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Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 28.11.2005
Aktenzeichen: 4 Sa 48/05
Rechtsgebiete: BGB, KSchG, ArbGG, ZPO, BGB
Vorschriften:
BGB § 613a | |
BGB § 613a Abs. 4 | |
KSchG § 1 | |
KSchG § 1 Abs. 2 | |
KSchG § 1 Abs. 3 | |
KSchG § 1 Abs. 3 Satz 1 | |
KSchG § 6 | |
KSchG § 6 Satz 1 | |
KSchG § 17 | |
KSchG § 17 Abs. 1 | |
KSchG § 17 Abs. 1 Ziff. 1 | |
KSchG § 18 | |
ArbGG § 56 Abs. 2 | |
ArbGG § 61 a Abs. 5 | |
ArbGG § 64 Abs. 2 Buchst. c | |
ArbGG § 64 Abs. 6 | |
ArbGG § 67 Abs. 3 | |
ArbGG § 67 Abs. 4 | |
ZPO § 519 | |
ZPO § 520 | |
BGB § 622 Abs. 2 Ziff. 2 |
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Im Namen des Volkes Urteil
Aktenzeichen: 4 Sa 48/05
Verkündet am 28.11.2005
In dem Rechtsstreit
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 4. Kammer - durch den Vizepräsidenten des Landesarbeitsgerichts Dr. Natter, den ehrenamtlichen Richter Killet und den ehrenamtlichen Richter Kübler auf die mündliche Verhandlung vom 28.11.2005
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart - Kammern Aalen - vom 29.06.2005 - 8 Ca 258/04 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.
3. Die Revision wird zugelassen.
Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis zwischen ihnen aufgrund der ordentlichen Kündigung der Beklagten vom 26.04.2004 mit Ablauf des 30.06.2004 geendet hat.
Der am 13.04.1968 geborene, verheiratete und zwei Kindern unterhaltspflichtige Kläger war - jedenfalls - seit 01.10.1998 bei der Beklagten beschäftigt. Seine Bruttomonatsvergütung belief sich zuletzt auf € 2.950,00 (Angabe des Klägers) bzw. € 2.060,00 (Angabe der Beklagten). Dem Arbeitsverhältnis liegt ein Arbeitsvertrag vom 01.10.1998 zugrunde, den der Kläger mit der bei Vertragsabschluss in E. (Sachsen), später in L. ansässigen Beklagten abgeschlossen hatte.
Die Beklagte befasste sich mit der industriellen Herstellung und Montage von Büromöbeln. In ihren zwei Niederlassungen in L. und in E. beschäftigte sie 27 bzw. 61 Arbeitnehmer. Der Kläger war ausschließlich in der Niederlassung in L. als Fahrer tätig.
Am 21.04.2004 beschloss der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten, die Gesellschaft (wohl richtig: den Betrieb) zum 30.06.2004 stillzulegen und die Gesellschaft zum 01.05.2004 aufzulösen. Der Geschäftsführer wurde zum alleinigen Liquidator bestellt. Die Beklagte kündigte daraufhin den bestehenden Vertriebsvertrag mit der Firma R. Office GmbH mit Schreiben vom 21.04.2004. Des weiteren kündigte sie den bestehenden Mietvertrag, die Räumlichkeiten in L. betreffend, mit Schreiben vom 21.04.2004 an die Firma Industriepark R. GmbH & Co. KG zum 30.06.2004. Schließlich kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 21.04.2004 gegenüber der Firma G R. GmbH & Co. KG in E. einen Pachtvertrag und diverse Pachtverträge, die Überlassung von Betriebseinrichtungen betreffend, zum 30.06.2004. Am 23.04.2004 beschloss die Gesellschafterversammlung die Arbeitsverhältnisse mit den Arbeitnehmern zum frühest möglichen Zeitpunkt zu kündigen.
