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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 01.03.2000
Aktenzeichen: 17 TaBV 2/99
Rechtsgebiete: ArbGG, BetrVG


Vorschriften:

ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 2
ArbGG § 87 Abs. 1
ArbGG § 92 Abs. 1
BetrVG § 19
BetrVG § 27 Abs. 1 Satz 5
BetrVG § 27 Abs. 2 Satz 5
BetrVG § 38
BetrVG § 38 Abs. 2 Satz 1
BetrVG § 38 Abs. 2 Satz 2
BetrVG § 38 Abs. 2 Satz 10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
17 TaBV 2/99

verkündet am 01.03.2000

In dem Beschlussverfahren

pp.

hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 17. Kammer - durch die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Dr. Auweter, die ehrenamtliche Richterin Kohler und den ehrenamtlichen Richter Dr. Krautwald auf die Anhörung der Beteiligten am 01.03.2000

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Beschwerde des Beteiligten Ziffer 7 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 10.11.1999 - Az: 2 BV 35/99 - wird zurückgewiesen.

2. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen

Gründe:

A. Die Beteiligten streiten darüber, ob nach der Abberufung eines im Wege der Verhältniswahl freigestellten Betriebsratsmitglieds die Neuwahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder in Verhältniswahl zu erfolgen hat, oder ob die Auswahl nur eines freizustellenden Betriebsratsmitglieds im Wege der Mehrheitswahl erfolgt.

Die Arbeitgeberin (Beteiligte Ziff. 8) beschäftigt ca. 260 Arbeiter, 5.400 Angestellte und 100 leitende Angestellte, die einen aus 29 Mitgliedern bestehenden Betriebsrat (Antragsgegner und Beteiligter Ziff. 7) gewählt haben. 22 Betriebsratsmitglieder gehören der "Fraktion KKK" an, die 7 ursprünglichen Antragsteller, von denen einer bereits im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens aus dem Arbeitsverhältnis mit der Arbeitgeberin ausgeschieden ist, sind über die Liste der IG Metall in den Betriebsrat gewählt worden. Im Juni 1998 vereinbarte die Arbeitgeberin mit dem Betriebsrat, die Anzahl der freizustellenden Betriebsräte auf fünf zu reduzieren (Betriebsvereinbarung vom 17.06.1998, Anlage 1, ABl. 11 d. erstinstanzl. Akte). Nach den Grundsätzen der Verhältniswahl wurden am 17.06.1998 drei Betriebsratsmitglieder aus der "KKK-Liste" und zwei Betriebsratsmitglieder aus der "IG Metall-Liste" freigestellt. In der Folgezeit schied ein Betriebsratsmitglied der "IG Metall-Fraktion" aus, ein weiteres, freigestelltes Betriebsratsmitglied der "IG Metall-Fraktion" trat aus der Gewerkschaft aus und schloss sich der "Fraktion KKK" an. In der Betriebsratssitzung vom 03.02.1999 wurde die Antragstellerin E. U. (Beteiligte Ziff. 6) in geheimer Wahl mit einem Stimmenverhältnis von 22 zu 7 als freigestelltes Betriebsratsmitglied abberufen. In der Betriebsratssitzung vom 24.02.1999 wurde das Betriebsratsmitglied K.-H. B., das der "Fraktion KKK" angehört, zur Freistellung vorgeschlagen und mit 17 zu 7 Stimmen gewählt. Der Antrag der "IG Metall-Fraktion", die Beteiligte Ziff. 6 erneut freizustellen, hatte keinen Erfolg.

Die Antragsteller sind der Auffassung, dass nach der Abberufung eines Betriebsratsmitglieds, dessen Freistellung in Verhältniswahl erfolgte, zum Schutz der Minderheitsfraktion die Neuwahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder im Wege der Verhältniswahl zu erfolgen habe. Mit am 09.03.1999 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz haben sie beantragt, den Beschluss des Betriebsrats vom 24.02.1999 über die Freistellung des K.-H. B. für unwirksam zu erklären.

