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Gericht: Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 25.09.2002
Aktenzeichen: 8 Sa 344/02
Rechtsgebiete: ArbGG, ZPO
Vorschriften:
ArbGG § 62 I | |
ZPO § 707 I | |
ZPO § 719 I | |
ZPO § 769 |
Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt BESCHLUSS
Halle, den 25.09.2002
In dem Rechtsstreit
Tenor:
wird auf Antrag der Beklagten die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Dessau vom 09.04.2002 - 6 Ca 385/01 - einstweilen eingestellt.
Gründe:
I.
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 09.04.2002 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien über den 21.11.2001 hinaus fortbesteht und die Beklagte zur Weiterbeschäftigung des Klägers als kaufmännischen Angestellten mit einem monatlichen Festgehalt von 8.947,61 € brutto bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits verurteilt. Weiterhin hat es die Beklagte zur Zahlung rückständiger Vergütung für die Monate Januar und Februar verurteilt und den Antrag des Klägers auf Zahlung künftiger Vergütung für die Monate März 2002 - März 2003 als unzulässig zurückgewiesen. Gegen das Urteil haben beide Parteien im Umfang ihres jeweiligen Unterliegens Berufung eingelegt. Mit Schreiben vom 05.08.2002, dem Kläger zugegangen am 08.08.2002, hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut außerordentlich gekündigt. Die Kündigung stützt sich auf neue Gründe. Nachdem die Beklagte eine vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers gemäß dem Weiterbeschäftigungsausspruch im Urteil vom 09.04.2002 mit Blick auf die erneute Kündigung ablehnte, hat der Kläger mit Antrag vom 21.08.2002 die Festsetzung eines Zwangsgeldes und ersatzweise Zwangshaft gegen die Beklagte wegen der Nichtvornahme der urteilsgemäßen Weiterbeschäftigung des Klägers beantragt. Mit Beschluss vom 04.09.2002 hat das Arbeitsgericht dem Antrag stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der sofortigen Beschwerde vom 05.09.2002, beim Arbeitsgericht Dessau eingegangen am 09.09.2002. Außerdem beantragt sie mit am 09.09.2002 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz vom 06.09.2002 vorliegend, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Dessau - 6 Ca 385/01 - einzustellen.
Zur Begründung des Antrages verweist sie in erster Linie auf die erneute außerordentliche Kündigung vom 05.08.2002 und im weiteren darauf, dass die Weiterbeschäftigung für sie einen nicht ersetzbaren Nachteil entstehen lasse.
Demgegenüber hält der Kläger die neuerliche Kündigung für offenkundig unwirksam, da sie gegen das Maßregelungsverbot verstoße (§ 612 a BGB) und die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt sei. Zudem diene der Antrag der Beklagten auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht der Abwendung unersetzlicher Nachteile, sondern reinen Vermögensinteressen.
II.
Der Antrag der Beklagten auf Einstellung der Zwangsvollstreckung ist zulässig und begründet.
1.
Zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung ist das Prozessgericht, im Berufungsrechtszug somit das Berufungsgericht. Die Entscheidung bedarf gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG i.V.m. § 719 Abs. 3 ZPO keiner mündlichen Verhandlung; gemäß §§ 53 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 7 ArbGG trifft sie in diesem Fall der Kammervorsitzende allein.
2.
Die Voraussetzungen für eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung liegen vor.
a)
Die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus den grundsätzlich vorläufig vollstreckbaren arbeitsgerichtlichen Urteilen ist gemäß § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG i.V.m. §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO nur ausnahmsweise zulässig. Der Schuldner muss glaubhaft machen, dass ihm die Vollstreckung einen unersetzlichen Nachteil bringen werde. Davon ist nach dem Vorbringen der Beklagten hier allerdings nicht auszugehen.
Die vorläufige Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Bestandsklage stellt für sich allein regelmäßig keinen unersetzbaren Nachteil i.S.v. § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG dar, selbst wenn später die Wirksamkeit der Kündigung festgestellt würde. Der Arbeitgeber erhält nämlich mit der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers einen Gegenwert. Voraussetzung für die Einstellung der Zwangsvollstreckung ist daher, dass durch die Beschäftigung selbst ein wirtschaftlicher oder immaterieller Nachteil einzutreten droht, für den aller Wahrscheinlichkeit nach ein Ersatz vom Arbeitnehmer nicht erlangt werden könnte. Es genügt nicht, dass ein vollzogenes Arbeitsverhältnis nicht mehr rückabwickelbar ist (BAG GS v. 27.02.1985, NZA 1985, 702; Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 4. Aufl., § 62 Rz. 15 m.w.N.). Derartige unersetzbare wirtschaftliche oder immaterielle Nachteile aus der vorläufigen Weiterbeschäftigung des Klägers hat die Beklagte nicht dargelegt, insbesondere auch nicht für den Fall der Wirksamkeit ihrer Kündigung.