Die Beklagte stellte die Produktion in der Niederlassung L. zum 30.06.2004 ein. Hinsichtlich der Niederlassung in E. führte die Beklagte am 05.07.2004 mit dem dortigen Betriebsleiter, Herrn J.-P. L. , am 05.07.2004 ein Erstgespräch betreffend die Fortführung der Betriebsstätte. Herr L. gründete die Firma Büromöbelwerk E. GmbH, E.. Diese führt die Betriebsstätte seit 12.07.2004 weiter.
Mit Schreiben vom 29.04.2004 unterrichtete die Beklagte die Agentur für Arbeit A. über die beabsichtigte Entlassung von 27 Arbeitnehmern. Die Anzeige ging am 30.04.2004 bei der Agentur für Arbeit ein. Mit Schreiben vom 03.05.2004 nahm die Agentur für Arbeit von der geplanten Massenentlassung Kenntnis.
Mit Schreiben vom 26.04.2004, dem Kläger zugegangen am 27.04.2004, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30.06.2004.
Mit seiner am 07.04.2004 eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung gewandt. Er hat vorgetragen, die Kündigung vom 26.04.2004 sei sozial ungerechtfertigt.
Darüber hinaus sei die Kündigungsfrist nicht eingehalten. Er sei Arbeitnehmer des Büromöbelwerks R. GmbH in E. . Eine Betriebsstilllegung habe nicht stattgefunden. Der Firmensitz sei in E. und bestehe dort nach wie vor.
Der Kläger hat beantragt:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die ordentliche Kündigung vom 26.04.2004, zugestellt am 27.04.2004, nicht zum 30.06.2004 beendet worden ist, sondern über den 30.06.2004 hinaus fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, Grund für die Kündigung sei die beabsichtigte und tatsächlich durchgeführte Betriebsstilllegung. Die Betriebsstätte in E. werde durch eine andere Firma fortgeführt. Davon sei der in L. tätige Kläger nicht betroffen.
Mit Urteil vom 29.06.2005 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Kündigung vom 26.04.2004 sei wegen Stilllegung des Betriebs in L. sozial gerechtfertigt. Sie sei auch nicht wegen eines Betriebsübergangs unwirksam. Selbst wenn der Betrieb in E. gemäß § 613a BGB von der Beklagten auf das Büromöbelwerk E. GmbH übergegangen sei, so sei der (Teil)Betrieb in L. hiervon nicht betroffen. Der Kläger habe dem (Teil)Betrieb in E. unstreitig nicht angehört. Somit habe das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der zutreffenden Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Monatsende am 30.06.2004 geendet. Für eine Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten bei anderen R. - Firmen habe der Kläger nichts Konkretes vorgetragen.
Gegen das ihm am 05.07.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 05.08.2005 Berufung eingelegt und diese am 05.09.2005 begründet. Er trägt vor, das Arbeitsgericht sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass das Arbeitsverhältnis erst am 01.10.1998 zustande gekommen sei. Er sei seit 01.09.1991 in unterschiedlichen Firmen im Betrieb der Beklagten beschäftigt gewesen, und zwar als Fahrer. Der Betrieb in E. sei tatsächlich nicht stillgelegt worden. Es sei mehr als unverständlich, weshalb die Kammer davon ausgegangen sei, dass es eine Betriebsstätte in L. und eine Betriebsstätte in E. gegeben habe. Zumindest der Teilbetrieb in E. sei auf den damaligen Betriebsleiter Herrn L. durch Betriebsübergang übergegangen. Wenn das Arbeitsverhältnis erst seit 01.10.1998 begründet worden sei, dann sei folgerichtig anzunehmen, dass er im Teilbetrieb E. beschäftigt gewesen sei. Im Übrigen habe die Beklagte die Massenentlassungsanzeige nicht bzw. nicht ordnungsgemäß angezeigt.
