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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 19.11.2008
Aktenzeichen: 15 Sa 137/08
Rechtsgebiete: ArbGG


Vorschriften:

ArbGG § 72 Abs. 2 Ziff. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Im Namen des Volkes Urteil

15 Sa 137/08

Verkündet am 19. November 2008

In Sachen

hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, 15. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht K. als Vorsitzender sowie die ehrenamtlichen Richter Herr M.-J. und Herr B.

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Neuruppin vom 20.11.2007 - 4 Ca 1154/07 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten - wie in zahlreichen Parallelverfahren, die vereinzelt auch beim Bundesarbeitsgericht anhängig sind - darüber, ob im Jahre 2007 ein Treuegeld zu zahlen ist.

Die Klägerin ist seit dem 1. September 1966 bei der Beklagten, bzw. deren Rechtsvorgängern, im Betrieb H. beschäftigt. In diesem Betrieb wurde von der Beklagten eine Musterbetriebsordnung (MuBo) angewandt. Diese sollte ursprünglich im Jahre 1994 konzernweit als Betriebsvereinbarung umgesetzt werden. Der Betriebsrat in H. unterzeichnete die ihm angebotene Betriebsvereinbarung jedoch nicht. Die entsprechenden Leistungen wurden den Arbeitnehmern trotzdem gewährt. Insofern wurde ab dem 20. Dienstjahr und später gestaffelt jährlich ein Treuegeld gezahlt (6.16 MuBo). Im 25., 40. und 50. Dienstjahr wurde stattdessen ein erhöhtes Jubiläumsgeld ausgezahlt (6.14 MuBo). Durch Betriebsvereinbarung Nr. 86.1 vom 11. Januar 2002 wurde die Rundung der Euro-Beträge auf glatte Beträge vereinbart.

Im Juni 2003 schrieb die Beklagte an den Betriebsratsvorsitzenden:

"Kündigung der A.-Betriebsordnung

Die unterschiedlichen Regelungen unserer freiwilligen Sozialleistungen führen in ihrer kaum noch zu überblickenden Vielfalt zu einer nicht mehr hinnehmbaren Ungleichbehandlung unserer Mitarbeiter an den B.-Standorten. Es ist das erklärte Ziel von B., ein Sozialleistungssystem zu installieren, welches den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt und den Bedürfnissen der Mitarbeiter besser Rechnung trägt. Aus diesem Grunde sehen wir uns gezwungen, die oben genannte Betriebsvereinbarung fristgemäß zum 31. Dezember 2003 zu kündigen."

Dieses Schreiben war spätestens im Dezember 2003 im Betrieb allgemein bekannt. Ab Januar 2004 zahlte die Beklagte an die Arbeitnehmer des Betriebs H. keine Treue- oder Jubiläumsgelder mehr.

Ein Teil der Belegschaft klagte bereits im Jahre 2004 hiergegen und obsiegte letztlich auch vor dem Bundesarbeitsgericht.

Die Klägerin - insoweit liegt hier eine Besonderheit vor - war von 2003 bis 2005 zu I. abgeordnet. Weil sie dort weniger verdiente, erhielt sie von der Beklagten eine Abfindung, die nach einer Berechnung (K 4 = Bl. 17 d. A.) 200,-- € als Treuegeld berücksichtigte.

Mit Schreiben vom 25. Juni 2007 (Bl. 18 d. A.) machte die Klägerin ihre Ansprüche geltend. Mit der am 6. August 2007 eingegangenen Klage verfolgt sie diese weiter mit dem Argument, die vom Bundesarbeitsgericht festgestellte betriebliche Übung sei ihr gegenüber nicht beseitigt worden. Das Schweigen der Arbeitnehmer sei nicht als Zustimmung zu einer negativen betrieblichen Übung, sondern als Abwarten der Musterprozesse zu verstehen.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag in Höhe von 300,-- € nebst 5 Prozentpunkten Zinsen hieraus über dem Basiszinssatz seit dem 29.05.2007 zu bezahlen;

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, Treuegeld entsprechend der Regelung in Ziffer 6.16 der Muterbetriebsordnung der A.-Tochtergesellschaften in den neuen Bundesländern (Stand: 01.07.1994) und unter dem dortigen Voraussetzungen in der dort jeweils geregelten Höhe an die Klägerin zu bezahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, weil nur eine Minderheit von Arbeitnehmern (zwischen 5 und 18 %) in den Jahren 2004 bis 2006 geklagt habe, sei aufgrund einer negativen betrieblichen Übung gegenüber der Klägerin der ursprünglich vorhandene Anspruch jedenfalls im Jahre 2007 beseitigt worden.

Mit Urteil vom 20. November 2007 hat das Arbeitsgericht der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Eine negative betriebliche Übung sei nicht in Gang gesetzt worden. Offensichtlich hätten beide Parteien den Ausgang von Musterverfahren abgewartet.

Dieses Urteil ist der Beklagten am 17. Dezember 2007 zugestellt worden. Am 17. Januar 2008 gingen die Berufung und nach Verlängerung bis zum 17. März 2008 am gleichen Tag die Berufungsbegründung beim Landesarbeitsgericht ein.