Der Betriebsrat hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 10.11.1999, der dem Betriebsrat am 11.11.1999 zugestellt wurde, hat das Arbeitsgericht den Beschluss des Betriebsrats vom 24.02.1999 für unwirksam erklärt. Auf die Begründung (ABl. 54 - 56 d. erstinstanzl. Akte) wird Bezug genommen.

Hiergegen wendet sich der Betriebsrat mit der am 10.12.1999 eingelegten und am 10.01.2000 begründeten Beschwerde, die im Wesentlichen ausführt, dass der Minderheitenschutz bei der Freistellung von Betriebsratsmitgliedern im Wege der Verhältniswahl ausreichend dadurch gesichert sei, dass es einer Dreiviertelmehrheit zu deren Abberufung bedarf. Er beruft sich auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 28.10.1992 (7 ABR 2/92, AP Nr. 16 zu § 38 BetrVG 1972, NZA 1993, 910), in der das Bundesarbeitsgericht sogar in einem Fall, in dem die freigestellten Betriebsratsmitglieder nicht abgewählt worden, sondern anderweitig ausgeschieden waren (Verzicht, Altersbedingtes Ausscheiden), die Neuwahl der beiden freizustellenden Betriebsratsmitglieder jeweils im Wege der Mehrheitswahl gebilligt hat. Der Betriebsrat beantragt daher den Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 10.11.1999 - 2 BV 35/99 - abzuändern und den Antrag abzuweisen.

Die Beteiligten Ziff. 2, 5, 6, 9 und 10 beantragen die Zurückweisung der Berufung. Von den Antragstellern sind die Beteiligten Ziff. 1, 3, 4 per 01.11.1999 durch Betriebsteilübergang bei der Arbeitgeberin ausgeschieden. Nachgerückt sind die Beteiligten Ziff. 9 und 10.

B. Die gemäß § 87 Abs. 1 ArbGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde (§§ 89, 87 Abs. 2, 66 Abs. 1 ArbGG) ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat den Beschluss des Betriebsrats vom 24.02.1999 über die Freistellung des K.-H. B. zu Recht für unwirksam erklärt.

I.

Die Antragsteller sind als Mitglieder des Betriebsrats anfechtungsbefugt. Die Beteiligten Ziff. 9 und 10 sind für die bei der Arbeitgeberin aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedenen Beteiligten Ziff. 1 und 3 in den Betriebsrat nachgerückt.

Die Wahl eines freizustellenden Betriebsratsmitglieds ist analog § 19 BetrVG innerhalb von zwei Wochen anfechtbar, wenn gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen wurde, es sei denn dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht beeinflusst werden konnte.

Der Beschluss vom 24.02.1999 wurde mit beim Arbeitsgericht am 09.03.1999 eingegangenem Antrag angefochten. Die Frage, ob im Wege der Verhältniswahl alle freizustellenden Betriebsratsmitglieder neu gewählt werden, oder ob die Nachwahl nur eines Freizustellenden durch Mehrheitswahl erfolgt, betrifft wesentlich Vorschriften über das Wahlverfahren. Ein anderes Ergebnis bei der Neuwahl aller Freizustellenden im Wege der Verhältniswahl kann nicht ausgeschlossen werden, auch wenn die "IG Metall-Fraktion" inzwischen nur noch aus fünf Betriebsratsmitgliedern besteht.

II.

Die Nachwahl des Betriebsratsmitglieds K.-H. B. ist unzulässig.

1. Dies ergibt sich allerdings nicht schon deshalb, weil ein bei der ursprünglichen Freistellungswahl nicht zum Zuge gekommenes Mitglied der "IG Metall-Liste" hätte nachrücken können. Die "IG Metall-Liste" für die Freistellungen war nämlich erschöpft.

