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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 27.04.2005
Aktenzeichen: 17 Sa 2646/04
Rechtsgebiete: KSchG, EGRL 98/59


Vorschriften:

KSchG §§ 17 ff.
EGRL 98/59 Art. 2
EGRL 98/59 Art. 3
EGRL 98/59 Art. 4
Ein Arbeitgeber, der seine Verpflichtungen aus § 17 KSchG nach Maßgabe der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erfüllte und deshalb die Massenentlassungsanzeige nicht vor Ausspruch der Kündigungen, sondern vor der tatsächlichen Beendigung der Arbeitsverhältnisse vornahm, durfte bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 - C-188/03 - darauf vertrauen, dass ein Verstoß gegen § 17 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil

17 Sa 2646/04

Verkündet am 27.4.2005

In Sachen

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 17. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 23.03.2005 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dreßler als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Otto und Kayser

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 2. November 2004 - 47 Ca 9354/04 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten vor allem über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Die Beklagte beschäftigte die Klägerin seit dem 13. Oktober 1987 als Produktionshelferin in ihrem Werk Berlin gegen eine monatliche Bruttovergütung von zuletzt 1.880,00 EUR.

Nachdem die Beklagte mit dem Betriebsrat am 20. Februar 2004 einen Interessenausgleich zur Durchführung einer beabsichtigten Stilllegung des Betriebes abgeschlossen hatte, hörte sie den Betriebsrat mit Schreiben vom 17. März 2004 (Kopie Bl. 34 f. d. A.) zu der beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin an. Der Betriebsrat gab das Anhörungsschreiben, versehen mit der Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden, am 24. März 2004 zurück, ohne sich inhaltlich zu der beabsichtigten Kündigung zu äußern.

Die Beklagte kündigte die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer des Werks Berlin. Sie zeigte der damaligen Bundesanstalt für A. am 15. Dezember 2003 und 14. Juni 2004 die Entlassung der Arbeitnehmer an. Durch bestandskräftige Bescheide vom 9. Februar und 12. Juli 2004 legte die Bundesanstalt für A. Sperrfristen fest und entschied, dass ein Teil der Entlassungen nicht anzeigepflichtig sei; wegen der Einzelheiten der Bescheide wird auf Bl. 70 ff. d.A. verwiesen.

Mit ihrer am 13. April 2004 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 21. April 2004 zugestellten Klage hat sich die Klägerin gegen die mit Schreiben vom 25. März 2004 erfolgte Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses zum 31. Juli 2004 gewandt und die Verurteilung der Beklagten zur vorläufigen Weiterbeschäftigung begehrt. Nachdem sie zunächst lediglich die soziale Rechtfertigung der Kündigung und eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung in Abrede gestellt hatte, hat sie erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 2. November 2004 mit Nichtwissen bestritten, dass eine Massenentlassungsanzeige erfolgt sei. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Von der weiteren Darstellung des erstinstanzlichen Sachverhalts wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage durch ein am 2. November 2004 verkündetes Urteil abgewiesen. Die Kündigung sei sozial gerechtfertigt, da das Werk Berlin der Beklagten stillgelegt worden und eine Sozialauswahl nicht habe durchgeführt werden müssen. Das Vorbringen der Klägerin zu der Anzeige von Massenentlassungen hat das Arbeitsgericht als verspätet zurückgewiesen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Gegen dieses ihr am 3. Dezember 2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. Dezember 2004 eingelegte Berufung der Klägerin, die sie mit einem am 3. Februar 2005 eingegangenen Schriftsatz begründet hat.

