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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 24.01.2006
Aktenzeichen: 16 TaBV 99/06
Rechtsgebiete: ArbGG, BetrVG


Vorschriften:

ArbGG § 98
BetrVG § 111
BetrVG § 112
1) Es obliegt dem Ermessen der Einigungsstelle, die Verhandlungen über den Interessenausgleich und den Sozialplan miteinander zu verbinden oder auch nicht.

Hieraus folgt, dass für den Fall, dass auch nur eine der Betriebsparteien im Bestellungsverfahren gem. § 98 ArbGG eine gemeinsame Verhandlung von Interessenausgleich und Sozialplan im Rahmen einer Einigungsstelle erstrebt, das Arbeitsgericht einem hierauf gerichteten (Wider-) Antrag zu entsprechen und eine Einigungsstelle zu beiden Regelungsgegenständen zu bestellen hat.

2) Das von d. jeweiligen Bet. zu 1) für die Einsetzung ihres/seines Wunschkandidaten angeführte "Müller-Prinzip" (Wer zuerst kommt, mahlt zuerst) ist kein in jedem Fall taugliches Auswahlkriterium.

Als rein formales Argument erleichtert es dem Gericht zwar die Auswahlentscheidung; eine entsprechende Praxis birgt aber die auf der Hand liegende Gefahr, dass die Betriebsparteien aus steter Sorge, beim Bestellungsverfahren nur "zweiter Sieger" zu werden, die Verhandlungen im Vorfeld einer Einigungsstelle nicht mit der notwendigen Unbefangenheit und Intensität durchführen.


Landesarbeitsgericht Berlin Beschluss

16 TaBV 2393/05 16 TaBV 99/06

In dem Beschlussverfahren

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, Kammer 16, auf die mündliche Verhandlung vom 24.01.2006 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Gerken als Vorsitzenden

beschlossen:

Tenor:

I. Auf die Beschwerde des Betriebsrats und Beteiligten zu 2) und unter Zurückweisung der Anschlussbeschwerde der Arbeitgeberin und Beteiligten zu 1) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 16.12.2005 - 76 BV 25785/05; WA: 76 BV 26552/05 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Der Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Berlin Dr. G. B. wird zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle zur Verhandlung eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans im Betrieb der Beteiligten zu 1) bestellt und die Anzahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer auf 3 festgesetzt.

II. Die Rechtsbeschwerde ist nicht statthaft.

Gründe:

I.

Die Beteiligten (Arbeitgeberin und Betriebsrat der Firma J. V. M. Europe GmbH) streiten in der Beschwerdeinstanz weiterhin primär darüber, ob nach dem Scheitern entsprechender innerbetrieblicher Verhandlungen zu den von der Arbeitgeberin für ihren Berliner Betrieb beabsichtigten betriebsändernden Maßnahmen "Einstellung der Produktion" und "Umstrukturierung/ Leistungsverdichtung im Bereich der Verwaltung" eine Einigungsstelle nur zur Verhandlung eines Interessenausgleichs (so der Antrag der Arbeitgeberin) oder zugleich auch über die Verhandlung eines Sozialplans (so der Widerantrag des Betriebsrats) zu bilden ist.

Des Weiteren streiten sich die Beteiligten über die Person des Vorsitzenden (Arbeitgeberin: VRi LAG Bln. Dr. R. P.; Betriebsrat: VRi LAG Bln. Dr. G. B.) sowie über die Zahl der von jeder Seite in die Einigungsstelle(n) zu entsendenden Beisitzer (Arbeitgeberin: 2; Betriebsrat: 4).

Mit Beschluss vom 14.12.2005 hat das Arbeitsgericht Berlin folgende Entscheidung getroffen:

1. Zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle zur Verhandlung über einen Interessenausgleich/ Feststellen des Scheiterns der Verhandlungen wird der Vorsitzende Richter am LAG Berlin Dr. G. B. bestellt.