Der Kläger beantragt:
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart - Kammern Aalen -, Aktenzeichen 8 Ca 258/04, vom 29.06.2005, zugestellt am 05.07.2005, wird aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 26.04.2004 nicht zum 30.06.2004 aufgelöst wird, sondern über den 30.06.2004 hinaus fortbesteht.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie trägt vor, der Kläger sei nicht bei ihr seit 01.09.1991 beschäftigt gewesen. Die Ausführungen des Klägers, die Betriebsstätten in L. und E. betreffend, seien nicht nachvollziehbar. Der Kläger vermenge Arbeitgeberstellung und Betriebsstätten. Soweit sich der Kläger erstmals in der Berufungsinstanz auf eine nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige berufe, so werde auf § 6 KSchG verwiesen. Lediglich hilfsweise führe sie aus, dass die Bundesagentur für Arbeit der Massenentlassung mit Bescheid vom 03.05.2004 zugestimmt habe.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle über die mündlichen Verhandlungen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Berufung des Klägers ist gemäß § 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG statthaft. Sie ist auch gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden.
II.
Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der ordentlichen Kündigung der Beklagten vom 26.04.2004 zum Ablauf des 30.06.2004 geendet hat.
1. Die Kündigung vom 26.04.2004 ist weder sozialwidrig im Sinne vom § 1 Abs. 2 und 3 KSchG noch verstößt sie gegen § 613 a Abs. 4 BGB.
a) Das Arbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Kündigung vom 26.04.2004 aufgrund der Stilllegung des Betriebs in L. sozial gerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG ist. Wie der Kläger in der Berufungsverhandlung nochmals ausdrücklich bestätigt hat, hat die Beklagte die Herstellung und Montage von Büromöbeln in L. eingestellt. Unstreitig ist der Betrieb in L. geschlossen. Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem zum Zeitpunkt der Kündigung freien oder absehbar im Laufe der Kündigungsfrist frei werdenden Arbeitsplatz im Betrieb oder Unternehmen zu denselben oder auch zu geänderten Arbeitsbedingungen hat der Kläger nicht dargelegt (dazu zuletzt BAG, 21.04.2005 - 2 AZR 132/04 - NZA 2005, 1289).
Schließlich ist auch fehlerhafte Sozialauswahl nicht ersichtlich. Da die Niederlassung in L. insgesamt geschlossen wurde, scheidet eine Sozialauswahl unter den Arbeitnehmern in dieser Niederlassung naturgemäß aus. Unterstellt man, dass die Niederlassung in E. nicht stillgelegt wurde (dazu unten b)), so ist das Ergebnis kein anderes. Sollte es sich bei beiden Niederlassungen um unterschiedliche Betriebe gehandelt haben (wofür angesichts der räumlichen Entfernung vieles spricht), so schied eine Sozialauswahl schon deswegen aus, weil die soziale Auswahl betriebsbezogen ist (zuletzt BAG, 02.06.2005 - 2 AZR 158/04 - NZA 2005, 1175). Geht man davon aus, dass die Niederlassungen in L. und E. lediglich Betriebsteile eines Betriebs waren, und unterstellt man weiter, dass die Beklagte eine Teilbetriebsstilllegung in L. und einen Teilbetriebsübergang in E. beabsichtigte, so wäre zwar an sich eine auf beide Betriebsteile bezogene Sozialauswahl durchzuführen gewesen (BAG, 28.10.2004 - 8 AZR 391/03 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 69). In diesem Fall wäre es jedoch nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungs- und Beweislast (vgl. BAG, 05.12.2002 - 2 AZR 697/01 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 60) die Sache des Klägers gewesen, seine Vergleichbarkeit mit anderen Arbeitnehmern näher darzulegen. Denn mit ihrem Vorbringen, es sei keine Sozialauswahl vorzunehmen, hatte die Beklagte von ihrem Rechtsstandpunkt aus konsequent ihrer Auskunftspflicht nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zunächst genügt.