Ein nicht zu ersetzender Nachteil i.S.v. § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG lässt sich aus diesem Grund auch nicht ohne weiteres mit den Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels begründen. Nach herrschender Meinung sind bei der Prüfung des nicht zu ersetzenden Nachteils zwar die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen (vgl. zum Meinungsstand Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 4. Aufl., § 62 Rz. 14 m.w.N.). Stellt aber die vorläufige Weiterbeschäftigung wegen der mit ihr erbrachten Arbeitsleistung selbst dann keinen unersetzbaren Nachteil dar, wenn später die Wirksamkeit der Kündigung festgestellt wird (so BAG GS v. 27.02.1985, aaO), so können auch die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einen solchen Nachteil grundsätzlich nicht ohne weiteres begründen. Ob hiervon eine Ausnahme zu machen ist, wenn die Erfolgsaussichten ganz offenkundig sind (so Ostrowicz/Künzi/Schäfer, Der Arbeitsgerichtsprozess, 2. Aufl. Rz. 424), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn ausnahmsweise bedarf es eines unersetzbaren Nachteils i.S.v. § 62 I ArbGG im vorliegenden Fall nicht.
Erhebt der Schuldner gegen den im Urteil festgestellten Anspruch sogenannte nachträgliche Einwendungen, die nicht gemäß § 767 Abs. 2 ZPO präkludiert sind und daher grundsätzlich im Wege der Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 767 Abs. 1 geltend gemacht werden könnten, müssen für die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung die Voraussetzungen für die entsprechende einstweilige Anordnung gemäß § 769 ZPO genügen. Das gilt auch, wenn die Einwendung mit der Berufung und nicht mit der Vollstreckungsabwehrklage geltend gemacht werden. Denn dem Schuldner stehen grundsätzlich beide Wege offen; nach Einlegung der Berufung fehlt ihm indessen das Rechtsschutzbedürfnis für die Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO (BAG EzA ZPO § 767 Nr. 1; Zöller/Herget, ZPO, 23. Aufl., § 767 Rz. 4 m.w.N., herrschende Meinung). Das darf sich nicht zu seinem Nachteil auswirken.
Gemäß § 769 ZPO kann das Prozessgericht auf Antrag die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung mit oder ohne Sicherheitsleistung anordnen, bis über die nachträglich entstandenen Einwendungen gegen den im Urteil festgestellten Anspruch entschieden ist. Dabei ist maßgeblich auf die Aussichten des Rechtsbehelfs abzustellen (Zöller/ Herget, aaO, § 769 Rz. 6 m.w.N.). § 769 ZPO erfordert nach ganz herrschender Meinung einen nicht zu ersetzenden Nachteil i.S.v. § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG nicht, da er im Gegensatz zu den §§ 707 Abs. 1, 719 Abs. 1 ZPO in § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG nicht angeführt ist (ganz herrschende Meinung LAG Nürnberg 07.05.1999 - 7 Ta 89/99, BB 1999, 1387; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, § 769 Rz. 21; GK-ArbGG/Vossen § 62 Rz. 39; Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, aaO, § 62 Rz. 38; Schaub, Arbeitsgerichtsverfahren, 7. Aufl., § 46 Rz. 17; anderer Ansicht Grunsky ArbGG, 7. Aufl., § 62 Rz. 8; alle m.w.N.). Der Grund dafür, dass § 62 Abs. 1 ArbGG den nicht zu ersetzenden Nachteil nicht zur Voraussetzung für die einstweilige Anordnung i.S.v. § 769 ZPO erhebt, liegt darin, dass die Vorschrift nur nachträglich entstandene Einwendungen gegen den im Urteil festgestellten Anspruch betrifft, die noch nicht Gegenstand eines Erkenntnisverfahrens sein konnten. Für derartige Einwendungen verlangt § 62 Abs. 1 ArbGG nicht zusätzlich noch die Glaubhaftmachung eines unersetzbaren Nachteils. Macht somit ein Schuldner geltend, dass der erstinstanzlich ausgeurteilte Weiterbeschäftigungsanspruch durch eine nach Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz ausgesprochene weitere Kündigung materiell-rechtlich entfallen ist, ist dies im Verfahren auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 62 Abs. 1 ArbGG i.V.m. §§ 717 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO in entsprechender Anwendung von § 769 ZPO auch vom Berufungsgericht zu berücksichtigen (im Ergebnis ebenso LAG Berlin vom 14.07.1993 - 8 Sa 79/93, LAGE ArbGG 1979 § 62 Nr. 20).
