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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 23.02.2007
Aktenzeichen: 6 Sa 2152/06
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 18 Abs. 1 Ts. 1
1. Nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG braucht mit dem Ausspruch der Kündigungen nicht bis zum Ablauf der einmonatigen Regelsperrfrist des § 18 Abs. 1 Ts. 1 KSchG abgewartet zu werden.

2. Die Kündigungsfrist wird in diesem Fall allerdings erst mit Ablauf der Sperrfrist in Lauf gesetzt.


Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Im Namen des Volkes Urteil

6 Sa 2152/06

Verkündet am 23.02.2007

In dem Rechtsstreit

hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Kammer 6, auf die mündliche Verhandlung vom 23.02.2007 durch den Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht C. sowie den ehrenamtlichen Richter K. und die ehrenamtliche Richterin S.

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 25.10.2006 - 14 Ca 3077/06 - im Kostenausspruch und dahin geändert, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung der Beklagten vom 30. Januar 2006 nicht zum 31. Mai, sondern erst zum 30. Juni 2006 aufgelöst worden ist.

2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger zu 10/21 und die Beklagte zu 11/21 zu tragen, während die Kosten der Berufungsinstanz vom Kläger zu 10/11 und von der Beklagten zu 1/11 zu tragen sind.

4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der am ....... 1959 geborene Kläger stand seit dem 20. September 1995 als Maurer in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten, die einen Baubetrieb führt. Er erzielte zuletzt ein Entgelt von etwa 2 100,00 € brutto monatlich.

Mit zwei Schreiben vom 25. bzw. 30. Januar 2006 kündigte die Beklagte dem Kläger zum 31. Mai 2006 (Abl. Bl. 11 und 12 d. A.) und mit einer weiteren, fälschlich ebenfalls auf den 30. Januar datierten Kündigung vom 30. März 2006 nochmals vorsorglich zum 31. Juli 2006. Auf eine Massenentlassungsanzeige vom 27. Januar 2006 (Abl. Bl. 56-61 d. A.) erteilte die Bundesagentur für Arbeit der Beklagten unter dem 14. Februar 2006 den Bescheid, dass die Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG vom 28. Januar bis 27. Februar 2006 laufe (Abl. Bl. 62 d. A.).

Mit seiner Klage wendet sich der Kläger gegen eine Beendigung seines Arbeitsverhältnisses.

Nach übereinstimmender Erklärung der Erledigung des Rechtsstreits hinsichtlich der ersten Kündigung hat das Arbeitsgericht Berlin die verbliebene Klage abgewiesen und dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung vom 30. Januar 2006 sei durch dringende betriebliche Gründe bedingt, weil die Beklagte die für die Gerichte für Arbeitssachen bindende Unternehmerentscheidung getroffen habe, u. a. Maurerarbeiten künftig nicht mehr mit eigenem Personal, sondern von Subunternehmern ausführen zu lassen. Da die Beklagte allen Maurern gekündigt habe, sei eine Sozialauswahl entbehrlich gewesen. Die Beklagte habe die Kündigung vom 30. Januar 2006 auch erst nach Erstattung ihrer Massenentlassungsanzeige erklärt und habe angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darauf vertrauen dürfen, dass dies den gesetzlichen Erfordernissen genüge. Dass in der Arbeitnehmerliste zur Massenentlassungsanzeige möglicherweise das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht aufgeführt worden sei, habe diese nicht unzureichend gemacht, weil keinerlei Anhaltspunkte vorlägen, dass die Bundesagentur für Arbeit eine andere Entscheidung getroffen hätte, wenn noch ein weiteres Arbeitsverhältnis aufgeführt worden wäre.

Gegen dieses ihm am 17. November 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 15. Dezember 2006 eingelegte und am 17. Januar 2007 begründete Berufung des Klägers. Er meint, die Beklagte habe sich im Kündigungsschreiben auf außerbetriebliche Gründe berufen, die sie jedoch nicht ausreichend dargelegt habe. Außerdem liege darin, dass die Beklagte ihren Personalbedarf über Subunternehmer befriedigen wolle, eine unzulässige Austauschkündigung. Schließlich verstoße die Kündigung vom 30. Januar 2006 gegen die Grundsätze des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Kündigungen erst nach Abschluss des Verfahrens vor der Arbeitsverwaltung erfolgen dürften.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung des angefochtenen Urteils festzustellen,

dass sein Arbeitsverhältnis zur Beklagten nicht durch deren am selben Tag zugegangene Kündigung vom 30. Januar 2006 aufgelöst worden sei,

hilfsweise,

dass es auch nicht durch die am 1. April 2006 zugegangene Kündigung vom 30. März 2006 aufgelöst worden sei.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie tritt den Angriffen der Berufung im Einzelnen entgegen und meint, dass die Kündigungsfrist des allgemeinverbindlichen BRTV Bau nicht erst mit Ablauf der Sperrzeit in Lauf gesetzt worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung ist nur zu einem geringen Teil begründet.