b) Die Kündigung vom 26.04.2004 ist auch nicht gemäß § 613 a Abs. 4 BGB unwirksam. Dies gilt selbst dann, wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass bereits im Zeitpunkt der Kündigung ein Teilbetriebsübergang der Niederlassung in E. auf die Firma Büromöbelwerk E. GmbH beabsichtigt war. Geht nur ein Betriebsteil auf einen Erwerber gemäß § 613 a BGB über, so kommt es entscheidend darauf an, ob der Arbeitnehmer dem übertragenen Betriebsteil angehört (vgl. nur BAG, 13.02.2003 - 8 AZR 102/02 - AP BGB § 613 a Nr. 245). Unstreitig war der Kläger jedoch zu keinem Zeitpunkt in der Niederlassung in E. tätig. An seiner Zuordnung zur Niederlassung in L. ändert sich auch nichts daran, dass der Arbeitsvertrag vom 01.10.1998 mit der damals noch in E. ansässigen Beklagten abgeschlossen wurde und in diesem Arbeitsvertrag E. als Erfüllungsort angegeben war. Da der Kläger zu keinem Zeitpunkt in der Niederlassung in E. tätig war, hat die Beklagte entgegen der den Gerichtsstand betreffenden Erfüllungsortvereinbarung die Entscheidung getroffen, den Kläger der Niederlassung in L. zuzuordnen. Hieraus folgt, dass der Kläger von einem etwaigen Teilbetriebsübergang der Niederlassung in E. nicht erfasst worden wäre.
2. Das Arbeitsgericht hat die maßgebende Kündigungsfrist gemäß § 622 Abs. 2 Ziff. 2 BGB zutreffend mit zwei Monaten zum Monatsende bemessen. Der Kläger hat zwar seine Zugehörigkeit zu einem Unternehmen der R. -Gruppe bereits seit 01.09.1991 behauptet. Er hat jedoch nicht konkret vorgetragen, dass entweder eine Vereinbarung über die Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten getroffen wurde oder die früheren Arbeitsverhältnisse im Wege des Betriebsübergangs auf die Beklagte übergegangen sind. Somit ist davon auszugehen, dass das Arbeitsverhältnis erst seit 01.10.1998 mit der Beklagten bestand.
3. Die Kündigung vom 26.04.2004 ist schließlich auch nicht wegen eines Verstoßes gegen § 17 KSchG unwirksam.
a) Die Beklagte war verpflichtet, gemäß § 17 Abs. 1 Ziff. 1 KSchG der Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Die Zahl der in der Niederlassung L. beschäftigten Arbeitnehmer betrug mehr als 20. Die Beklagte entließ dort aufgrund eines einheitlichen Entschlusses insgesamt 27 Arbeitnehmer, und zwar zum 31.05.2004 12 Arbeitnehmer und zum 30.06.2004 15 Arbeitnehmer, also jeweils mehr als die geforderten 5 Arbeitnehmer. Wie aus dem vorgelegten Schreiben der Bundesagentur für Arbeit vom 03.05.2004 hervorgeht, erstattete die Beklagte am 29.04.2004 die erforderliche Massenentlassungsanzeige.
b) Der Kläger hat erstmalig in der Berufungsbegründungsschrift geltend gemacht, die Beklagte habe die Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erstattet. Wie sich in der Berufungsverhandlung ergeben hat, will der Kläger sich damit darauf berufen, die Beklagte habe die Massenentlassung entgegen der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht vor Ausspruch der Kündigung vom 26.04.2004 bei der Agentur für Arbeit angezeigt. Mit dieser Rüge dringt der Kläger im Ergebnis nicht durch.
aa) Zugunsten des Klägers kann angenommen werden, dass die Rüge der nicht ordnungsgemäßen Entlassungsanzeige nicht verspätet ist. Ein Verstoß gegen die prozessualen Präklusionsvorschriften liegt nicht vor. Der Kläger hat die Rüge gemäß § 67 Abs. 4 ArbGG in der Berufungsbegründung vorgebracht. Das neue Vorbringen war auch gemäß § 67 Abs. 3 ArbGG zuzulassen, weil eine Verzögerung des Rechtsstreits in zweiter Instanz durch das neue Vorbringen ersichtlich nicht eingetreten ist. Denn die Beklagte hat eingeräumt, dass sie die Massenentlassungsanzeige erst nach Ausspruch und Zugang der Kündigung vom 26.04.2004, also im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verspätet erstattet hat.