2. Die Zahl der von den Beteiligten jeweils zu benennenden Beisitzer wird auf drei festgesetzt.

3. Der Vorsitzende Richter am LAG Berlin Dr. G. B. wird zum Vorsitzenden einer weiteren Einigungsstelle im Betrieb der Antragstellerin zum Zwecke des Abschlusses eines Sozialplans wegen betriebsändernder Maßnahmen bestellt.

4. Die Anzahl der von jeder Anzahl zu benennenden Beisitzer (wird) auf drei festgesetzt.

5. Der Streitwert wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.

Das Arbeitsgericht erachtet sowohl den Antrag der Arbeitgeberin auf Einsetzung einer Einigungsstelle nur wegen eines Interessenausgleichs bzw. der Feststellung des Scheiterns entsprechender Verhandlungen für ebenso zulässig und begründet wie den Widerantrag des Betriebsrats auf Einsetzung einer Einigungsstelle wegen eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans. Es gebe allerdings grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass beide Regelungsgegenstände in einer einheitlichen Einigungsstelle verhandelt und entschieden werden, wenngleich dies aus inhaltlichen, zeitlichen und finanziellen Gründen zweckmäßig erscheine. Der Betriebsrat habe auch nicht näher dargelegt, warum die Verhandlung beider Regelungsgegenstände in einem Verfahren zwingend geboten erscheint.

Wegen der Einzelheiten der Begründung zu diesem Punkt sowie den tragenden Gesichtspunkten zur Auswahl der Person des Vorsitzenden und der Anzahl der Beisitzer wird auf den Inhalt des erstinstanzlichen Beschlusses Bezug genommen (Bl. 58 - 66 d. A.).

Gegen diesen dem Betriebsrat am 16.12.2005 zugestellten Beschluss richtet sich sowohl dessen bei dem Landesarbeitsgericht am 30.12.2005 eingegangene und zugleich begründete Beschwerde als auch die am 18.01.2006 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangene und zugleich begründete Anschlussbeschwerde der Arbeitgeberin.

Der Betriebsrat ist der Auffassung, dass das Arbeitsgericht mit dem erstinstanzlichen Beschluss nicht nur das Gebot zur vertrauensvollen Zusammenarbeit sondern auch den eindeutigen Wortlaut des § 112 Abs. 2 - 4 BetrVG außer Acht gelassen habe, was näher ausgeführt wird (Bl. 75 - 78 d. A.). Im Übrigen verlange die tatsächliche und rechtliche Schwierigkeit der Materie die Entsendung von je vier Beisitzern.

Der Betriebsrat beantragt:

Unter Aufhebung des Beschlusses des Arbeitsgerichtes Berlin - 76 BV 25.785/05 - und WA: - 76 BV 26.552/05 - vom 14.12.2005 wird der Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Berlin, Herr Dr. G. B., zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle im Betrieb der Antragstellerin zum Zwecke des Abschlusses vom Interessenausgleich und Sozialplan wegen betriebsändernder Maßnahme bestellt und die Anzahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer auf jeweils 4 vier festgesetzt.

Die Arbeitgeberin beantragt:

1. Die Beschwerde des Antraggegners und Beschwerdeführers zurückzuweisen.

2. Auf die Anschlussbeschwerde, den Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 14.12.2005, Az.: 76 BV 25785/05 und Az.: 76 BV 26552/05, insoweit zu ändern,

a) zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle zur Verhandlung über einen Interessenausgleich/ Feststellen des Scheiterns der Verhandlungen, den Vorsitzenden Richter am LAG Berlin, Herrn Dr. R. P., zu bestellen,

b) die Zahl der von den Beteiligten jeweils zu benennenden Beisitzer auf zwei festzusetzen,

c) zum Vorsitzenden einer weiteren Einigungsstelle im Betrieb der Antragstellerin zum Zwecke des Abschlusses eines Sozialplanes wegen betriebsändernden Maßnahmen, den Vorsitzenden Richter am LAG Berlin, Herrn Dr. R. P., zu bestellen,

d) die Anzahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer auf zwei festzusetzen.

Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss soweit mit ihm zu jedem Regelungsgegenstand jeweils eine eigenständige Einigungsstelle gebildet worden ist. Hinsichtlich der Person des zum Vorsitzenden beider Einigungsstellen berufenen VRiLAG Dr. B. habe sie, die Arbeitgeberin, zwar keinerlei Zweifel hinsichtlich dessen persönlicher und fachlicher Eignung, doch hätte das Arbeitsgericht, nachdem seitens des Betriebsrats keinerlei Einwände gegenüber ihren Wunschkandidaten, VRiLAG Dr. P., erhoben worden seien, diesen zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Thema "Verhandlung eines Interessenausgleichs" einsetzen müssen.

Schließlich bestehe angesichts der rechtlich nicht so schwierigen Materie auch kein Grund jeweils drei statt zwei Beisitzer einzusetzen.

Der Betriebsrat beantragt,

die Anschlussbeschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten in der Beschwerdeinstanz wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 ArbGG statthafte Beschwerde des Betriebsrats ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit zulässig, § 98 Abs. 2 Satz 2 ArbGG.

Sie hat auch in der Sache weitgehend Erfolg, so dass der Beschluss des Arbeitsgerichts wie aus dem Tenor der Beschwerdeentscheidung ersichtlich abzuändern war.

Demgegenüber ist die unselbständige Anschlussbeschwerde der Arbeitgeberin - deren Statthaftigkeit wegen der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung über die Besetzung einer Einigungsstelle und der in den §§ 98 Abs. 2 Satz 3, 87 Abs. 2 ArbGG fehlenden Verweisung auf die zivilprozessrechtlichen Regelungen der Anschlussberufung nicht ganz so problemlos bejaht werden kann wie die Statthaftigkeit der Beschwerde des Betriebsrats (vergleiche allgemein zur Zulässigkeit der Anschlussbeschwerde im Beschlussverfahren: Matthes in Germelmann, Matthes, Prütting, Müller-Glöge, ArbGG, 5. Auflage 2004, Rn. 32 ff. zu § 89 m. w. N.) - nicht begründet, so dass sie zurückzuweisen war.

1. Nach der gesetzlichen Regelung in § 112 Abs. 2 - 4 BetrVG kann zwar, muss aber nicht zwingend zunächst und allein über den Abschluss eines Interessenausgleichs bis hin zur Einigungsstelle verhandelt werden. Eine gemeinsame Verhandlung sowohl über die Inhalte eines möglichen Interessenausgleichs als auch über diejenigen eines möglichen Sozialplans ist nicht nur lediglich in aller Regel effektiver, zeitsparender, kostengünstiger und bei Erfolg auch deutlich friedensstiftender - und daher betriebliche Praxis -, sondern der Betriebsrat kann seine Zustimmung zur Betriebsänderung/zu einem Interessenausgleich von der Aufstellung eines Sozialplans abhängig machen (BAG, 17.9.1974, AP Nr. 1 zu § 113 BetrVG 1972; hM, vgl. zum Meinungsstand Annuß in Richardi, BetrVG, 10. Auflage 2006, Rn. 24, 25 zu § 112 m. w. N.). Zumindest obliegt es aber dem Ermessen der Einigungsstelle, die Verhandlungen über den Interessenausgleich und den Sozialplan miteinander zu verbinden oder auch nicht (so vermittelnd Hanau, ZfA 1974, 98 ff., 111), bzw. diese solange bis zu einer Einigung auch über den Sozialplan fortzusetzen, wie nicht die Grenze, dass sich der Arbeitgeber zwecks Vermeidung weiterer Zeitverzögerungen bei der Betriebsänderung und deren Folgekosten zu unbotmäßig hohen Konzessionen beim Sozialplan genötigt sieht, überschritten worden ist (ErfK - Kania, 6. Auflage 2006, Rn. 8 zu §§ 112, 112 a BetrVG). Spätestens dann hat die Einigungsstelle bzw. deren Vorsitzender die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und dem Arbeitgeber damit die Möglichkeit zu eröffnen, die mit der Betriebsänderung in der Regel einhergehenden Kündigungen auszusprechen, ohne sich der Gefahr der Zahlung von Nachteilsausgleich (§ 113 Abs. 3 BetrVG) ausgesetzt zu sehen (Fitting, Engels, Schmidt, Trebinger, Linsenmaier, BetrVG, 22. Auflage 2004, Rn. 26 zu §§ 112, 112 a).