Die Klägerin hält die Kündigung weiterhin für rechtsunwirksam. Sie bestreitet weiterhin, dass die Beklagte sich zur Stilllegung des Werkes Berlin entschlossen und diese dann durchgeführt habe. Die Beklagte hätte ihr - so meint die Klägerin - eine Weiterbeschäftigung in anderen Niederlassungen anbieten und eine Sozialauswahl mit den dort beschäftigten Arbeitnehmern durchführen müssen. Die Klägerin hält ferner die erfolgte Betriebsratsanhörung für nicht ordnungsgemäß. Die Beklagte habe den Betriebsrat unzureichend über die Kündigungsgründe unterrichtet und ihm wider besseres Wissen mitgeteilt, dass sie lediglich gegenüber einem Kind unterhaltspflichtig sei. Auch werde bestritten, dass der Betriebsrat bereits am 17. März 2004 angehört worden sei; eine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats könne in der Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden nicht gesehen werden. Schließlich habe die Beklagte die §§ 17 ff. KSchG verletzt, indem sie das vorgesehene Konsultations- und Anzeigeverfahren nicht vor Ausspruch der Kündigung durchgeführt habe; dies führe unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 - Rs. C-188/03 - ebenfalls zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die in diesem Zusammenhang erfolgte Zurückweisung ihres Vorbringens sei zu Unrecht erfolgt.

Die Klägerin beantragt,

unter Änderung des Urteils des Arbeitsgerichts Berlin vom 2. November 2004 - 47 Ca 9354/04 -

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 25. März 2004 nicht aufgelöst ist,

2. die Beklagte zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Produktionshelferin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Kündigung sei sozial gerechtfertigt, da infolge der Stilllegung des Werkes Berlin eine Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin nicht mehr bestanden habe; auch sei eine Weiterbeschäftigung der Klägerin nicht möglich gewesen. Da alle Arbeitnehmer des Betriebes gekündigt worden seien, habe sie auch eine Sozialauswahl nicht durchführen müssen. Die Kündigung sei nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats erfolgt. Die Entlassung der Arbeitnehmer sei aufgrund der bestandskräftigen Bescheide der Bundesanstalt für A. als rechtswirksam anzusehen. Sollte sich das damalige Verfahren im Hinblick auf die genannte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs als fehlerhaft erweisen, führe dies nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung; jedenfalls stehe ihr insoweit ein Vertrauensschutz zu.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

1.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung vom 25. März 2004 aufgelöst worden.

1.1.

Die Kündigung ist nicht gemäß § 1 Abs. 1, 2 KSchG rechtsunwirksam. Sie ist durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, die der Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstehen.

Dringende betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung liegen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts u.a. vor, wenn der Arbeitgeber seinen Betrieb stilllegt und hierdurch ein Beschäftigungsbedarf für den gekündigten Arbeitnehmer nicht mehr besteht. Die Kündigung kann dabei auch schon vor der beabsichtigten Stilllegung erfolgen, wenn die betrieblichen Umstände "greifbare Formen" angenommen haben. Es muss aufgrund einer vernünftigen, betriebswirtschaftlichen Betrachtung zu erwarten ist, dass zum Zeitpunkt des Kündigungstermins mit einiger Sicherheit die erforderlichen betrieblichen Gründe für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegeben sein werden (vgl. hierzu nur BAG, Urteil vom 28. Oktober 2004 - 8 AZR 391/03 - demnächst AP Nr. 69 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; Urteil vom 27. November 2003 - 2 AZR 48/03 - AP Nr. 64 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl, jeweils m.w.N.).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Nach dem Sachvortrag der Beklagten hat sie sich am 2. Oktober 2003 zur Verlagerung der Fertigung aus dem Werk Berlin und zur Stilllegung dieses Betriebes entschlossen. Sie hat im Anschluss daran hierüber mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich abgeschlossen, die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer gekündigt und nach ihrer Behauptung den Betrieb mit dem 30. Juni 2004 endgültig stillgelegt. Die Klägerin ist diesem Sachvortrag nicht hinreichend entgegengetreten. Sie hat insbesondere keine Umstände dargetan, die auf eine Fortsetzung des Betriebs über den genannten Stilllegungszeitpunkt hinaus hindeuten könnten. Bei dieser Sachlage ist die Berufungskammer davon überzeugt (§ 286 Abs. 1 ZPO), dass die Beklagte den Betrieb nicht nur vor Ablauf der Kündigungsfrist stillgelegt hatte, sondern dass diese Maßnahme und der auf ihr beruhende Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für die Klägerin im Zeitpunkt der Kündigung auch hinreichend sicher absehbar waren.

