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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 01.07.2005
Aktenzeichen: 8 Sa 781/05
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 17
Vertrauensschutz, keine Unwirksamkeit einer Kündigung aus dem Jahr 2002 wegen Massenentlassungsanzeige nach Kündigungszugang
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil

8 Sa 781/05

Verkündet am 01.07.2005

In Sachen

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 8. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 01.07.2005 durch die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Albrecht-Glauche als Vorsitzende sowie die ehrenamtlichen Richter Herrn Zernick und Herrn Niesel

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. März 2005 - 36 Ca 19726/02 - teilweise dahin abgeändert, dass die Klage insgesamt abgewiesen wird.

II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung, die der beklagte Insolvenzverwalter mit dem Schreiben vom 27. Juni 2002 gegenüber der seit Dezember 1993 bei der Schuldnerin bzw. deren Rechtsvorgängern zu einem Bruttomonatsentgelt von zuletzt 1.436,46 EUR zuzüglich 23,00 EUR (Fahrgeldpauschale) in deren Betrieb für Hauspflegedienstleistungen mit zunächst etwa 430, Mitte Juni 2002 noch 176 und Ende August 2002 noch 172 Arbeitnehmern beschäftigten Klägerin zum 30. September 2002 ausgesprochen hat, nachdem er mit dem Betriebsrat unter dem 23. Mai 2002 einen Interessenausgleich und einen Sozialplan (Bl. 81 f d. A.) geschlossen und den Betriebsrat mit dem Schreiben vom 19. Juni 2002 (Bl. 16 bis 17, 34 bis 39 d. A.) zur beabsichtigten Kündigung der noch bestehenden Arbeitsverhältnisse angehört hatte.

Mit dem Schreiben vom 27. August 2002 (Bl. 40 ff d. A.) zeigte der Beklagte der Bundesanstalt für A. (Arbeitsamt Berlin W.) die Entlassung von 172 Beschäftigten zum 30. September 2002 an und fügte der Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats bei.

Mit der am 17. Juli 2002 bei dem Arbeitsgericht Berlin eingegangenen Klage hat sich die Klägerin u.a. gegen die ihr am 29. Juni 2002 zugegangene Kündigung vom 27. Juni 2002 gewandt, die sie für sozial ungerechtfertigt und sittenwidrig sowie wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats und nicht ordnungsgemäßer Durchführung des Verfahrens bei Massenentlassungen für rechtsunwirksam gehalten hat.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 27. Juni 2002 nicht aufgelöst worden ist;

2. den Beklagten zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Pflegehelferin weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Kündigung u.a. wegen der bereits Ende Januar 2002 erfolgten vollständigen Betriebseinstellung unter ordnungsgemäßer Einhaltung sämtlicher Verfahrensvorschriften für rechtswirksam gehalten.

Durch den Beschluss vom 30. April 2003 hat das Arbeitsgericht den Rechtsstreit ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft gerichtet. Wegen des Inhalts des Beschlusses vom 30. April 2003 im Einzelnen wird auf Bl. 107 bis 121 d. A. verwiesen.

Mit dem Urteil vom 27. Januar 2005 hat der Gerichtshof (Rechtssache C-188/03) für Recht erkannt:

"1.

Die Artikel 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen sind dahin auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt.

2.

Der Arbeitgeber darf Massenentlassungen nach Ende des Konsultationsverfahrens im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 98/59 und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung im Sinne der Artikel 3 und 4 der Richtlinie vornehmen."

Wegen des Inhalts des Urteils im Einzelnen wird auf Bl. 183 bis 195 d. A. Bezug genommen.

Von der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird unter Bezugnahme auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 205 bis 208 d. A.) abgesehen (§ 69 Abs. 3 ArbGG).

