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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt
Urteil verkündet am 14.01.2003
Aktenzeichen: 8 Sa 341/02
Rechtsgebiete: KSchG, BGB, StGB, BAT-O


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 2
BGB § 276
StGB § 242
BAT-O § 6
BAT-O § 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

8 Sa 341/02

verkündet am: 14. Januar 2003

In dem Rechtsstreit

hat die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Quecke als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Schnupp und Brandt als Beisitzer

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des ArbG Magdeburg vom 21.05.2002 - 3(12) Ca 2391/01 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses. Die am 11.04.1968 geborene Klägerin, ledig und Mutter zweier Kinder (geboren 1984 und 1989), ist seit dem 01.09.1987 als Krankenschwester bei der Beklagten bzw. ihrem Rechtsvorgänger beschäftigt.

Am 11.05.2000 entwendete die Klägerin aus dem Tablettenschrank der Beklagten, zu dem sie und weitere Mitarbeiter Zugang hatten, 10 Tabletten des Beruhigungsmittels Tranxillium 50. Sie unternahm noch am selben Tag u.a. mit diesen Tabletten einen Suizidversuch, den sie überlebte. Vom 10.05. bis 27.09.2000 war sie arbeitsunfähig erkrankt und wurde u.a. stationär in einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie behandelt. Nach umfassender Therapie wurde sie als geheilt entlassen. Nach der Rückkehr in den Dienst räumte sie in einem Personalgespräch am 29.09.2000 auf Befragen ein, das Beruhigungsmittel an sich genommen zu haben. Ausweislich des über dieses Gespräch gefertigten Gedächtnisprotokolls brachte die Klägerin zum Ausdruck, dass es ihr leid tue und der Diebstahl nicht hätte passieren dürfen.

Mit Schreiben vom 11.10.2000 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum 30.06.2001. In dem hierauf von der Klägerin eingeleiteten Kündigungsschutzverfahren (10 Ca 4704/00 Arbeitsgericht Magdeburg) obsiegte sie zweitinstanzlich rechtskräftig; das Landesarbeitsgericht (Urteil vom 06.11.2001) sah die außerordentliche Kündigung mangels ausreichenden Grundes und die ordentliche Kündigung mangels Betriebsratsanhörung als unwirksam an.

Mit Schreiben vom 27.04.2001 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut ordentlich, diesmal zum 31.12.2001. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 03.05.2001 zu.

Mit ihrer am 23.05.2001 beim Arbeitsgericht Magdeburg eingegangenen Kündigungsschutzklage wendet sich die Klägerin gegen die erneute Kündigung.

Mit Urteil vom 21.05.2002, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht antragsgemäß festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27.04.2001 nicht beendet wird.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Pflichtverletzung der Klägerin, selbst wenn sie schuldhaft erfolgte, im Rahmen der Interessenabwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles kein ausreichendes Gewicht hatte, um die ordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Neben dem störungsfreien Verlauf des seit 13 Jahren bestehenden Arbeitsverhältnisses spreche hierfür insbesondere, dass die Klägerin die Tabletten im Zusammenhang mit einem Suizidversuch und damit in einer besonderen Ausnahmesituation entwendet habe, sodass ein typischer Diebstahl zu Bereicherungszwecken nicht gegeben sei. Auch sei die Klägerin als geheilt aus der Therapie entlassen worden und habe den Vorwurf auf Befragen freimütig eingeräumt, ohne hierzu gezwungen gewesen zu sein.

Gegen das ihr am 21.05.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13.06.2002 Berufung eingelegt und diese am 02.07.2002 begründet. Sie macht geltend, dass die Klägerin einen vollendeten Diebstahl begangen habe, insbesondere die Tabletten in ihr Vermögen "einverleibt" habe. Der Diebstahl habe keinen Bagatellcharakter, sondern betreffe den hochsensiblen Medikamentenbereich, der ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragsparteien erfordere. Dass die Klägerin die Tabletten zu dem Suizidversuch verwendet habe, könne "keinesfalls zu Lasten der Beklagten gehen"; es mache keinen Unterschied in Bezug auf die "Verwerflichkeit" ihres Handelns. Wer sich einmal in derartiger Weise am Betriebseigentum vergriffen und seinen Arbeitsplatz leichtfertig aufs Spiel gesetzt habe, biete Anlass zur Befürchtung, auch künftig so zu handeln. Das Eingeständnis des Diebstahls habe die Klägerin erst auf Befragen und damit aus einer Zwangssituation heraus gemacht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Magdeburg vom 21.05.2002 - 3(12) Ca 2391/01 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil.

Wegen des weiteren Berufungsvorbringens der Parteien wird auf ihre in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie ihre Protokollerklärungen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 27.04.2001 nicht aufgelöst worden ist. Auf die zutreffenden Gründe des Arbeitsgerichts wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Den Berufungsangriffen der Beklagten ist Folgendes entgegenzuhalten:

Der von der Beklagten erhobene Kündigungsvorwurf rechtfertigt die Kündigung unter dem Gesichtspunkt eines personenbedingten Grundes i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG nicht. Eine etwa krankheitsbedingte Wiederholungsgefahr hat die Beklagte nicht zum Kündigungsvorwurf erhoben, geschweige denn näher substantiiert. Soweit sie in der Berufungsbegründung von einer Wiederholungsgefahr spricht, bezieht sie sich gerade nicht auf eine krankheitsbedingte Disposition der Klägerin, sondern auf die allgemeine Gefahr, dass ein Arbeitnehmer, der sich einmal am Betriebseigentum vergriffen und seinen Arbeitsplatz aufs Spiel gesetzt habe, auch in Zukunft wieder so handeln könne. Damit ist ersichtlich ein verhaltensbedingter Tatbestand angesprochen.