Die Kündigung erweist sich auch nicht deshalb als sozial ungerechtfertigt, weil die Beklagte die Klägerin an anderer Stelle hätte weiterbeschäftigen können. Zwar ist eine Kündigung wegen dringender betrieblicher Erfordernisse nicht bedingt, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, den Arbeitnehmer anderweitig auf einem freien Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 24. Juni 2004 - 2 AZR 326/03 - AP Nr. 76 zu § 1 KSchG 1969). Der Arbeitgeber muss auf das Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit jedoch erst eingehen, wenn der Arbeitnehmer seinerseits hinreichend deutlich macht, wie er sich die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses vorstellt. Der Arbeitnehmer muss daher erläutern, an welchen Betrieb er denkt und welche Art von Beschäftigung gemeint ist (BAG; Urteil vom 17. September 1998 - 2 AZR 419/97 - AP Nr. 148 zu § 626 BGB; Urteil vom 24. März 1983 - 2 AZR 21/82 - AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung). Diesen Anforderungen wird der Vortrag der Klägerin nicht gerecht. Sie hat lediglich geltend gemacht, die Beklagte habe ihr eine Weiterbeschäftigung in ihren weiteren Niederlassungen anbieten müssen, ohne dass sie dies örtlich eingegrenzt oder die Art der angestrebten Beschäftigung bezeichnet hätte. Bei dieser Sachlage war es seitens der Beklagten ausreichend, auf den Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für die Klägerin in dem Werk Berlin und dem Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in anderen Betrieben hinzuweisen.

1.2.

Die Kündigung ist auch nicht gemäß § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Die Beklagte hatte eine Sozialauswahl nicht vorzunehmen, da die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer des Werkes Berlin gekündigt wurden. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang meint, die Beklagte hätte eine Sozialauswahl unter Einbeziehung der Arbeitnehmer weiterer Niederlassungen durchführen müssen, trifft dies nicht zu. Die Sozialauswahl ist betriebsbezogen und erstreckt sich daher nicht auf andere Betriebe des Unternehmens (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 3. Juni 2004 - 2 AZR 577/03 - demnächst AP Nr. 141 u § 102 BetrVG 1972). Anhaltspunkte dafür, dass andere Niederlassungen der Beklagten dem Betrieb Berlin zuzuordnen und daher in die Sozialauswahl einzubeziehen waren, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

1.3.

Die Kündigung ist ferner nicht gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Die Beklagte hat den Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß beteiligt.

Die Beklagte hat den Betriebsrat mit dem Anhörungsschreiben vom 17. März 2004 ausreichend davon in Kenntnis gesetzt, dass sie das Arbeitsverhältnis der Klägerin wegen einer Schließung des Werkes Berlin durch Ausspruch einer ordentlichen Kündigung zum 31. Juli 2004 beenden will. Es ist dabei unschädlich, dass die Unterrichtung über die Unterhaltspflichten der Klägerin inhaltlich unzutreffend war. Selbst wenn der Beklagten bekannt gewesen sein sollte, dass die Klägerin entgegen den Angaben auf der Lohnsteuerkarte für zwei Kinder unterhaltsverpflichtet ist, führt die anders geartete Mitteilung in dem Anhörungsschreiben nicht zu einer Unwirksamkeit der Kündigung. Für die Beklagte kam eine Sozialauswahl wegen der Stilllegung des gesamten Betriebes nicht in Betracht. Die Unterhaltsverpflichtungen der Klägerin waren daher für ihren Kündigungsentschluss ohne Belang. Bei dieser Sachlage war die Beklagte schon nicht verpflichtet, den Betriebsrat überhaupt von den Unterhaltsverpflichtungen der Klägerin zu unterrichten (BAG, Urteil vom 13. Mai 2004 - 2 AZR 329/03 - demnächst AP Nr. 140 zu § 102 BetrVG); umso weniger führt eine nur teilweise unrichtige Angabe der Unterhaltspflichten zu einer fehlerhaften Betriebsratsanhörung.

1.4.

Die Kündigung ist schließlich nicht wegen eines Verstoßes der Beklagten gegen ihre Pflichten aus § 17 KSchG rechtsunwirksam.