Die Beklagte ist weiterhin der Ansicht, dass durch eine negative betriebliche Übung der Anspruch der Klägerin beseitigt worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Neuruppin vom 20. November 2007 - 4 Ca 1154/07 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg.

I.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG, 519 f. ZPO).

II.

Die Berufung ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Arbeitsgericht Neuruppin der Klage stattgegeben. Der im Wege der betrieblichen Übung begründete Anspruch ist nicht durch eine negative betriebliche Übung beseitigt worden.

1. Der hier geltend gemachte Anspruch ist ursprünglich im Wege einer betrieblichen Übung begründet worden, da die Beklagte über 10 Jahre hinweg diese Leistungen erbracht hat. Hiervon gehen auch die Parteien aus. Das Bundesarbeitsgericht hat dies ebenfalls festgestellt (BAG vom 28.06.2006 - 10 AZR 385/05 - NZA 2006, 1174).

2. Dieser Anspruch ist weder durch eine Änderungskündigung, einen Änderungsvertrag oder eine ablösende Betriebsvereinbarung beseitigt worden. Keine dieser Gestaltungsmöglichkeiten hatte die Beklagte ergriffen.

Ein solcher Anspruch ist auch nicht durch einfache einseitige Erklärung des Arbeitgebers zu beseitigen. Insofern reicht es nicht aus, dass der Arbeitgeber gegenüber anderen Arbeitnehmern die Übung einstellt und der Arbeitnehmer hierzu schweigt. Dies gilt selbst dann, wenn es sich bei den betrieblichen Leistungen um einmalige Leistungen wie z. B. Jubiläumszuwendungen handelt und der Anspruchsteller selbst noch nie in den Genuss dieser Leistung gelangt ist (BAG vom 28.05.2008 - 10 AZR 275/07 - BB 20008, 1847 Rn. 30).

3. Eine gegenläufige betriebliche Übung hat den Inhalt des Arbeitsverhältnisses der Klägerin nicht geändert.

3.1 Die hierfür entscheidenden Kriterien hat das Bundesarbeitsgericht zuletzt in der Entscheidung vom 28.05.2008 (a. a. O., Rn. 32) nochmals zusammengefasst. Danach könne der Arbeitgeber mit einer gegenläufigen betrieblichen Übung über einen längeren Zeitraum hinweg dem Arbeitnehmer ein verschlechterndes Änderungsangebot unterbreiten, das allerdings dieser annehmen müsse. Von einer Annahmeerklärung könne der Arbeitgeber jedoch nur dann ausgehen, wenn der Arbeitnehmer ausdrücklich sein Einverständnis erklärte oder wenn nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte das Schweigen des Arbeitnehmers als Zustimmung zu der geänderten betrieblichen Übung angesehen werden dürfe. Dies sei dann anzunehmen, wenn er davon ausgehen darf, der Arbeitnehmer werde der Änderung widersprechen, wenn er mit dieser nicht einverstanden sei. Ebenso wie bei der Begründung eines Anspruchs aus betrieblicher Übung komme es nicht auf einen tatsächlich vorhandenen Verpflichtungswillen an, soweit ein entsprechender Rechtbindungswille des Arbeitnehmers jedenfalls aus objektiver Sicht des Erklärungsempfängers erkennbar ist.

3.2 Teilweise ist die Rechtsprechung des BAG auf Kritik gestoßen. So hält es Thüsing (NZA 2005, 718, 720) für zweifelhaft, im dem Schweigen des Arbeitnehmers eine Annahmeerklärung zu sehen. Der Arbeitnehmer sei nicht verpflichtet zu widersprechen. Schließlich leugnet der Arbeitgeber, zur Leistung verpflichtet zu sein. Dies begründe allenfalls eine Schadensersatzpflicht, könne aber nicht zur Grundlage des Erlöschens eines Anspruchs gemacht werden. Dies wäre systemwidrig. Auch das vom Bundesarbeitsgericht vorgetragene Symmetrieargument greife nicht. Es sei etwas anderes, auf ein günstiges Angebot zu schweigen, als auf ein ungünstiges.

Es kann offen bleiben, ob dieser Kritik zu folgen ist. Zu Gunsten der Beklagten soll hier unterstellt werden, dass eine negative betriebliche Übung möglich ist.