1.1 Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 30. Januar 2006 aufgelöst worden, allerdings nicht bereits zum 31. Mai, sondern erst zum 30. Juni 2006.

1.1.1 Die Kündigung war sozial gerechtfertigt, weil dringende betriebliche Gründe i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 KSchG vorlagen, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers im Betrieb der Beklagten entgegenstanden. Durch Gesellschafterbeschluss vom 29. Dezember 2005 (Abl. Bl. 82 u. 83 d. A.) hatte die Beklagte die unternehmerische Entscheidung getroffen, u.a. die Maurerarbeiten künftig von Subunternehmern ausführen zu lassen, wie das Arbeitsgericht zutreffend dargelegt hat (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Daran änderte es nichts, dass sich die Beklagte im Kündigungsschreiben vom 25. Januar 2006 bemüht hat, dem Kläger ihre Entscheidung mit einer schlechten Auftragslage plausibel zu machen. Entgegen der Ansicht des Klägers führte die beabsichtigte Beauftragung von Subunternehmern selbst dann nicht zu einer sog. Austauschkündigung, wenn diese die Arbeiten nicht selbst verrichteten, sondern eigene Arbeitnehmer dafür einsetzten, weil sich die Beklagte dadurch gerade nicht diesen gegenüber wieder eine Arbeitgeberstellung verschaffte.

1.1.2 Die Kündigung ist nicht gemäß § 18 Abs. 1 Ts. 1 KSchG unwirksam.

1.1.2.1 Es war unschädlich, dass der Kläger offenbar infolge eines Übertragungsfehlers nicht in der Liste der zur Entlassung vorgesehenen Arbeitnehmer aufgeführt war. Ausreichend war vielmehr, dass die Zahl und die Berufsgruppen der betroffenen Arbeitnehmer den Anforderungen des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG entsprechend korrekt angegeben waren. Bei den weitergehenden Angaben handelte es sich um bloße Sollangaben, hinsichtlich deren unbedeutende Abweichungen die Belange der Arbeitsverwaltung nicht ernstlich berühren (KR/Weigand, 7. Aufl. 2004, § 17 KSchG R 88). Es war auch nicht ersichtlich, dass sich die Bundesagentur für Arbeit durch falsche Angaben zur Person des Klägers in ihrer Entscheidung hat beeinflussen lassen (zu diesem Aspekt BAG, Urteil vom 22.03.2001 - 8 AZR 565/00 - AP GG Art. 101 Nr. 59 zu B II 10 b der Gründe). Eine Bindung für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines bestimmten Arbeitnehmers kann aus solchen Angaben keinesfalls hergeleitet werden (KR/Weigand, wie vor, R 90).

1.1.2.2 Es berührte die Wirksamkeit der Kündigung nicht, dass die Beklagte sie bereits vor Erlass des Bescheides der Bundesagentur für Arbeit vom 17. Februar 2006 ausgesprochen hat, mit dem die einmonatige Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 Ts. 1 KSchG bis zum 27. Februar 2006 festgestellt worden ist. Selbst wenn eine richtlinienkonforme Auslegung gebieten mag, Entlassung i.S.v. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG als Kündigung zu verstehen (so BAG, Urteil vom 23.03.2006 - 2 AZR 343/05 - NZA 2006, 971 zu B II 2 a, cc der Gründe), obwohl der EuGH in seinem Urteil vom 27. Januar 2005 (Rs C-188/03 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 18 - J., R 31-38) die Bereichsausnahme für Befristungen in Art. 1 Abs. 2 lit. a RiL 98/59/EG (sog. Massenentlassungs-Richtlinie, MERL) außer Acht gelassen hat, die bei diesem Verständnis überflüssig wäre, folgt daraus nicht, dass damit auch der Ausspruch von Kündigungen vor Ablauf der Sperrfrist untersagt ist. Vielmehr stehen Artt. 3 und 4 MERL der Kündigung von Arbeitsverträgen - gemeint: Arbeitsverhältnissen - während des durch sie eingeführten Verfahrens auch aus europarechtlicher Sicht nicht entgegen, sofern diese Kündigungen nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde erfolgen (EuGH, wie vor, R 53).