Durch das Urteil vom 01. März 2005 hat das Arbeitsgericht unter Abweisung der weitergehenden Klage festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht durch die Kündigung vom 27. Juni 2002 beendet werde, den Wert des Streitgegenstandes auf 5.849,84 EUR festgesetzt und die Kosten des Rechtsstreits der Klägerin zu 25 Prozent und der Beklagten zu 75 Prozent auferlegt. Zur Begründung des stattgebenden Teils der Entscheidung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei zwar weder sozial ungerechtfertigt noch sittenwidrig noch wegen einer fehlerhaften Anhörung des Betriebsrats unwirksam, der Wirksamkeit der Kündigung stünden jedoch die Regelungen der §§ 134 BGB, 17 f KSchG entgegen. Der Beklagte habe dem Arbeitsamt die Entlassung von 172 Beschäftigten zum 30. September 2002 erst mit dem Schreiben vom 27. August 2002 und damit nach der der Klägerin am 29. Juni 2003 zugegangenen Kündigungserklärung angezeigt, obwohl nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften das Ereignis, das als Entlassung i.S.d. §§ 17 f KSchG gelte, die Kündigungserklärung des Arbeitgebers sei. An diese Vorabentscheidung sei das erkennende Gericht gebunden. Zwar enthalte die der Auslegung zugrundeliegende gemeinschaftsrechtliche Richtline keine besondere Sanktion für den Fall eines Verstoßes gegen ihre Vorschriften, daher seien die Vorschriften anzuwenden, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen innerstaatliches Recht gelten, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müsse. Da eine fristgemäße Kündigung nach innerstaatlichem Recht bei einem Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB rechtsunwirksam sei, erweise sich die unter Verletzung der Anzeigepflicht erklärte Kündigung als unwirksam. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils (Bl. 208 bis 212 d. A.) Bezug genommen.

Gegen das dem Beklagten am 18. März 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 18. April 2005 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung, die der Beklagte mit einem am 18. Mai 2005 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Der Beklagte und Berufungskläger macht geltend, er habe sich an sämtliche bei Ausspruch der Kündigung geltenden Regelungen des nationalen Rechts gehalten und darauf vertrauen können, dass die Kündigung Bestand habe. Er hält weder eine unmittelbare Bindungswirkung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für gegeben noch die vom Arbeitsgericht angenommene Rechtsfolge für zwingend, die seiner Auffassung nach gegen den Wortlaut des Gesetzes und die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verstoße.

Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin - 36 Ca 19726/02 - teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und hält die Kündigung für unwirksam, weil der Beklagte die ihm obliegende Anzeigepflicht bei Massenentlassungen verletzt habe.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung vom 18. Mai 2005 (Bl. 236 bis 238 d. A.) und der Berufungsbeantwortung vom 22. Juni 2005 (Bl. 246 bis 249 d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung des Beklagten ist form- und fristgerecht i.S.d. §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO eingelegt und begründet worden.

II.

Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg und führt unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils zur Abweisung der Kündigungsschutzklage.

1. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass die Kündigung vom 27. Juni 2002 wegen der Betriebsstilllegung und der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse aus dringenden betrieblichen Gründen weder sozial ungerechtfertigt noch sittenwidrig ist und der Beklagte das Anhörungsverfahren gemäß § 102 BetrVG mit dem Schreiben vom 19. Juni 2002 ordnungsgemäß durchgeführt hat. Anhaltspunkte dafür, dass das Arbeitsgericht bei seiner Entscheidung den Sachvortrag der Parteien nicht vollständig und angemessen berücksichtigt hat, sind weder von der Klägerin dargelegt worden noch für das Berufungsgericht ersichtlich, so dass es sich insoweit den Ausführungen des Arbeitsgerichts in dem angefochtenen Urteil anschließt und von einer wiederholenden Darstellung absieht (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

2. Die Kündigung ist auch nicht wegen eines Verstoßes des Beklagten gegen seine Pflichten aus § 17 KSchG rechtsunwirksam, obwohl der Beklagte die auch die Entlassung der Klägerin betreffende Anzeige gemäß § 17 KSchG erst nach Zugang der Kündigungserklärung erstattet hat.

Nach der langjährigen und gefestigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 18.08.2003 - 2 AZR 79/02 - NZA 2004, 375 m.w.N.) führt ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Anzeigepflicht nach § 17 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Der Arbeitgeber könne die Massenentlassungsanzeige auch nach Ausspruch der Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nachholen.

Diesen Anforderungen hat der Beklagte vorliegend genügt, indem er mit dem Schreiben vom 27. August 2002 dem Arbeitsamt die Entlassung von 172 Beschäftigten - unter denen sich auch die Klägerin befand - zum 30. September 2002 unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats angezeigt hat. Entsprechend hat die Bundesanstalt für Arbeit mit dem Schreiben vom 27. August 2002 (Bl. 51 d. A.) die Frist gemäß § 18 Abs. 1 KSchG auf die Zeit vom 28. August 2002 bis zum 27. September 2002 festgelegt.

Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft auf den Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin im vorliegenden Rechtsstreit entschieden, dass der in der Richtlinie 98/59 EG (Massenentlassungsrichtlinie) verwendete Begriff der "Entlassung" die Kündigungserklärung des Arbeitgebers bezeichnet, dies führt jedoch nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht zur Unwirksamkeit der hier streitgegenständlichen Kündigung.

Soweit das Konsultationsverfahren betroffen ist, hat der Beklagte dies vor Ausspruch der Kündigung abgeschlossen und mit dem Betriebsrat unter dem 23. Mai 2002 einen Interessenausgleich und Sozialplan vereinbart.

Hinsichtlich des Verfahrens zur Anzeige der Massenentlassung bei der zuständigen Behörde bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der in Rechtsprechung und Literatur umstrittenen Frage, ob und mit welcher Rechtsfolge eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts möglich ist (vgl. dazu Arbeitsgericht Krefeld, Urteil vom 14.04.2005 - 1 Ca 3731/04 - DB 2005, 892; Arbeitsgericht Bochum, Urteil vom 17.03.2005 - 3 Ca 307/04 - EzA Schnelldienst 2005 Nr. 10 S. 14; Bauer, DB 2005 445, Wolter AuR 2005, 135, Osnabrügge NJW 2005, 1093, Appel, DB 2005, 1002, jeweils m.w.N.). Es trifft allerdings nicht zu, dass eine Bindung des Gerichts des Ausgangsverfahrens an die Vorabentscheidung gegeben ist, da im vorliegenden Fall - anders als in dem der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 09.04.1987 - 2 BVR 687/85) zugrunde liegenden Fall - die Anwendung der Richtlinie nicht das Verhältnis des Einzelnen gegenüber dem Mitgliedsstaat sondern das Verhältnis zweier Privatrechtssubjekte betrifft, für die der Europäische Gerichtshof (vgl. nur EuGH vom 14. Juli 1994 - C-91/92 - Paola Faccini Dori - EuGH E I 1994, 3325, vom 14.03.1996 - C-192/94 - El Corte Ingles SA - EuGH E I 1996, 1281) in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinien ablehnt.

Selbst wenn eine richtlinienkonforme Auslegung der hier streitgegenständlichen Vorschrift zur Unwirksamkeit einer unter Ihrer Verletzung ausgesprochenen Kündigung führte, verbietet es der Grundsatz des Vertrauensschutzes, die hier streitgegenständliche Kündigung aus diesem Grund für unwirksam zu erachten.

Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil vom 18.01.2001 - 2 AZR 616/99 - NZA 2002, 455; BGH, Urteil vom 29.02.1996 - 9 ZR 153/95 - NJW 1996 1467) wirkt zwar die Änderung auch einer lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich zurück, eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung ist aber dann geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortführung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbar gelagerte Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde.

Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben, denn der Beklagte musste im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung am 27. Juni 2002 nicht damit rechnen, dass die Kündigung im Hinblick auf einen zeitlich nachfolgenden Vorlagebeschluss und die darauf folgende Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft am 27. Januar 2005 für unwirksam erachtet werden könnte, obwohl das Bundesarbeitsgericht noch im September 2003 seine bisherige Rechtsprechung bestätigt hat. Der Beklagte durfte in einem derartigen Maß mit der Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung rechnen, dass sein Vertrauen bei einer Abwägung mit den Belangen der Klägerin und dem Anliegen der Allgemeinheit den Vorrang beanspruchen kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Kündigung ansonsten rechtlich nicht zu beanstanden ist, nach ordnungsgemäßer Beteiligung des Betriebsrats erfolgte und mit dem Abschluss des Interessenausgleichs und Sozialplans vor Kündigungserklärung auch den Anforderungen an das Konsultationsverfahren i.S.d. Art. 2 der Richtlinie 98/59 EG genügte, so dass die Kündigung auch bei einer früher erfolgten Anzeige der Massenentlassung bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht unterblieben wäre.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

IV.

Die Kammer hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG).



Ende der Entscheidung

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