2. Die Freistellungsnachwahl hat durch Neuwahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu erfolgen, wenn auch die ursprünglich freigestellten Betriebsratsmitglieder gemäß § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wurden.

a) Die Frage, wie gewählt wird, wenn die Freistellung eines Betriebsratsmitglieds vorzeitig endet, ist im Betriebsverfassungsgesetz nicht ausdrücklich geregelt. § 38 Abs. 2 Satz 1, 2 BetrVG betreffen unmittelbar nur die erstmalige Freistellungswahl: Mehrere freizustellende Betriebsratsmitglieder werden nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt; wird nur ein Wahlvorschlag gemacht, erfolgt die Wahl nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl. Auch die Abberufung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds ist geregelt. Sie erfolgt durch Betriebsratsbeschluss mit einer Mehrheit von drei Viertel der Stimmen der Mitglieder des Betriebsrats, wenn die Freigestellten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wurden, andernfalls nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl (§ 38 Abs. 2 Satz 10 i. V. m. § 27 Abs. 1 Satz 5, Abs. 2 Satz 5 BetrVG). In der Literatur ist der Wahlmodus bei Freistellungsnachwahlen umstritten.

(1) Dass bei ursprünglicher Verhältniswahl sämtliche freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl neu zu wählen seien, wird vertreten von Fitting/Kaiser/Heither/Engels (19. Aufl. 1998, § 38 Rdnr. 55 f.), Wiese (Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 6. Aufl. 1997, § 38 Rdnr. 70) und Richardi (BetrVG, 7. Aufl. 1998, § 38 Rdnr. 55). Begründet wird diese Auffassung damit, dass ansonsten die Minderheit keine Chance hätte, wiederum den eigenen Vorschlag durchzubringen und der Minderheitenschutz so unterlaufen würde.

(2) Demgegenüber soll nach anderer Auffassung eine Mehrheitswahl auch dann ausreichen, wenn ursprünglich nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wurde (Dänzer-Vanotti, AuR 1989, 204; Blanke, in Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, BetrVG 1997, § 38 Rdnr. 59; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG 4. Aufl. 1993, § 38 Rdnr. 30; Weiss/Weyand, BetrVG 1994, § 38 Rdnr. 16; LAG Frankfurt, Beschluss v. 04.03.1993, 12 TaBV 142/92, AiB 1993, 655).

(3) Das Bundesarbeitsgericht hat sich 1992 (Beschluss v. 28.10.1992 - 7 ABR 2/92 - AP Nr. 16 zu § 38 BetrVG 1972, NZA 1993, 910) der letztgenannten Auffassung angeschlossen. Es hat dazu ausgeführt, dass das Betriebsverfassungsgesetz keinen absoluten Minderheitenschutz gewähre, was sich an der Regelung des § 38 Abs. 2 Satz 10 i. V. m. § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG zeige. Mit dem hierin geregelten Erfordernis einer Dreiviertelmehrheit bei der Abberufung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds werde allein (und damit hinreichend) der durch die Verhältniswahl begründete Minderheitenschutz abgesichert. Müssten dagegen die freizustellenden Betriebsratsmitglieder alle neu gewählt werden, sei die Regelung in § 38 Abs. 2 Satz 10 i. V. m. § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG überflüssig.

3. Die Kammer folgt ebenso wie das Arbeitsgericht der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht. Grundsätzlich ist dem Bundesarbeitsgericht allerdings darin zuzustimmen, dass das Betriebsverfassungsgesetz keinen absoluten Minderheitenschutz kennt. Sicher kann man sich auch fragen, ob bei der Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder der Minderheitenschutz Vorrang vor anderen Sachgesichtspunkten (Eignung, Verfügbarkeit des Freizustellenden) haben soll. Insoweit hat jedoch der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, indem er durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montanmitbestimmung vom 20.10.1988 (BGBl. I, 2312) die Verhältniswahl auch bei Freistellungen eingeführt hat. Dadurch soll auch den Minderheiten ein stärkerer Einfluss auf die Betriebsratsarbeit ermöglicht werden. Dieser Minderheitenschutz muss auch bestehen bleiben, wenn einzelne freigestellte Betriebsratsmitglieder ausscheiden.