1.1.3 Allerdings ist das Arbeitsverhältnis des Klägers nach zehnjährigem Bestand nicht entsprechend der viermonatigen Kündigungsfrist in § 12 Nr. 1.2 Abs. 1 des allgemeinverbindlichen BRTV Bau bereits zum 31. Mai 2006 aufgelöst worden, sondern hat bis zum 30. Juni 2006 fortbestanden.

1.1.3.1 Die Gleichsetzung von Entlassung mit Kündigung führt dazu, dass diese gemäß § 18 Abs. 1 Ts. 1 KSchG ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nicht vor Ablauf von einem Monat nach Eingang der Massenentlassungsanzeige wirksam wird. Dies kann nur ihre Wirksamkeit als Rechtsgeschäft bedeuten, nicht dagegen ihr Wirksamwerden bei Ablauf der Kündigungsfrist, anderenfalls § 18 Abs. 4 KSchG leerliefe, wonach Entlassungen bzw. Kündigungen, soweit diese nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach Abs. 1 und 2 zulässig sind, durchgeführt werden, unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG einer erneuten Anzeige bedürfen. Deshalb wird man § 18 Abs. 1 Ts. 1 KSchG die Regelung einer aufschiebenden Rechtsbedingung für die Kündigung zu entnehmen haben (Ferme/Lipinski NZA 2006, 937, 939; dahingehend auch BAG, Urteil vom 13. Juli 2006 - 6 AZR 198/06 - NZA 2007, 25 zu II 1 d, bb a.E. der Gründe).

1.1.3.2 Vertrauensschutz konnte der Beklagten nicht gewährt werden. Bei Ausspruch der Kündigung vom 30. Januar 2006 musste ihr die in der ersten Jahreshälfte 2005 vollzogene Umstellung der Verwaltungspraxis der Bundesagentur für Arbeit längst bekannt gewesen sein, wonach mit Rücksicht auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache J. Kündigungen erst nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige wirksam ausgesprochen werden können. Darauf, dass sich aus einer grundlegenden Änderung des bisherigen Verständnisses des Regelungsgehalts einer Norm keine weiteren belastenden Folgen mehr ergeben, darf nicht berechtigterweise vertraut werden. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass der gesamte Normenkomplex dem geänderten Verständnis angepasst wird.

1.2 Über die Wirksamkeit der Kündigung vom 30. März 2006 war nicht mehr zu befinden, weil der Kläger sein Begehren insoweit zulässigerweise unter die innerprozessuale Bedingung einer Stattgabe seines Kündigungsschutzantrages hinsichtlich der vorrangigen Kündigung vom 30. Januar 2006 gestellt hat.

2. Nebenentscheidungen

2.1 Soweit die Parteien den Rechtsstreit hinsichtlich der ersten Kündigung für erledigt erklärt haben, waren die Kosten gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO der Beklagten auch ohne einen ausdrücklichen Angriff des Klägers gemäß § 308 Abs. 2 ZPO von Amts wegen aufzuerlegen, weil insoweit der Klage stattzugeben gewesen wäre, da diese Kündigung vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige erklärt worden war. Dass diese Kündigung das Arbeitsverhältnis zum selben Termin wie die zweite Kündigung beenden sollte und deshalb streitwertmäßig wechselseitige Konsumtion vorlag, war für die Ermittlung der Kostenquote unerheblich.

Das Obsiegen des Klägers beschränkte sich hinsichtlich der zweiten Kündigung darauf, dass der Endtermin seines Arbeitsverhältnisses um einen Monat verschoben worden ist, was die Kammer mit einem Zehntel seines Begehrens auf unbefristeten Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses bewertet hat.

Da die dritte Kündigung nicht zur Entscheidung angefallen ist, ergab sich für den Kläger erstinstanzlich eine Relation zwischen Obsiegen und Unterliegen von 11 zu 10, die sich in der Berufungsinstanz auf 1 zu 10 verschlechtert hat, weil dort nur noch über die zweite Kündigung zu befinden war.

2.2 Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG wegen grundsätzlicher Bedeutung entscheidungserheblicher Rechtsfragen zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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