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Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 09.01.2006
Aktenzeichen: 4 Sa 55/05
Rechtsgebiete: BetrVG, KSchG, InsO, ZPO, ArbGG, BGB
Vorschriften:
BetrVG § 102 | |
BetrVG § 102 Abs. 1 | |
BetrVG § 102 Abs. 1 Satz 3 | |
KSchG § 1 | |
KSchG § 1 Abs. 2 | |
KSchG § 17 | |
KSchG § 17 Abs. 1 | |
KSchG § 17 Abs. 1 Ziff. 1 | |
KSchG § 18 | |
KSchG § 18 Abs. 4 | |
InsO § 113 Satz 2 | |
InsO § 125 | |
InsO § 125 Abs. 1 | |
ZPO § 138 Abs. 4 | |
ZPO § 313 Abs. 2 Satz 2 | |
ZPO § 519 | |
ZPO § 520 | |
ArbGG § 64 Abs. 2 Buchst. c | |
ArbGG § 64 Abs. 6 | |
BGB § 130 Abs. 1 |
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Im Namen des Volkes Urteil
Aktenzeichen: 4 Sa 55/05
Verkündet am 09.01.2006
In dem Rechtsstreit
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 4. Kammer - durch den Vizepräsidenten des Landesarbeitsgerichts Dr. Natter, den ehrenamtlichen Richter Grein und den ehrenamtlichen Richter Roller auf die mündliche Verhandlung vom 09.01.2006
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Pforzheim vom 20.07.2005 - 4 Ca 115/04 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis zwischen ihnen aufgrund der ordentlichen Kündigung des Beklagten vom 23.07.2004 mit Ablauf des 31.10.2004 geendet hat.
Der am 08.09.1948 geborene verheiratete Kläger war seit 02.07.1973 (Angabe des Klägers) bzw. 02.03.1973 (Angabe des Beklagten) bei der Schuldnerin als Kulturarbeiter beschäftigt. Das durchschnittliche Bruttomonatseinkommen des Klägers belief sich zuletzt auf € 1.885,74. Bei der Schuldnerin waren zuletzt mehr als fünf bzw. zehn Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden beschäftigt.
Die Schuldnerin betrieb im Rahmen eines gemeinsamen Betriebs mit der Firma G. eine Baumschule. Am 07.06.2004 wurde über das Vermögen der Firma G. und dasjenige der Schuldnerin Insolvenzantrag gestellt. Am 08.06.2004 wählten die Beschäftigten beider Unternehmen einen Betriebsrat für den gemeinsamen Betrieb beider Unternehmen. Am 01.07.2004 wurde das Insolvenzverfahren durch Beschluss des Amtsgerichts Tübingen eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.
Der Beklagte entschloss sich, den - faktisch bereits stillgelegten - Betrieb der Schuldnerin unverzüglich endgültig stillzulegen. Er unterrichtete nach seinem - bestrittenen - Vorbringen den Betriebsrat am 07. und 09.07.2004 über die beabsichtigten Kündigungen sämtlicher Arbeitsverhältnisse unter Beifügung einer Personalliste, in der die maßgeblichen Sozialdaten verzeichnet waren. Am 19.07.2004 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich/Sozialplan ab. Im Interessenausgleich war unter Ziff. 4 festgehalten, dass das Anhörungsverfahren für die Kündigungen gemäß § 102 BetrVG ordnungsgemäß durchgeführt worden sei und der Betriebsrat zu den Kündigungen keine Stellungnahme abgegeben habe. Dem Interessenausgleich/Sozialplan waren zwei Namenslisten beigefügt, in denen die Arbeitnehmer der Schuldnerin sowie der Firma G. aufgeführt waren. Die Namenslisten waren mit dem Interessenausgleich/Sozialplan mittels Heftklammer verbunden.
Der Beklagte erstattete gegenüber der Agentur für Arbeit Nagold eine Massenentlassungsanzeige, die dort am 23.07.2004 einging. Mit Schreiben vom 28.07.2004 teilte die Agentur für Arbeit Nagold mit, dass die Entlassungssperre für 18 Arbeitnehmer zum 23.08.2004 ablaufe und die Frist nach § 18 Abs. 4 KSchG den Zeitraum vom 24.08. bis 21.11.2004 umfasse.