Zugunsten des Klägers kann weiter angenommen werden, dass die in der zweiten Instanz erhobene Rüge auch nach § 6 KSchG zulässig ist. Hiernach kann sich der Arbeitnehmer nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz auf zunächst nicht innerhalb der Klagefrist geltend gemachte Unwirksamkeitsgründe berufen, wenn er rechtzeitig Kündigungsschutzklage erhoben hat. Welchen Anwendungsbereich die Vorschrift in ihrer Fassung aufgrund des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt seit 01.01.2004 hat, wird unterschiedlich beantwortet (Bader, NZA 2004, 65, 68; Quecke, RdA 2004, 86, 101; Bayreuther, ZfA 2005, 391; vgl. weiter BAG, 16.06.2005 - 2 AZR 451/04 - NZA 2005, 1109). Im vorliegenden Fall scheidet eine Präklusion des Rügerechts im Berufungsverfahren schon deswegen aus, weil das Arbeitsgericht den Kläger zwar auf die mögliche Präklusion nach § 56 Abs. 2 und § 61 a Abs. 5 ArbGG, nicht aber auf diejenige nach § 6 Satz 1 KSchG hingewiesen hat. Dies hat nach der heute überwiegenden Meinung zur Folge, dass sich der Kläger auch noch in der Berufungsinstanz auf weitere Unwirksamkeitsgründe berufen kann (Erfurter Kommentar - Ascheid, 6. Auflage, § 6 Rz 6; KR-Friedrich, 7. Auflage, § 6 Rz 38; Bader, NZA 2004, 65, 69).
bb) Versteht man unter "Entlassung" im Sinne des §§ 17 Abs. 1 KSchG die Kündigungserklärung, so hat die Beklagte die Massenentlassungsanzeige unstreitig verspätet erstattet. Das Bundesarbeitsgericht hat allerdings unter "Entlassung" die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden, die regelmäßig mit Ablauf der Kündigungsfrist eintrete (zuletzt BAG, 18.09.2003 - 2 AZR 79/02 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 14; BAG, 24.02.2005 - 2 AZR 207/04 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 20). Ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht bei Massenentlassungen führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, sondern lediglich zur Unwirksamkeit der Entlassung. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 27.01.2005 (C 188/03 - NZA 2005, 213) angenommen, die Art. 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 über Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen seien dahingehend auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt. Hieraus hat der Europäische Gerichtshof u.a. gefolgert, dass die Kündigung erst nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde erfolgen dürfe. Legt man § 17 KSchG in diesem Sinne europarechtskonform aus, so wäre die Kündigung der Beklagten vom 26.04.2004, zugegangen am folgenden Tag, unwirksam, weil die Massenentlassungsanzeige der Beklagten vom 29.04.2004 datiert.
c) Gleichwohl führt dieser Mangel nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung vom 26.04.2004. Hierbei bedarf die zwischenzeitlich aufgeworfene Frage keiner Entscheidung, ob die §§ 17, 18 KSchG einer europarechtskonformen Auslegung im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 überhaupt zugänglich sind. Denn nach Auffassung der Kammer ist der Beklagten jedenfalls Vertrauensschutz einzuräumen.