Unklar ist allerdings auch, ob eine negative betriebliche Übung schon dadurch nicht zustande kommt, dass andere Arbeitnehmer dem widersprechen. Schon in der ersten Entscheidung hierzu hatte das Bundesarbeitsgericht sowohl im Leitsatz als auch teilweise in der Begründung darauf abgestellt, dass "die Arbeitnehmer" nicht widersprechen (BAG vom 26.03.1997 - 10 AZR 612/96 - NZA 1997, 1007). Später hat es darauf abgestellt, dass "der Kläger und seine Arbeitskollegen" unmittelbar widersprochen hätten (BAG vom 28.06.2006 - 10 AZR 385/07 - NZA 2006, 1174, 1178 Rn. 41). In der letzten Entscheidung (BAG vom 28.05.2008 - 10 AZR 274/07 - BB 2008, 1847, 1849 Rn. 32) hat das Bundesarbeitsgericht nur noch auf "das Schweigen des Arbeitnehmers" abgestellt. In der nachfolgenden Besprechung von Schnitker/Reimann (BB 2008, 1849) wird davon ausgegangen, dass eine betriebliche Übung sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Komponente habe. Daher stünde der zeitgerecht erklärte individuelle Widerspruch einer Änderung der Übung bezogen auf die widersprechende Person stets entgegen. Gleiches müsse aber dann gelten, wenn eine - bezogen auf den Betrieb - nicht nur unerhebliche Anzahl an Mitarbeitern einen Widerspruch erklärt haben, da dann die Änderung nicht als im Betrieb akzeptiert gelten könne. Auch hierfür mag einiges sprechen. Das größte Problem in der Praxis dürfte jedoch darin liegen, ab wann eine "nicht nur unerheblich Anzahl an Mitarbeitern" hinsichtlich des Widerspruchs als ausreichend gelten kann.

Zu Gunsten der Beklagten soll hier unterstellt werden, dass es auf den Widerspruch nur des betroffenen Arbeitnehmers ankommt.

3.3 Vorliegend konnte die Beklagte das Schweigen der Klägerin zu den geänderten Bedingungen ab dem Jahre 2004 nach den Grundsätzen von Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte nicht als Zustimmung werten. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Beklagte selbst durch ihre Handlungen zu erkennen gab, dass es ihr nicht um die Ingangsetzung einer negativen betrieblichen Übung ging. Mit Schreiben vom 25. Juni 2003 gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden hatte sie eine vermeintliche Betriebsvereinbarung gekündigt. Wegen dieser Kündigung der Betriebsvereinbarung fühlte sie sich legitimiert, Zahlungen einzustellen. Dieses Schreiben war Ende 2003 im Betrieb auch allgemein bekannt. Insofern hatte die Klägerin aus Sicht der Beklagten keine Veranlassung, die Erklärungen der Beklagten sowie die Nichtzahlungen als rechtsgeschäftliches Angebot zur Änderung der Musterbetriebsordnung, das einer Annahme bedurft hätte, zu verstehen. Das Schweigen konnte die Beklagte nur so verstehen, dass die Klägerin sich damit abgefunden hatte, diese Leistung wegen der Beseitigung der vermeintlichen Anspruchsgrundlage, nämlich der Musterbetriebsordnung, bzw. des Widerrufs in Zukunft nicht mehr zu erhalten (so auch LAG Berlin-Brandenburg vom 11.06.2008 - 24 Sa 2516/07; jetzt: BAG 10 AZR 689/08).

3.4 Hier kommt hinzu, dass gegenüber der Klägerin der Anspruch nicht dreimal verweigert wurde. Die Klägerin war (wohl ab dem 1. Juli 2003 für 24 Monate) zum jeweiligen Zahlungszeitpunkt im Mai 2004 und Mai 2005 zu I. abgeordnet. Insofern stand ihr ein Anspruch auf Zahlung des Treuegeldes nicht zu. Selbst wenn man jedoch von einem Anspruch ausginge, war dieser zumindest für das Jahr 2004 erfüllt worden, denn in der entsprechenden Abfindungsberechnung war der Betrag in Höhe von 200,-- € ausgewiesen worden. Die Parteien gehen darüber hinaus unstreitig davon aus, dass Gleiches für das Jahr 2005 zutreffe. Nach der Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 28.05.2008, a. a. O., Rn. 30) ist es jedoch unerheblich, dass gegenüber anderen Arbeitnehmern die Übung eingestellt wird und der betroffene Arbeitnehmer hierzu schweigt. Gegenüber der hiesigen Klägerin ist allenfalls im Jahre 2006, möglicherweise noch im Jahre 2005 der Anspruch aus der betrieblichen Übung nicht gewährt worden. Dies reicht aber nicht aus (so auch das LAG Berlin-Brandenburg vom 09.07.2008 - 17 Sa 585/08 - ebenfalls zu einem Arbeitnehmer, der in den Jahren 2003 bis 2005 unter Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses zu der Beklagten zu I. ausgegliedert worden war).

4. Die Höhe der Klageforderung ist zwischen den Parteien nicht im Streit.

Der Fälligkeitszeitpunkt (28.05.2007) ist ebenfalls unstreitig.

5. Zu Recht hat das Arbeitsgericht Neuruppin auch dem Feststellungsantrag stattgegeben. Ein solcher Antrag ist als Zwischenfeststellungsklage zulässig (BAG vom 28.06.2006, a. a. O., Rn. 26). Er ist für die Folgejahre auch begründet, da der Anspruch aus betrieblicher Übung nicht beseitigt worden ist.

III.

Die Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 ZPO).

Im Hinblick auf eine Vielzahl von Parallelrechtstreitigkeiten, die beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg und beim Arbeitsgericht Neuruppin anhängig sind, ist die Revision gem. § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG zugelassen worden.

Ende der Entscheidung

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