Mit Schreiben vom 23.07.2004, dem Kläger nach seinem zweitinstanzlichen Vorbringen zugegangen in zweifacher Ausfertigung am 26. und 28.07.2004, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31.10.2004.
Mit seiner am 02.08.2004 eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung gewandt. Wegen seines erstinstanzlichen Vorbringens wird auf die Klageschrift sowie den Schriftsatz vom 13.06. und 05.07.2005 verwiesen.
Der Kläger hat beantragt:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 23.07.2004 aufgelöst wurde, sondern über den 31.10.2004 hinaus fortbesteht.
2. Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zur Rechtskraft des Kündigungsschutzverfahrens als Kulturarbeiter weiterzubeschäftigen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen seines erstinstanzlichen Vorbringens wird auf dessen Schriftsätze vom 13.05. und 27.06.2005 verwiesen.
Mit Urteil vom 20.07.2005 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Kündigung sei wegen dringender betrieblicher Erfordernisse gemäß § 125 InsO in Verbindung mit § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Zwischen dem Beklagten und dem Betriebsrat sei ein wirksamer Interessenausgleich mit Namensliste zustande gekommen. Die sich aus § 125 InsO ergebende gesetzliche Vermutung habe der Kläger nicht widerlegt; die grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl sei nicht gerügt. Die Kündigung sei auch nicht gemäß § 102 BetrVG unwirksam. Der Beklagte habe im Einzelnen vorgetragen, welche konkreten Informationen dem Betriebsrat gegeben worden seien. Das Bestreiten des Klägers mit Nichtwissen sei unzulässig. Schließlich sei die Kündigung nicht wegen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 1 KSchG unter Berücksichtigung der Richtlinie 98/59/EG unwirksam. Diese Richtlinie finde im nationalen Recht keine unmittelbare Anwendung. Eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Vorschrift des § 17 KSchG sei angesichts dessen klaren Regelungsgehaltes nicht möglich.
Gegen das ihm am 09.08.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 09.09.2005 Berufung eingelegt und diese am 10.10.2005 (Montag) begründet. Er trägt vor, die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bleibe auch zweitinstanzlich bestritten. Nach Abschluss des Interessenausgleichs/Sozialplans vom 19.07.2004 habe der Betriebsrat abermals angehört werden müssen. Er berufe sich weiterhin auf die Verletzung der Massenentlassungsvorschriften. Das Arbeitsgericht habe die Bindungswirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs sowie die Anwendbarkeit umzusetzender Richtlinien verkannt.
Der Kläger beantragt:
1. Das Urteil des Arbeitsgerichtes Pforzheim vom 20.07.2005, AZ: 4 Ca 115/04, wird abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung vom 23.07.2004 aufgelöst wurde, sondern über den 31.10.2004 hinaus fortbesteht.
2. Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zur Rechtskraft des Kündigungsschutzverfahrens als Kulturarbeiter weiter zu beschäftigen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, entgegen der Auffassung des Klägers genüge eine Anhörung des Betriebsrats vor Ausspruch der Kündigung. Was die Massenentlassungsanzeige angehe, so habe er bis zur Veröffentlichung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vertrauen dürfen. Im Übrigen sei die Massenentlassungsanzeige bei der Bundesagentur für Arbeit noch vor Zugang des Kündigungsschreibens am 26.07.2004 eingegangen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle über die mündlichen Verhandlungen verwiesen.
I.
Die Berufung des Klägers ist gemäß § 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG statthaft. Sie ist auch gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden.
II.
Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung des Beklagten vom 23.07.2004 zum Ablauf des 31.10.2004 aufgelöst worden ist. Der ersichtlich hilfsweise gestellte Weiterbeschäftigungsantrag ist nicht mehr zur Entscheidung angefallen.
1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend die Auffassung vertreten, die Kündigung sei nicht gemäß § 125 InsO in Verbindung mit § 1 Abs. 2 KSchG sozialwidrig. Hiergegen hat der Kläger zweitinstanzlich keine Rügen erhoben.