1.4.1.

Das Vorbringen der Klägerin, die Beklagte habe im Zusammenhang mit der Kündigung gegen § 17 KSchG verstoßen, ist allerdings nicht gemäß § 67 Abs. 1 ArbGG unberücksichtigt zu lassen. Nach dieser Vorschrift bleiben Angriffs- und Verteidigungsmittel im Berufungsverfahren ausgeschlossen, die im ersten Rechtszug zu Recht zurückgewiesen worden sind. Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. So kam eine Zurückweisung des Vorbringens der Klägerin nach §§ 61a Abs. 5, 56 Abs. 2 ArbGG schon deshalb nicht in Betracht, weil das Arbeitsgericht die mit Beschluss vom 28. Mai 2004 erfolgte Fristsetzung nicht mit einer konkreten Auflage verbunden hat; die allgemeine Aufforderung, auf das Vorbringen der Beklagten zu erwidern, genügt hierfür nicht (Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 5. Aufl. 2004, § 56 Rn. 21, § 61a Rn. 17). Auch kann ein verspätetes Vorbringen nur zu der erforderlichen Verzögerung des Rechtsstreits führen, wenn es erheblich und nicht unstreitig ist. Hierzu hat das Arbeitsgericht keine Feststellungen getroffen. Es hat weder ausgeführt, warum ein Verstoß gegen § 17 KSchG zu einem zumindest teilweisen Erfolg der Klage geführt hätte, noch hat es die Beklagte aufgefordert, sich - ggf. in einem nachgelassenen Schriftsatz (§ 283 ZPO) - zu dem verspäteten Vorbringen zu äußern, um so zu klären, ob das Vorbringen der Klägerin bestritten wird. Eine Zurückweisung des Vorbringens wegen der Verletzung der Prozessförderungspflicht (§§ 282 Abs. 1 ZPO, 296 Abs. 2 ZPO) kam darüber hinaus schon deshalb nicht in Betracht, weil das Arbeitsgericht eine grobe Nachlässigkeit der Klägerin bzw. ihres Prozessbevollmächtigten nicht festgestellt hat. Schließlich hat das Arbeitsgericht der Klägerin hinsichtlich der beabsichtigten Zurückweisung ihres Vorbringens kein rechtliches Gehör gewährt und ihr damit keine Möglichkeit gegeben, die Verspätung ihres Vorbringens zu entschuldigen. Bei dieser Sachlage kam eine Zurückweisung des Vorbringens nicht in Betracht.

1.4.2.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts führt ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Anzeigepflicht nach § 17 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung (zuletzt BAG, Urteil vom 18. September 2003 - 2 AZR 79/02 - AP Nr. 14 zu § 17 KSchG 1969 m.w.N.). Die Anzeigepflicht beziehe sich nicht auf die Kündigungserklärung, sondern an die Entlassung des Arbeitnehmers, d.h. der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Liege in dem Entlassungszeitpunkt die erforderliche Zustimmung der Arbeitsverwaltung nicht vor, so führe dies lediglich zu einer Entlassungssperre, während die Wirksamkeit der Kündigung hiervon unberührt bleibe. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 98/59 EG (Massenentlassungsrichtlinie - MERL). Diese finde im nationalen Recht keine unmittelbare Anwendung; die §§ 17 ff. KSchG könnten nicht richtlinienkonform dergestalt ausgelegt werden, dass ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die MERL die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge habe. Auch seien die Gerichte für Arbeitssachen an die in einer bestandskräftigen Zustimmung der Arbeitsverwaltung liegende Feststellung gebunden, dass der Arbeitgeber eine wirksame Massenentlassungsanzeige vorgenommen hat (BAG, Urteil vom 24. Oktober 1996 - 2 AZR 895/95 - AP Nr. 8 zu § 17 KSchG 1969).