a) Die Argumentation des Bundesarbeitsgerichts beruht auf der Überlegung, dass § 38 Abs. 2 Satz 10 i. V. m. § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG allein dem mit der Verhältniswahl verbundenen Minderheitenschutz dient. Möglicherweise hat der Gesetzgeber bei dieser Regelung tatsächlich nicht die Stärkung der persönlichen Rechtsstellung des Freigestellten gegenüber dem Betriebsrat vor Augen gehabt, denn dann hätte er auch die Abberufung eines durch Mehrheitswahl freigestellten Betriebsrats einer qualifizierten Mehrheit unterwerfen müssen (BAG, Beschluss v. 29.04.1992 - 7 ABR 74/91 - AP Nr. 15 zu § 38 BetrVG 1972, NZA 1993, 329). Die Abberufung über eine qualifizierte Mehrheit gewährleistet allerdings auch eine größere Kontinuität in der Betriebsratsarbeit des freigestellten Minderheitsbetriebsrats. Da gerade freigestellte Betriebsratsmitglieder in der Regel umfangreichere und längerfristig angelegte Betriebsratsarbeit übernehmen, würde eine Abberufung mit einfacher Mehrheit der sachgemäßen Erledigung solcher Aufgaben nicht gerecht, weil man nicht immer davon ausgehen kann, dass auch bei der Neuwahl aller freizustellenden Betriebsräte dieselben Personen erneut freigestellt werden. Für einen im Wege der Mehrheitswahl bestimmten Freigestellten bedarf es diesbezüglich deshalb keiner besonderen Regelung, weil er sich ohnehin auf die Mehrheit des Betriebsrats stützen kann.

b) Außerdem geht auch das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass der in § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG angeordnete Minderheitenschutz "nicht dadurch ausgehöhlt werden (soll), dass ein zunächst nach den Grundsätzen der Verhältniswahl aus einer Minderheitenliste gewähltes Betriebsratsmitglied später mit einfacher Stimmenmehrheit des Betriebsrats abberufen und durch ein anderes Betriebsratsmitglied ersetzt wird." Der vorliegende Fall macht jedoch deutlich, dass der mit § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG bezweckte Minderheitenschutz auch durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit von drei Viertel der Stimmen des Betriebsrats bei der Abberufung eines Freigestellten nicht hinreichend gewährleistet ist. Denn er kann ohne Änderung der bei der ursprünglichen Freistellungswahl bestehenden Mehrheitsverhältnisse unterlaufen werden: Die Betriebsratsmehrheit hätte im vorliegenden Fall unmittelbar nach der Freistellungswahl die beiden Freigestellten der "IG Metall-Liste" jeweils mit einer qualifizierten Mehrheit von 22 zu 7 Stimmen abwählen und durch Mitglieder der "KKK-Fraktion" ersetzen können. Wie Fitting/Kaiser/Heither/Engels (a. a. O.) zu Recht hervorheben, "kann dem Gesetzgeber schlechterdings nicht unterstellt werden, dass er den Minderheitenschutz auf der einen Seite durch Einführung der Verhältniswahl verstärken, auf der anderen Seite jedoch eine Regelung zulassen wollte, die bei gleichbleibenden Mehrheitsverhältnissen den neu geschaffenen Minderheitenschutz konterkariert." Allein unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs lässt sich die Handlungsmöglichkeit der Betriebsratsmehrheit nicht einschränken.

c) Die im Gesetz nicht ausdrücklich geregelte Nachwahl bei Ausscheiden einzelner freigestellter Betriebsratsmitglieder hat deshalb in der Weise zu erfolgen, dass sie dem vom Gesetzgeber eindeutig in § 38 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gewollten Minderheitenschutz am ehesten gerecht wird. Dieser ist aber nur durch Neuwahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder gewährleistet.

III.

Daraus folgt, dass der Beschluss des Betriebsrats vom 24.02.1999 unwirksam war. Die Beschwerde des Betriebsrats war daher zurückzuweisen. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde beruht auf § 92 Abs. 1 i. V. m. § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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