstattetes) gerichtsärztliches Gutachten des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin Berlin vom 3. Mai 2005 (Bd. VI Bl. 65 ff. d. Vollstr.H.) - ist nicht einmal ansatzweise erkennbar. Die Staatsanwaltschaft Halle wird daher unter Beachtung der dargelegten Grundsätze eine neue Entscheidung zu treffen haben.

3. Im übrigen weist der Senat den Beschwerdeführer auf folgendes hin: a) Die Möglichkeit, die Operation während einer Haftunterbrechung nach § 455 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO durchführen zu lassen, setzt voraus, daß die Unterbrechung in allen drei Verfahren gewährt worden ist, in denen gegenwärtig noch Strafreste zu vollstrecken sind. Derzeit ist die Verfahrenslage inkongruent. In dem Berliner Verfahren ... hat der Verurteilte die ablehnende Entschließung der Staatsanwaltschaft hingenommen, im Hallenser Verfahren nicht. b) Wie bereits in den Senatsbeschlüssen vom 24. November 2003 - 5 Ws 593/03 - und vom 16. August 2004 - 5 Ws 423/04 - ausgeführt, ist vor einer Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 StPO zunächst zu prüfen, ob eine Unterbringung in einem geeigneten Krankenhaus außerhalb des Vollzuges nach § 65 Abs. 2 StVollzG ausreicht. Ein entsprechender Antrag ist nicht an die Staatsanwaltschaften, sondern an die Justizvollzugsanstalt, vertreten durch den Anstaltsleiter, zu richten, auch schon für ein die geplante Operation vorbereitendes ärztliches Beratungs- und Aufklärungsgespräch.

Über den von dem Beschwerdeführer im Rahmen seiner Beschwerdebegründung gestellten Antrag auf ärztliche Überprüfung seiner Haftfähigkeit (Bd. VI Bl. 162 d. Vollstr.H.) hat der Senat nicht zu entscheiden.

4. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer dadurch entstandenen notwendigen Auslagen waren in entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO der Landeskasse Berlin aufzuerlegen, da ein anderer Kostenschuldner nicht vorhanden ist (vgl. Meyer-Goßner, § 473 StPO Rdn. 2).

Ende der Entscheidung

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