2. Die Kündigung ist nicht gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG rechtsunwirksam.
a) Das Arbeitsgericht ist zutreffend von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgegangen, wonach auch bei Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste im Sinne des § 125 Abs. 1 InsO die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG keinen erleichterten Anforderungen unterliegt (vgl. nur BAG, 28.08.2003 - 2 AZR 377/02 - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 134 mit weiteren Nachweisen). Allerdings kann das Verfahren nach § 102 BetrVG mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich verbunden werden (BAG, 20.05.1999 - 2 AZR 532/98 - AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 5). Es gibt keinen Rechtsgrundsatz, dass die Verfahren nacheinander durchgeführt werden müssen bzw. die Betriebsratsanhörung wiederholt werden muss, falls sie vor Abschluss des Interessenausgleichs eingeleitet wurde. Was die Darlegungs- und Beweislast angeht, so ist ein Bestreiten der Betriebsratsanhörung durch den Arbeitnehmer mit Nichtwissen gemäß § 138 Abs. 4 ZPO zwar zunächst grundsätzlich zulässig. Hat der Arbeitgeber jedoch eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung im Detail schlüssig dargelegt, so ist es im Rahmen der abgestuften Darlegungslast Sache des Arbeitnehmers, konkret zu beanstanden, in welchen Punkten er die Betriebsratsanhörung für fehlerhaft hält (BAG, 16.03.2000 - 2 AZR 75/99 - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 113; BAG, 23.06.2005 - 2 AZR 193/04 - NZA 2005, 1233).
b) Dem Arbeitsgericht ist zuzustimmen, dass der Kläger die Fehlerhaftigkeit der Betriebsratsanhörung hiernach nicht konkret aufgezeigt hat. Einer Beweisaufnahme über die - nach dem Vorbringen des Beklagten mündlich durchgeführte - Betriebsratsanhörung bedurfte es daher nicht.
aa) Der Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen (Schriftsatz vom 27.06.2005 Seite 2 oben), dass er die Anhörung des Betriebsrats mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich/Sozialplan verknüpft hat. Dieses Verfahren ist schon vom Zeitablauf her plausibel, weil sich der Beklagte sogleich nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 01.07.2004 zur Stilllegung des Betriebs entschloss und die vorliegende Kündigung bereits nach kurzer Zeit am 23.07.2004 ausgesprochen wurde. Im Interessenausgleich vom 19.07.2004 ist demnach festgehalten, dass der - am 01.07.2004 faktisch nicht mehr in Funktion befindliche - Betrieb mit sofortiger Wirkung stillgelegt werde. Der Betriebsrat sei hierüber informiert worden und habe die Stilllegungsabsicht nach Beratung zur Kenntnis genommen. Unter Ziff. 4 des Interessenausgleichs heißt es weiter, das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG sei ordnungsgemäß durchgeführt worden; der Betriebsrat habe zu den Kündigungen keine Stellungnahme abgegeben.
Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, auf welche Gesichtspunkte sich das Bestreiten des Klägers im Schriftsatz vom 05.07.2005 (Seite 2 oben) beziehen soll. Dass für den Betriebsrat klar war, mit den unbestrittenen Beratungen über den Interessenausgleich solle zugleich das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG eingeleitet werden, ergibt sich aus dem Wortlaut des Interessenausgleichs. Gleiches gilt für den der Kündigung zugrunde liegenden Sachverhalt. Der allein denkbare Sachverhalt ist im Interessenausgleich vom 19.07.2004 dahingehend beschrieben, dass der Betrieb ab 01.07.2004 stillgelegt werde.
bb) Der Kläger hat weiter den Vortrag des Beklagten bestritten, dem Betriebsrat sei eine Personalliste mit allen maßgebliche Sozialdaten übergeben worden. Der Beklagte hat diese Personalliste nicht vorgelegt. Sie ist offenkundig nicht identisch mit der Namensliste, die Bestandteil des Interessenausgleichs vom 19.07.2004 ist. Denn diese Namensliste enthält nicht alle maßgeblichen Sozialdaten, sondern lediglich die Geburtsdaten der Arbeitnehmer.