aa) In Rechtsprechung und Schrifttum ist derzeit streitig, ob dem Arbeitgeber in den sog. Altfällen Vertrauensschutz gewährt werden kann. Die wohl überwiegende Meinung hält das Vertrauen der Arbeitgeber für schutzwürdig (LAG Köln, 25.02.2005 - 11 Sa 767/04 - NZA-RR 2005, 470; ArbG Lörrach, 24.03.2005 - 2 Ca 496/04 - NZA 2005, 484; ArbG Krefeld, 14.04.2005 - 1 Ca 3731/04 - NZA 2005, 383; LAG Hessen, 20.04.2005 - 6 Sa 2279/04 - NZA-RR 2005, 522; LAG Berlin, 27.04.2005 - 17 Sa 2646/04 - NZA-RR 2005, 412; LAG Köln, 10.05.2005 -1 Sa 1510/04 - LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 50; ArbG Karlsruhe, 17.05.2005 - 6 Ca 361/04 - abrufbar unter "www.lag-baden-wuerttemberg.de"; LAG Hamm, 08.07.2005 - 7 Sa 512/05 - NZA-RR 2005, 578; LAG Baden-Württemberg, 01.09.2005 - 11 Sa 42/05 - abrufbar unter "www.lag-baden-wuerttemberg.de"; Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445, 449; Braun, ArbRB 2005, 209); die Gegenmeinung sieht für einen Vertrauensschutz keinen Raum (ArbG Bochum, 17.03.2005 - 3 Ca 307/04 - AuR 2005, 232; ArbG Osnabrück, 08.06.2005 - 4 Ca 546/04 - NZA-RR 2005, 476; Appel, DB 2005, 1002, 1005; Osnabrügge, NJW 2005, 1093). Zur Begründung der zweiten Auffassung wird darauf verwiesen, einen Schutz gegen eine Rückwirkung der Rechtsprechung sei dem deutschen Recht - anders als bei Gesetzesänderungen - nicht zu entnehmen. Die Gerichte seien nicht an eine bestehende Rechtsprechung gebunden, wenn sich diese im Lichte neuerer Erkenntnisse oder veränderter Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweise.
bb) Nach Auffassung der Kammer bedarf es einer differenzierten Betrachtungsweise. Grundsätzlich erzeugen höchstrichterliche Urteile keine mit dem Gesetzesrecht vergleichbare Rechtsbindung. Sie unterliegen daher nicht den Einschränkungen hinsichtlich einer Rückwirkung, die für Gesetze gelten. Selbst an eine feststehende Rechtsprechung sind die Gerichte nicht gebunden, wenn sich diese im Lichte neuerer Erkenntnisse oder veränderter Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweist. Allerdings können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe Schranken der Rückwirkung aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben. Falls die von der Rückwirkung betroffene Partei mit der Fortgeltung der bisherigen Rechtslage rechnen durfte und dieses Interesse bei einer Abwägung mit den Belangen des Vertragspartners den Vorzug verdient, greift die Rückwirkung in rechtlich geschützte Positionen ein (BVerfG, 16.12.1981 - 1 BvR 898/79 u.a. - NJW 1983, 103; BGH, 29.02.1996 - IX ZR 153/95 - NJW 1996, 1467; BAG, 13.09.1983 - 3 AZR 537/82 - AP BetrAVG § 5 Nr. 11; BAG, 07.03.1995 - 3 AZR 383/94 - AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 26; BAG, 20.11.1990 - 3 AZR 573/89 - NZA 1991, 477; BAG, 18.11.2003 - 3 AZR 655/02 -zitiert nach JURIS). Für das Kündigungsschutzrecht im Besonderen hat das Bundesarbeitsgericht betreffend eine Änderung der Rechtsprechung zur Betriebsratsund Personalratsanhörung entschieden, die Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung sei dann geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung eine unzumutbare Härte bedeuten würde (BAG, 29.03.1984 - 2 AZR 429/83 (A) - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 31; BAG, 18.01.2001 - 2 AZR 616/99 - AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1).