Diese dem Betriebsrat ein nicht unerhebliches Druckpotential an die Hand gebende Rechtslage hat(te) der Gesetzgeber respektiert, als er im Rahmen des sog. Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 mittels Einführung einer Frist für den Versuch eines Interessenausgleichs (§ 113 Abs. 3 Satz 2 u. 3 BetrVG), das Verfahren zu straffen suchte.

In diesem Zusammenhang ist schließlich zu beachten, dass das Gericht im Bestellungsverfahren des § 98 ArbGG nicht die Aufgabe hat, die Zuständigkeit der Einigungsstelle und deren Umfang und Grenzen abschließend zu prüfen und positiv oder negativ festzustellen. Sinn der Regelung in § 98 Abs. 1 Satz 1 ArbGG ist es, in Zweifelsfällen der Einigungsstelle selbst die Prüfung ihrer Zuständigkeit zu überlassen und so eine beschleunigte Durchführung des Einigungsstellenverfahrens zu ermöglichen (ErfK - Eisemann, a. a. O. Rn. 3 zu § 98 ArbGG).

Aus alledem folgt, dass für den Fall, dass auch nur eine der Betriebsparteien im Bestellungsverfahren gemäß § 98 ArbGG eine gemeinsame Verhandlung von Interessenausgleich und Sozialplan im Rahmen einer Einigungsstelle anstrebt, das Arbeitsgericht einem hierauf gerichteten (Wider-) Antrag zu entsprechen und eine gemeinsame Einigungsstelle zu bestellen hat.

2. Hinsichtlich des Vorsitzes der Einigungsstelle hat es bei der vom Arbeitsgericht getroffenen Auswahl zu verbleiben. Das Gericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die von den Beteiligten jeweils vorgeschlagenen Vorsitzenden aufgrund ihrer langjährigen Berufserfahrungen als Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Berlin und einer Vielzahl von ihnen geleiteter Einigungsstellen für den Vorsitz der begehrte(n) Einigungsstelle(n) geeignet sind. Dies wurde von den Beteiligten für den jeweils von der Gegenseite vorgeschlagenen Richter auch in der Beschwerdeinstanz nicht nur nicht in Abrede gestellt, sondern es wurden ausdrücklich keine Einwände erhoben.

Das von der Arbeitgeberin für die Einsetzung ihres Wunschkandidaten angeführte "Müller-Prinzip" (Wer zuerst kommt, mahlt zuerst) ist kein taugliches Auswahlkriterium. Als rein formales Argument würde es dem Gericht zwar die Auswahlentscheidung erleichtern; eine entsprechende Praxis birgt aber die auf der Hand liegende Gefahr, dass die Betriebsparteien aus steter Sorge, beim Bestellungsverfahren nur "zweiter Sieger" zu werden, die Verhandlungen im Vorfeld einer Einigungsstelle nicht mit der notwendigen Unbefangenheit und Intensität durchführen.

Nachdem sich die Parteien auch in der mündlichen Verhandlung vom 24.01.2006 nicht auf einen der drei ihnen seitens des Beschwerdegerichts vorgeschlagenen Kompromisskandidaten einigen konnten, bestand für das Beschwerdegericht kein Anlass, die vom Arbeitsgericht getroffene Auswahl zu korrigieren.

3. Zu Recht hat das Arbeitsgericht auch die Zahl der von den Beteiligten für die Einigungsstelle(n) jeweils zu benennenden Beisitzer auf drei festgesetzt. Das Beschwerdegericht schließt sich den zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts in dem angefochtenen Entschluss an und sieht von einer bloß wiederholenden Darstellung ab (§ 69 Abs. 2 ArbGG analog).

III.

Einer Kostenentscheidung bedurfte es nicht, da im Verfahren nach § 2 a ArbGG Kosten nicht erhoben werden.

IV.

Gegen diese Entscheidung ist ein weiteres Rechtsmittel nicht gegeben, § 98 Abs. 2 Satz 4 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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