Auch zur Übergabe der fraglichen Personalliste bedarf es keiner Beweiserhebung. Unterstellt man den Vortrag des Klägers als richtig, so war die Betriebsratsanhörung gleichwohl ordnungsgemäß, weil im vorliegenden Fall die Mitteilung der vollständigen Sozialdaten des Klägers ausnahmsweise entbehrlich war. In seiner Entscheidung vom 15.12.1994 (2 AZR 327/94 - AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 67; zustimmend die ganz herrschende Meinung, vgl. nur KR-Etzel, 7. Aufl. § 102 BetrVG Rz. 58a) hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, die Mitteilung des Lebensalters und der Betriebszugehörigkeit seien "im allgemeinen" unverzichtbare Daten. Dies gelte auch dann, wenn der Arbeitgeber keine Sozialauswahl vorgenommen habe. Dem schließt sich die Kammer an, weil es sich bei den Sozialdaten "Lebensalter" und "Betriebszugehörigkeit" nicht nur um zentrale Gesichtspunkte bei der Sozialauswahl handelt, sondern deren Kenntnis für den Betriebsrat im Regelfall auch für die Berechnung der Kündigungsfristen erforderlich ist.
Die Anhörungspflicht gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG verfolgt jedoch keinen Selbstzweck (BAG, 27.06.1985 - 2 AZR 412/84 - AP BetrVG 1972 § 102 Nr.37). Daher hat das Bundesarbeitsgericht für den Fall der Betriebsstilllegung hinsichtlich der Sozialdaten "Unterhaltspflichten" und "Familienstand" (BAG, 13.05.2004 - 2 AZR 329/03 - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 140 mit weiteren Nachweisen) entschieden, deren Mitteilung könne mangels einer Sozialauswahl keinem denkbaren rechtlichen Zweck dienen. Was die Sozialdaten "Lebensalter" und "Eintrittsdatum" angeht, so hat es die Frage offen gelassen. Im Streitfall war - jedenfalls hinsichtlich der Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger - aber auch deren Mitteilung entbehrlich. Denn unstreitig erfolgte die Kündigung unter Beachtung der Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO. Dies bedeutete für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger, dass sich die maximale Kündigungsfrist auf drei Monate verkürzte. Auf die mehr als 30jährige Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Alter des Klägers kam es nicht an. Auf die Geltung der Insolvenzkündigungsfristen hatte der Beklagte den Betriebsrat unter Ziff. 2 des Interessenausgleichs vom 19.07.2004 den Betriebsrat auch unterrichtet. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, welchem rechtlichen Zweck die Mitteilung der Dauer der Betriebszugehörigkeit und des Lebensalters (hier ohnehin mitgeteilt) hätte dienen können.
3. Die Kündigung vom 23.07.2004 ist schließlich auch nicht wegen eines Verstoßes gegen § 17 KSchG unwirksam.
a) Der Beklagte war verpflichtet, gemäß § 17 Abs. 1 Ziff. 1 KSchG der Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer betrug nach dem Vortrag des Beklagten (Schriftsatz vom 13.05.2005 Seite 2) in der Regel ca. 21 Arbeitnehmer. Darüber hinaus bildete der Betrieb der Schuldnerin mit dem Betrieb der Firma G. unstreitig einen gemeinsamen Betrieb. Folglich waren die im Betrieb der Firma G. beschäftigten Arbeitnehmer hinzuzurechnen (APS-Moll, 2. Aufl. § 17 KSchG Rz. 4; KR-Weigand, 7. Aufl. § 17 KSchG Rz. 15). Der Beklagte entließ aufgrund eines einheitlichen Entschlusses sämtliche Arbeitnehmer des gemeinsamen Betriebs (rd. 40). Wie aus dem vorgelegten Schreiben der Bundesagentur für Arbeit vom 28.07.2004 hervorgeht, erstattete der Beklagte am 23.07.2004 (Eingang) die erforderliche Massenentlassungsanzeige.