cc) Nach diesen Grundsätzen ist das Vertrauen, das die Beklagte in die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung zu § 17 KSchG gesetzt hat, schutzwürdig. Die Beklagte hatte sich an einer langjährigen Rechtsprechung orientiert, an der die Arbeitsämter bzw. Agenturen für Arbeit ebenso langjährig ihre Verwaltungspraxis ausgerichtet hatten. Bereits im Jahr 1963 hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden, die Massenentlassungsanzeige sei erst vor der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erstatten (BAG, 03.10.1963 - 2 AZR 160/63 -AP KSchG § 15 Nr. 9 und seitdem vielfach). Es gab bis zum Jahr 2003 keine Anhaltspunkte dafür, die Arbeitsgerichte würden im Lichte besserer Erkenntnisse oder gewandelter Rechtsanschauungen von der bisherigen Rechtsprechung abweichen. Auch der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30.04.2003 (36 Ca 19726/02 - ZIP 2003, 1269) gab keine Veranlassung, vorsorglich eine Rechtsprechungsänderung in Betracht zu ziehen. Denn in seinem Urteil vom 18.09.2003 (a.a.O.) hatte das Bundesarbeitsgericht seine bisherige Rechtsprechung nochmals ausführlich begründet. Ob die Schlussanträge des Generalanwalts vom 30.09.2004 den Vertrauensschutz entfallen ließen, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, weil die streitige Kündigung vom 26.04.2004 datiert. Zusammenfassend ist festzustellen, dass es im Zeitpunkt der Kündigung weder eine gewandelte Wertanschauung noch neue Erkenntnisse gab, die eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung erwarten ließen.
Es stellt des weiteren eine unzumutbare Härte dar, wenn der Beklagten nachträglich eine Handlungspflicht auferlegt würde, die sie nachträglich nicht erfüllen kann, zweifellos aber erfüllt hätte, wenn ihr das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 bekannt gewesen wäre. Die Handlungspflicht betraf eine Norm, die in erster Linie arbeitsmarktpolitische Zwecke verfolgt, also nicht primär dem individuellen Kündigungsschutz dient (zuletzt BAG, 24.02.2005, a.a.O.). Die Beklagte wäre, obwohl ihre Kündigung ansonsten in jeglicher Hinsicht rechtswirksam ist, ganz erheblichen Verzugsansprüchen ausgesetzt. Die Beklagte hätte zwar nach dem Bekanntwerden des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 vorsorglich eine erneute Massenentlassungsanzeige erstatten und eine Folgekündigung aussprechen können. Dies wäre jedoch angesichts des vorwiegend arbeitsmarktpolitischen Schutzzwecks der §§ 17, 18 KSchG eine leere Formalie gewesen. Denn die Arbeitsverhältnisse mit den gekündigten Mitarbeitern waren im Zeitpunkt der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bereits mehr als ein halbes Jahr beendet. Der mit den Vorschriften verfolgte Zweck, die Arbeitsverwaltung rechtzeitig über eine beabsichtigte Massenentlassung zu informieren, damit sie rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit ergreifen kann, hätte nicht mehr erfüllt werden können.
dd) Der hier vertretenen Auffassung steht auch nicht das von den Vertretern der Gegenmeinung vorgebrachte Argument entgegen, der Europäische Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 27.01.2001 die zeitliche Geltung seines Urteils nicht eingeschränkt; in anderen Zusammenhängen habe der Europäische Gerichtshof hingegen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Zutreffend ist, dass der Europäische Gerichtshof etwa im Fall B (Urteil vom 17.05.1990 - C 262/88 - NZA 1990, 775) die zeitliche Geltung seiner Rechtsprechung eingeschränkt hat, was die Anwendung des Art. 119 EWGV im Betriebsrentenrecht angeht. Von der hier vorliegenden Fallgestaltung unterschied sich der damalige Fall jedoch dadurch, dass es nicht um einen Konflikt zwischen der europäischen und einer nationalen Rechtsordnung ging. Die Frage, ob in den sog. Altfällen Vertrauensschutz gewährt werden könne, ist allein aufgrund einer Norm der deutschen Rechtsordnung entstanden, die in ihrer bisherigen Auslegung durch die Rechtsprechung im Widerspruch zum europäischen Recht steht. Deswegen ist allein nach den Regeln des nationalen Rechts zu beurteilen, ob ausnahmsweise das Vertrauen in die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung als schutzwürdig anzusehen ist. Der Europäische Gerichtshof musste sich mit dieser Fragestellung nicht befassen.
III.
Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu tragen. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG.
Ende der Entscheidung
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