Eine verhaltensbedingte Kündigung ist indessen ebenfalls nicht gerechtfertigt. Sie erfordert im Unterschied zur personenbedingten Kündigung eine Vertragspflichtverletzung, die auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers beruht (BAG vom 24.05.1989 - 2 AZR 285/88, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Gewissensfreiheit; Wiedemann und Arnold). Ob die Vertragspflichtverletzung darüber hinaus ausnahmslos Verschulden i.S.v. § 276 BGB, d.h. in Bezug auf die konkrete Pflichtverletzung erfordert, ist streitig (vgl. Quecke, ZTR, 2003, 6 (8 f.). Die Frage bedarf hier keiner Entscheidung. Selbst wenn der Klägerin in Bezug auf die Entwendung des Beruhigungsmittels ein Schuldvorwurf zu machen wäre, rechtfertigt ihr Verhalten eine ordentliche Kündigung nicht.

Fraglich ist bereits, ob eine negative Zukunftsprognose besteht. Die verhaltensbedingte Kündigung hat keinen Strafcharakter (BAG vom 26.01.1995 - 2 AZR 649/94, NZA 1995, 128). Maßgeblich ist, ob die verhaltensbedingten Gründe einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für die Zukunft entgegenstehen, insbesondere ob eine Wiederholungsgefahr gegeben ist. Unter den gegebenen Umständen kann davon entgegen der Auffassung der Beklagten nicht die Rede sein. Eine Wiederholungsgefahr aus krankheitsbedingten Gründen hat die Beklagte, wie ausgeführt, gerade nicht geltend gemacht und dargelegt. Eine Wiederholungsgefahr aus anderen Gründen ist nicht ersichtlich. Insbesondere steht zweifelsfrei fest, dass die Klägerin nicht aus Bereicherungsgründen gehandelt hat. Der Umstand, dass sie in einer extremen persönlichen Ausnahmesituation aus völlig anders gelagerten Gründen das Eigentumsrecht der Beklagten verletzt hat, lässt außerhalb einer solchen Ausnahmesituation nicht auf eine Wiederholungsgefahr schließen.

Letztlich entscheidend spricht, wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, die Interessenabwägung zugunsten der Klägerin. Auf Seiten des Arbeitgebers wird das Lösungsinteresse maßgeblich von dem Gewicht der Vertragspflichtverletzung bestimmt. Dieses richtet sich wiederum nach der Bedeutung der verletzten Pflicht für das Arbeitsverhältnis, der Intensität der Pflichtverletzung in Bezug auf Beharrlichkeit und Häufigkeit (BAG vom 21.01.1999 - 2 AZR 665/98, AP Nr. 151 zu § 626 BGB) sowie auf den Grad des Verschuldens (BAG vom 25.04.1991 - 2 AZR 624/90, AP Nr. 104 zu § 626 BGB). Danach mag die Klägerin zwar den objektiven Tatbestand des § 242 StGB verwirklicht haben. Auch stellen die Medikamente keine Bagatelle dar, sondern einen sensiblen, Vertrauen und Sicherheit erfordernden Gegenstand. Doch ist - entscheidend - der Klägerin ein, wenn überhaupt, nur ganz geringer Schuldvorwurf zu machen. Sie unternahm noch am selben Tag, an dem sie die 10 Tabletten entwendete, mit diesen Tabletten einen Suizidversuch. Der unmittelbare Zusammenhang macht deutlich, dass die Klägerin bereits bei Entwendung der Tabletten in der persönlichen Ausnahmesituation war, in der sie nachfolgend den Suizidversuch unternahm. Wenn die Beklagte unter diesen Umständen meint, dass darin kein Unterschied in Bezug auf die "Verwerflichkeit" ihres Handelns liege, kann ihr nicht gefolgt werden. Es macht einen erheblichen und entscheidenden Unterschied aus, ob die Entwendung der Tabletten aus Bereicherungszwecken oder zur unmittelbar anschließenden Durchführung eines Suizidversuches erfolgte. Der Unterschied liegt gerade in der subjektiven Vorwerfbarkeit des Handelns der Klägerin. Dass die Beklagte jeweils den gleichen Schaden davonträgt, ist bei der Beurteilung der subjektiven Vorwerfbarkeit des Verhaltens der Klägerin nicht ausschlaggebend. Auch der Umstand, dass die Klägerin auf bloßes Befragen hin und gerade ohne äußeren Zwang freimütig die Entwendung der Tabletten eingestand, dokumentiert deutlich, dass sie selbst - zutreffend - ihr Verhalten nicht als kündigungsrelevant einordnete. Auch unter Berücksichtigung der dem Angestellten im öffentlichen Dienst obliegenden Pflichten aus §§ 6, 8 BAT-O verbleibt nur ein geringfügiger Vorwurf, der in Anbetracht des seit 13 Jahren unbeanstandet bestehenden Arbeitsverhältnisses die Kündigung nicht zu rechtfertigen vermag.

Nach alledem war die Berufung mit der Kostenfolge des § 97 ZPO zurückzuweisen. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG bestanden nicht.

Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG wird hingewiesen.

Ende der Entscheidung

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