b)
Die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 769 ZPO erfordert, dass die dort genannten Einwendungen gegen den durch das Urteil festgestellten Anspruch überwiegende Aussichten auf Erfolg bieten (ganz herrschende Meinung vgl. Zöller/Herget, aaO, § 769 Rz. 6 m.w.N.). Das ist hier der Fall. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beendet eine erneute Kündigung des Arbeitgebers den vorläufigen Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers, sofern die Kündigung nicht offensichtlich unwirksam ist oder - was hier nicht in Betracht kommt - auf dieselben Gründe gestützt wird, die bereits nach Auffassung des Arbeitsgerichts für die erste Kündigung nicht ausgereicht haben. Eine Kündigung ist dann offensichtlich unwirksam, wenn sich ihre Unwirksamkeit bereits aus dem unstreitigen Sachverhalt ohne Beurteilungsspielraum jedem Kundigen aufdrängt, d.h. die Unwirksamkeit ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht offen erkennbar ist (BAG vom 19.12.1985 - 2 AZR 190/85, AP Nr. 17 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht). Dem Antrag der Beklagten auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist mithin stattzugeben, sofern eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die erneute Kündigung der Beklagten vom 05.08.2002 nicht offensichtlich unwirksam im vorgenannten Sinne ist. Das ist zu bejahen.
Die Beklagte hat die Kündigung vom 05.08.2002 auf einen neuen Lebenssachverhalt gestützt. Entgegen der Auffassung des Klägers drängt sich die Unwirksamkeit dieser Kündigung nicht ohne Beweiserhebung und ohne Beurteilungsspielraum auf. Auf der Grundlage des Beklagtenvorbringens lässt sich nicht die Feststellung treffen, dass ihre Kündigung gegen das Maßregelungsverbot des § 612 a BGB verstieß. Insbesondere ergibt sich aus dem Schreiben der Beklagten vom 13.08.2002, in dem sie dem Kläger ihre Kündigungsgründe erläutert, nicht, dass die Kündigung erfolgte, weil der Kläger in zulässiger Weise seine Rechte ausgeübt hat (§ 612 a BGB). Die Beklagte hat die Kündigung darin u.a. damit begründet, dass der Kläger gegenüber Dritten unzutreffende Behauptungen über die Beklagte und ihren Geschäftsführer aufgestellt habe. Insbesondere sei der Inhalt eines Telefongespräches zwischen Herrn und dem Geschäftsführer der Beklagten unzutreffend und in einer Weise wiedergegeben worden, die dem Ansehen der Beklagten und ihres Geschäftsführers schadeten. Im Weiteren hat die Beklagte die Kündigung damit begründet, dass der Kläger versucht habe, mit Schreiben vom 06. Juni 2002 mit fingierter Begründung (fehlgeschlagene Bewerbung bei der Fa. Deutschland) Schadensersatzansprüche gegenüber der Beklagten geltend zu machen. Die so begründete außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses erscheint in Anbetracht der Position des Klägers als Leiter des Finanzbereichs (mit überwiegender Wahrscheinlichkeit) nicht als offenkundig unbegründet oder maßregelnd i.S.v. § 612 a BGB.
Das Gleiche gilt für die Frage, ob der Kläger leitender Angestellter i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG ist mit der Folge, dass die Wirksamkeit der Kündigung nicht aus der unterbliebenen Anhörung des Betriebsrates folgt (§ 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG). Schließlich ist auch die Versäumung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB durch die Beklagte bei Ausspruch der Kündigung vom 05.08.2002 nicht offenkundig. Die Kündigung ging dem Kläger am 08.08.2002 zu. Der Kläger meint, dem Geschäftsführer der Beklagten sei der Kündigungssachverhalt bereits mit Zugang des klägerischen Schreibens vom 18.07.2002 spätestens am 19.07.2002 bekannt gewesen. Dem insoweit maßgeblichen Vorbringen der Beklagten lässt sich indessen nicht entnehmen, dass der Kündigungssachverhalt ihr bereits mehr als 2 Wochen vor Zugang der Kündigung bekannt gewesen wäre. Zwar ist unstreitig, dass die Beklagte das Schreiben der Klägervertreter vom 18.07.2002 am 19.07. 2002 erhalten hat. Diesem Schreiben lassen sich jedoch nicht sämtliche von der Beklagten für die Begründung der Kündigung angeführten Umstände entnehmen, insbesondere nicht die an die Aufsichtsratsmitglieder K und S der Fa. gerichteten Schreiben des Klägers.
c)
Ist nach alledem mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Kündigung der Beklagten vom 05.08.2002 nicht offenkundig unwirksam i.S.d. Rechtsprechung des BAG ist, bestand auch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den nachträglichen Untergang des vom Arbeitsgericht titulierten vorläufigen Weiterbeschäftigungsanspruchs. Die Zwangsvollstreckung aus dem vorläufig vollstreckbaren Titel war somit in entsprechender Anwendung von § 769 ZPO einstweilen einzustellen.
Ende der Entscheidung
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