b) Der Kläger hat bereits in der Klageschrift geltend gemacht, der Beklagte habe die Massenentlassungsanzeige nicht bzw. nicht ordnungsgemäß erstattet. Im weiteren Verlauf des Rechtsstreits hat sich der Kläger darauf berufen, der Beklagte habe die Massenentlassung entgegen der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht vor Ausspruch der Kündigung vom 23.07.2004 bei der Agentur für Arbeit angezeigt. Mit dieser Rüge dringt der Kläger im Ergebnis nicht durch.
aa) Zugunsten des Klägers muss im vorliegenden Fall angenommen werden, dass der Beklagte die Massenentlassungsanzeige nicht rechtzeitig angezeigt hat. Unstreitig ging die Massenentlassungsanzeige am 23.07.2004 bei der zuständigen Agentur für Arbeit ein. Die streitige Kündigung datiert vom selben Tag. Dass die Kündigung zu einem späteren Zeitpunkt im Sinne des § 130 Abs. 1 BGB abgegeben wurde, hat der Beklagte nicht behauptet. Unstreitig ging das Kündigungsschreiben zweifach am 26. und 28.07.2004 dem Kläger zu (korrigierter Vortrag des Klägers in der Berufungsschrift Seite 4). Stellt man für die Rechtzeitigkeit der Massenentlassungsanzeige auf den Zeitpunkt der Kündigung ab (dazu bb)), so ist aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 über Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen zu schließen, dass es nicht auf den Zugang der Kündigung, sondern auf die Abgabe der Kündigungserklärung ankommt. Denn die besagte Vorschrift verlangt, dass der Arbeitgeber die "beabsichtigte" Massenentlassung schriftlich anzuzeigen hat. "Beabsichtigt" in diesem Sinne ist eine Kündigung nicht mehr, wenn sie den Machtbereich des Arbeitgebers verlassen hat (vgl. BAG, 08.04.2003 - 2 AZR 515/02 - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 133 im Zusammenhang mit der Betriebsratsanhörung). Denn der Arbeitgeber hat seine Kündigungsentschluss verwirklicht, sobald er die Kündigung auf den Weg gegeben hat.
bb) Versteht man unter "Entlassung" im Sinne des §§ 17 Abs. 1 KSchG die Kündigungserklärung, so hat der Beklagte die Massenentlassungsanzeige somit unstreitig verspätet erstattet. Das Bundesarbeitsgericht hat allerdings unter "Entlassung" die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden, die regelmäßig mit Ablauf der Kündigungsfrist eintrete (zuletzt BAG, 18.09.2003 - 2 AZR 79/02 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 14; BAG, 24.02.2005 - 2 AZR 207/04 -AP KSchG 1969 § 17 Nr. 20). Ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht bei Massenentlassungen führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, sondern lediglich zur Unwirksamkeit der Entlassung. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 27.01.2005 (C 188/03 - NZA 2005, 213) angenommen, die Art. 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 über Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen seien dahingehend auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt. Hieraus hat der Europäische Gerichtshof u.a. gefolgert, dass die Kündigung erst nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde erfolgen dürfe. Legt man § 17 KSchG in diesem Sinne europarechtskonform aus, so wäre die Kündigung des Beklagten vom 23.07.2004 unwirksam, weil die Massenentlassungsanzeige des Beklagten jedenfalls nicht vorher bei der Bundesagentur für Arbeit einging.
c) Gleichwohl führt dieser Mangel nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung vom 23.07.2004. Hierbei bedarf die zwischenzeitlich aufgeworfene Frage keiner Entscheidung, ob die §§ 17, 18 KSchG einer europarechtskonformen Auslegung im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 überhaupt zugänglich sind. Denn nach Auffassung der Kammer ist dem Beklagten jedenfalls Vertrauensschutz einzuräumen.