Bei Anwendung dieser Rechtsprechung ist die streitbefangene Kündigung nicht rechtsunwirksam. Es kann schon nicht angenommen werden, dass die Beklagte ihre Verpflichtungen nach § 17 KSchG verletzt hat, nachdem die Arbeitsverwaltung durch bestandskräftige Entscheidungen den Entlassungen zugestimmt bzw. festgelegt hat, dass anzeigepflichtige Entlassungen nicht vorlagen. Vor allem führt ein - einmal angenommener - Verstoß nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

1.4.3.

Der Europäische Gerichtshof hat demgegenüber durch Urteil vom 27. Januar 2005 - Rs. C-188/03 (NZA 2005, 213 ff.) auf einen Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 - 36 Ca 19726/02 - (ZIP 2003, 1265 ff.) zur MERL entschieden, dass der dort verwendete Begriff "Entlassung" die Kündigungserklärung des Arbeitgebers bezeichnet. Der Arbeitgeber darf danach Kündigungen erst nach Ende des Konsultationsverfahrens mit der Arbeitnehmervertretung und nach Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde aussprechen.

1.4.4.

Welche Auswirkungen die genannte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf die Anwendung der §§ 17 ff. KSchG hat, ist umstritten. So wird zum einen vertreten, es müsse bis zu einer gesetzlichen Neuregelung bei der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bleiben. Die §§ 17 ff. KSchG stellten auf den Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und nicht auf die Kündigungserklärung ab. Der Gesetzeswortlaut sei insoweit eindeutig; eine richtlinienkonforme Auslegung der Vorschriften komme nicht in Betracht (ArbG Krefeld, Urteil vom 14. April 2005 - 1 Ca 3731/04 - DB 2005, 892 ff.; Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445 ff.; Grimm/Brock, EWiR 2005, 213 f.). Demgegenüber halten andere eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts für geboten; bei Massenentlassungen führe daher ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die von dem Europäischen Gerichtshof ausgestellten Grundsätze zur Unwirksamkeit der Kündigung (Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; Wolter, ArbuR 2005, 135 ff.).

1.4.5.

Es kann im vorliegenden Fall offen bleiben, welcher der genannten Auffassungen zu folgen ist. Die Beklagte kann für sich allerdings nicht in Anspruch nehmen, sie habe vor Ausspruch der streitbefangenen Kündigung das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchgeführt und eine ordnungsgemäße Anzeige bei der Arbeitsverwaltung vorgenommen. Denn im Zeitpunkt der Anzeige vom 15. Dezember 2003 waren die Konsultationen mit dem Betriebsrat noch nicht abgeschlossen; die Anzeige vom 14. Juni 2004 erfolgte zwar nach Abschluss des Interessenausgleichs, aber nicht vor Ausspruch der Kündigung. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verbietet es jedoch, die Wirksamkeit der Kündigung an einer Anwendung der §§ 17 ff. KSchG nach Maßgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 scheitern zu lassen.