aa) In Rechtsprechung und Schrifttum ist derzeit streitig, ob dem Arbeitgeber in den sog. Altfällen Vertrauensschutz gewährt werden kann. Die wohl überwiegende Meinung hält das Vertrauen des Arbeitgebers für schutzwürdig (LAG Köln, 25.02.2005 - 11 Sa 767/04 - NZA-RR 2005, 470; ArbG Lörrach, 24.03.2005 - 2 Ca 496/04 - NZA 2005, 484; ArbG Krefeld, 14.04.2005 - 1 Ca 3731/04 - NZA 2005, 383; LAG Hessen, 20.04.2005 - 6 Sa 2279/04 - NZA-RR 2005, 522; LAG Berlin, 27.04.2005 - 17 Sa 2646/04 - NZA-RR 2005, 412; LAG Köln, 10.05.2005 - 1 Sa 1510/04 - LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 50; ArbG Karlsruhe, 17.05.2005 - 6 Ca 361/04 - abrufbar unter "www.lag-baden-wuerttemberg.de"; LAG Hamm, 08.07.2005 - 7 Sa 512/05 - NZA-RR 2005, 578; LAG Niedersachsen, 11.08.2005 - 7 Sa 1256/04 - NZA-RR 2006, 16; LAG Baden-Württemberg, 01.09.2005 - 11 Sa 42/05 - abrufbar unter "www.lag-baden-wuerttemberg.de"; Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445, 449; Braun, ArbRB 2005, 209); die Gegenmeinung sieht für einen Vertrauensschutz keinen Raum (ArbG Bochum, 17.03.2005 - 3 Ca 307/04 - AuR 2005, 232; ArbG Osnabrück, 08.06.2005 - 4 Ca 546/04 - NZA-RR 2005, 476; Appel, DB 2005, 1002, 1005; Osnabrügge, NJW 2005, 1093). Zur Begründung der zweiten Auffassung wird darauf verwiesen, einen Schutz gegen eine Rückwirkung der Rechtsprechung sei dem deutschen Recht - anders als bei Gesetzesänderungen - nicht zu entnehmen. Die Gerichte seien nicht an eine bestehende Rechtsprechung gebunden, wenn sich diese im Lichte neuerer Erkenntnisse oder veränderter Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweise.
bb) Nach Auffassung der Kammer bedarf es einer differenzierten Betrachtungsweise. Grundsätzlich erzeugen höchstrichterliche Urteile keine mit dem Gesetzesrecht vergleichbare Rechtsbindung. Sie unterliegen daher nicht den Einschränkungen hinsichtlich einer Rückwirkung, die für Gesetze gelten. Selbst an eine feststehende Rechtsprechung sind die Gerichte nicht gebunden, wenn sich diese im Lichte neuerer Erkenntnisse oder veränderter Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweist. Allerdings können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe Schranken der Rückwirkung aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben. Falls die von der Rückwirkung betroffene Partei mit der Fortgeltung der bisherigen Rechtslage rechnen durfte und dieses Interesse bei einer Abwägung mit den Belangen des Vertragspartners den Vorzug verdient, greift die Rückwirkung in rechtlich geschützte Positionen ein (BVerfG, 16.12.1981 - 1 BvR 898/79 u.a. - NJW 1983, 103; BGH, 29.02.1996 -IX ZR 153/95 - NJW 1996, 1467; BAG, 13.09.1983 - 3 AZR 537/82 - AP BetrAVG § 5 Nr. 11; BAG, 07.03.1995 - 3 AZR 383/94 - AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 26; BAG, 20.11.1990 - 3 AZR 573/89 - NZA 1991, 477; BAG, 18.11.2003 - 3 AZR 655/02 - zitiert nach JURIS). Für das Kündigungsschutzrecht im Besonderen hat das Bundesarbeitsgericht betreffend eine Änderung der Rechtsprechung zur Betriebsrats- und Personalratsanhörung entschieden, die Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung sei dann geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung eine unzumutbare Härte bedeuten würde (BAG, 29.03.1984 - 2 AZR 429/83 (A) - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 31; BAG, 18.01.2001 - 2 AZR 616/99 - AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1).
cc) Nach diesen Grundsätzen ist das Vertrauen, das der Beklagte in die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung zu § 17 KSchG gesetzt hat, schutzwürdig. Der Beklagte hatte sich an einer langjährigen Rechtsprechung orientiert, an der die Arbeitsämter bzw. Agenturen für Arbeit ebenso langjährig ihre Verwaltungspraxis ausgerichtet hatten. Bereits im Jahr 1963 hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden, die Massenentlassungsanzeige sei erst vor der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erstatten (BAG, 03.10.1963 - 2 AZR 160/63 - AP KSchG § 15 Nr. 9 und seitdem vielfach). Es gab bis zum Jahr 2003 keine Anhaltspunkte dafür, die Arbeitsgerichte würden im Lichte besserer Erkenntnisse oder gewandelter Rechtsanschauungen von der bisherigen Rechtsprechung abweichen. Auch der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30.04.2003 (36 Ca 19726/02 - ZIP 2003, 1269) gab keine Veranlassung, vorsorglich eine Rechtsprechungsänderung in Betracht zu ziehen. Denn in seinem Urteil vom 18.09.2003 (a.a.O.) hatte das Bundesarbeitsgericht seine bisherige Rechtsprechung nochmals ausführlich begründet. Ob die Schlussanträge des Generalanwalts vom 30.09.2004 den Vertrauensschutz entfallen ließen, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, weil die streitige Kündigung vom 23.07.2004 datiert. Zusammenfassend ist festzustellen, dass es im Zeitpunkt der Kündigung weder eine gewandelte Wertanschauung noch neue Erkenntnisse gab, die eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung erwarten ließen.
Es stellt des weiteren eine unzumutbare Härte dar, wenn dem Beklagten nachträglich eine Handlungspflicht auferlegt würde, die er nachträglich nicht erfüllen kann, zweifellos aber erfüllt hätte, wenn ihm das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 bekannt gewesen wäre. Die Handlungspflicht betraf eine Norm, die in erster Linie arbeitsmarktpolitische Zwecke verfolgt, also nicht primär dem individuellen Kündigungsschutz dient (zuletzt BAG, 24.02.2005, a.a.O.). Der Beklagte wäre, obwohl seine Kündigung ansonsten in jeglicher Hinsicht rechtswirksam ist, ganz erheblichen Verzugsansprüchen ausgesetzt. Der Beklagte hätte zwar nach dem Bekanntwerden des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 vorsorglich eine erneute Massenentlassungsanzeige erstatten und eine Folgekündigung aussprechen können. Dies wäre jedoch angesichts des vorwiegend arbeitsmarktpolitischen Schutzzwecks der §§ 17, 18 KSchG eine leere Formalie gewesen. Denn die Arbeitsverhältnisse mit den gekündigten Mitarbeitern waren im Zeitpunkt der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bereits mehr als ein halbes Jahr beendet. Der mit den Vorschriften verfolgte Zweck, die Arbeitsverwaltung rechtzeitig über eine beabsichtigte Massenentlassung zu informieren, damit sie rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit ergreifen kann, hätte nicht mehr erfüllt werden können.
dd) Der hier vertretenen Auffassung steht auch nicht das von den Vertretern der Gegenmeinung vorgebrachte Argument entgegen, der Europäische Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 27.01.2001 die zeitliche Geltung seines Urteils nicht eingeschränkt; in anderen Zusammenhängen habe der Europäische Gerichtshof hingegen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Zutreffend ist, dass der Europäische Gerichtshof etwa im Fall Barber (Urteil vom 17.05.1990 - C 262/88 - NZA 1990, 775) die zeitliche Geltung seiner Rechtsprechung eingeschränkt hat, was die Anwendung des Art. 119 EWGV im Betriebsrentenrecht angeht. Von der hier vorliegenden Fallgestaltung unterschied sich der damalige Fall jedoch dadurch, dass es nicht um einen Konflikt zwischen der europäischen und einer nationalen Rechtsordnung ging. Die Frage, ob in den sog. Altfällen Vertrauensschutz gewährt werden könne, ist allein aufgrund einer Norm der deutschen Rechtsordnung entstanden, die in ihrer bisherigen Auslegung durch die Rechtsprechung im Widerspruch zum europäischen Recht steht. Deswegen ist allein nach den Regeln des nationalen Rechts zu beurteilen, ob ausnahmsweise das Vertrauen in die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung als schutzwürdig anzusehen ist. Der Europäische Gerichtshof musste sich mit dieser Fragestellung nicht befassen.
III.
Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu tragen. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG.
Ende der Entscheidung
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