Eine Partei kann allerdings nicht uneingeschränkt auf den Fortbestand einer höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen. Gerichtliche Entscheidungen, die wie im vorliegenden Fall die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts betreffen, wirken auf einen in der Vergangenheit liegenden, aber noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt ein. Die Gerichte sind bei ihrer Rechtsfindung aber in aller Regel nicht an eine feststehende Rechtsprechung gebunden, die sich im Lichte besserer Erkenntnis als nicht mehr haltbar erweist; die Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung wirkt daher grundsätzlich zurück. Eine Einschränkung dieser Rückwirkung ist jedoch in Fällen geboten, in denen die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbar gelagerte Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Harte bedeuten würde (BAG, Urteil vom 18. Januar 2001 - 2 AZR 616/99 - AP Nr. 1 zu § 28 LPVG Niedersachsen; BGH, Urteil vom 29. Februar 1996 - IX ZR 153/95 - NJW 1996, 1467 ff., jeweils m.w.N.).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Die Beklagte musste im Zeitpunkt der Kündigung nicht damit rechnen, dass ihre Kündigung wegen einer richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 ff. KSchG für rechtsunwirksam erklärt wird. Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinem Urteil vom 18. September 2003 - 2 AZR 79/02 - wenige Monate vor Ausspruch der Kündigung - seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und dabei entschieden, dass ein Verstoß des Arbeitgebers gegen § 17 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führt; dies folge auch nicht aus einer richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 ff. KSchG. Auch die Arbeitsverwaltung hat bei ihren Bescheiden darauf abgestellt, dass die Pflicht zur Anzeige sich auf die tatsächliche Beendigung der Arbeitsverhältnisse, nicht aber auf den Ausspruch der Kündigungen bezieht. Demgegenüber war für die Beklagte zur damaligen Zeit nicht erkennbar, dass die genannte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wegen einer anders lautenden Auslegung der MERL in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 möglicherweise nicht aufrechterhalten werden kann. Auch wenn der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 bereits vorlag, musste die Beklagte angesichts der eindeutigen Rechtsprechung des für sie zuständigen höchsten Gerichts für Arbeitssachen und der hierauf beruhenden Verwaltungspraxis der damaligen Bundesanstalt für A. nicht davon ausgehen, dass die Kündigung aufgrund eines durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hervorgerufenen "Systemwechsels" im Recht der Massenentlassungen (Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97ff., 103) unwirksam sein könnte. Es würde für die Beklagte auch eine unzumutbare Härte bedeuten, wollte man der Kündigung die Wirksamkeit versagen. Die Beklagte wäre gezwungen, das Arbeitsverhältnis der Klägerin erneut zu kündigen und zumindest die Vergütung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzuzahlen, obwohl sie nach den §§ 1 ff. KSchG berechtigt war, das Arbeitsverhältnis aufzulösen und sie allen für sie erkennbaren formalen Erfordernissen gerecht geworden ist. Selbst wenn man von ihr hätte erwarten wollen, dass sie unmittelbar nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 erneut eine weitere Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausspricht, hätte dies - bei einer erneuten Anhörung des Betriebsrats und ggf. eines weiteren Verfahrens nach den §§ 17 ff. KSchG - zu einer Verlängerung des Arbeitsverhältnisses um ein Jahr geführt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass auch die weiteren im Zusammenhang mit der Schließung des Werkes Berlin ausgesprochenen Kündigungen unwirksam sein können, was ggf. die wirtschaftliche Belastung der Beklagten um ein Vielfaches steigern würde. Die Interessen der Klägerin an dem Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses wiegen vor diesem Hintergrund weniger schwer und müssen letztlich zurücktreten. Die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses war - wie ausgeführt - sozial gerechtfertigt. Auch ist nicht erkennbar, dass die Kündigung bei einem richtlinienkonformen Vorgehen der Beklagten nicht ausgesprochen worden wäre. Die Konsultationen der Beklagten mit dem Betriebsrat waren vor Ausspruch der Kündigung abgeschlossen; die Beklagte hätte daher lediglich im Anschluss daran eine Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsverwaltung erstatten müssen, um rechtswirksam die Kündigung erklären zu können. Bei dieser Sachlage ist es aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht gerechtfertigt, die streitbefangene Kündigung für unwirksam zu erklären.

2.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine vorläufige Weiterbeschäftigung, nachdem ihre Kündigungsschutzklage auch zweitinstanzlich ohne Erfolg geblieben ist und besondere Umstände, die gleichwohl eine tatsächliche Beschäftigung der Klägerin geboten erscheinen lassen, weder vorgetragen noch ersichtlich sind.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

4.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision lagen nicht vor. Der Rechtssache kommt insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG vor. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt nicht von einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage ab. Die Voraussetzungen, unter denen eine Partei bei einer Änderung der Rechtsprechung Vertrauensschutz in Anspruch nehmen kann, ist höchstrichterlich geklärt; die Berufungskammer hat die insoweit entwickelten Grundsätze in dem vorliegenden Fall lediglich angewendet. Im Übrigen wird zukünftig nicht mehr zu beurteilen sein, ob ein Arbeitgeber auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den §§ 17 ff. KSchG vertrauen durfte, weil nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 - Rs. C-188/03 - jeder Arbeitgeber damit rechnen muss, dass ein Gericht eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG für erforderlich hält. Das Urteil weicht - soweit ersichtlich - nicht von einer ober- oder höchstrichterlichen Entscheidung i.S.d. § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG ab.

Ende der Entscheidung

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