Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 09.05.2003
Aktenzeichen: 6 Sa 42/03
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1
KSchG § 1 Abs. 3 Satz 2
Aus einer mehrjährigen Tätigkeit gewonnene Fachkenntnisse und ressortspezifische Kontakte nehmen den Redakteuren des Ressorts einer Tageszeitung weder die Vergleichbarkeit mit einem entlassenen Kollegen, der im Laufe der Jahre bereits in verschiedenen Ressorts tätig war, noch begründen sie ein berechtigtes betriebliches Bedürfnis, das einer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten entgegenstünde.
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil

6 Sa 42/03

Verkündet am 09.05.2003

In dem Rechtsstreit

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, Kammer 6, auf die mündliche Verhandlung vom 09.05.2003 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Corts sowie die ehrenamtlichen Richter Köster und Förster für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 05. November 2002 - 34 Ca 18919/02 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am ...... 1954 geborene Kläger ist studierter Politologe. Er wurde zum 1. Oktober 1990 als Redakteur für die Redaktion der B. Z. eingestellt und zuletzt als Lokalredakteur für die Bezirke Sp. und R. eingesetzt.

Vor dem Hintergrund von Auflagenverlust und Anzeigenrückgang beschloss die Beklagte am 5. März 2002 den Umfang ihrer Lokalberichterstattung einzuschränken und durch Reduzierung dieses Bereichs von sechs auf vier Redakteure Personalkosten zu sparen. Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte sie deshalb unter anderem dem Kläger mit Schreiben vom 27. Juni 2002 fristgemäß zum Jahresende und stellte ihn auch sofort von der Arbeit frei.

Das Arbeitsgericht Berlin hat auf die hiergegen gerichtete Klage festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch diese Kündigung nicht aufgelöst worden sei, und die Beklagte zugleich verurteilt, den Kläger bis zur rechtskräftigen Beendigung des Rechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Redakteur weiter zu beschäftigen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei jedenfalls deshalb unwirksam, weil die Beklagte die Sozialauswahl fehlerhaft vorgenommen habe. Da der Kläger einen Arbeitsvertrag mit der Funktionsbezeichnung "Redakteur" geschlossen habe, sei er nicht nur mit den wenigen Kollegen vergleichbar, die innerhalb des Lokalressorts die Berichterstattung über die Bezirke übernommen hätten. Aufgrund seiner Sozialdaten sei der Kläger aber unstreitig etlichen Redakteuren des Lokalbereichs der B. Z. unterlegen. Da die Kündigung unwirksam sei, habe der Kläger nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch Anspruch auf Weiterbeschäftigung.

Gegen dieses ihr am 5. Dezember 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 6. Januar 2003, einem Montag, eingelegte und am 5. März 2003 nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist begründete Berufung der Beklagten. Sie ist der Ansicht, dass der Kläger schon nicht mit den anderen Redakteuren im Bereich Lokales und erst recht nicht mit Redakteuren anderer Ressorts vergleichbar sei, weil diese jeweils über fachspezifische Kenntnisse und vertrauliche Kontakte zu Informanten und Ansprechpartnern verfügten. Die dafür notwendige Fortbildungs- und Einarbeitszeit für den Kläger wäre erheblich und auf mindestens einige Monate zu veranschlagen gewesen. Die spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten der weiterbeschäftigten Redakteure stellten zudem berechtigte betriebliche Bedürfnisse dar, die deren Herausnahme aus der Sozialauswahl erfordert hätte, wie die Beklagte für jeden Einzelnen ausführt. Ohne deren journalistische Leistung würde die B. Z. insgesamt an Leistungsfähigkeit verlieren und nicht mehr denselben Anklang beim Publikum finden wie bisher. Bei der kündigungsrechtlichen Beurteilung dieser Fragen sei auch ihr verfassungsrechtlich verbürgter Tendenzschutz zu berücksichtigen, weshalb sie nicht gezwungen werden dürfe, etwa einen Redakteur für Politik als Sportreporter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er tritt der Ansicht der Beklagten zur Frage der Vergleichbarkeit und dem Vorliegen berechtigter betrieblicher Bedürfnisse entgegen und verweist auf seinen beruflichen Werdegang in verschiedenen Redaktionen der B. Z. und auch sonst in erheblichem Maße in der Zeit nach 1998 vorgenommene Ressortwechselnde Versetzungen gemäß einer Aufstellung der dem Widerspruchsschreiben des Betriebsrats beigefügten Anlage (Ablichtung Bl. 168 d.A.). Außerdem hätte er auf der freien Stelle eines Wissenschaftsredakteurs weiter beschäftigt werden können, die von der Beklagten mit einem zuvor als Politikredakteur beschäftigten Kollegen besetzt worden sei. Sein Weiterbeschäftigungsanspruch ergebe sich bereits aufgrund des vom Betriebsrat auf fehlerhafte Sozialauswahl gestützten Widerspruchs.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung ist zulässig.

Insbesondere ist sie von der Beklagten gemäß §§ 222 Abs. 2, 525 Satz 1 ZPO, §§ 64 Abs. 6 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG fristgemäß eingelegt und begründet worden. Dass sich die Beklagte nicht ausdrücklich mit den Ausführungen des Arbeitsgerichts zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers auseinandergesetzt hat, wie dies an sich gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO für eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung erforderlich ist, war unschädlich. Es handelte sich um einen sog. Folgeanspruch, dessen Bestand von der Entscheidung über den Kündigungsschutzantrag unmittelbar abhing.

2. Die Berufung ist sachlich unbegründet.

2.1 Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 27. Juni 2002 nicht aufgelöst worden.

Auch wenn die Kündigung nach der insoweit schlüssigen Darstellung der Beklagten durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt war, die einer Weiterbeschäftigung mehrerer Redakteure entgegen standen (§ 1 Absatz 2 Satz 1 Alt. 3 KSchG), war sie trotzdem gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 KSchG sozial ungerechtfertigt, weil die Beklagte bei der Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt hat.

2.1.1 Entgegen der Ansicht der Beklagten hatte eine Sozialauswahl nicht von vornherein mangels Vergleichbarkeit des Klägers mit seinen weiterbeschäftigten Kollegen zu unterbleiben.

2.1.1.1 Vergleichbarkeit setzt zunächst voraus, dass der zur Entlassung anstehende Arbeitnehmer kraft Direktionsrechts des Arbeitgebers gegen einen anderen Arbeitnehmer ausgetauscht werden kann (BAG, Urteil vom 17.9.1998 - 2 AZR 725/97 - AP KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 36 zu II 2a der Gründe). Außerdem muss er nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 5.5.1994 - 2 AZR 917/93 - AP KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 23 zu II 3c der Gründe; a.A. ArbR-BGB/Corts, 2. Aufl., 2002, § 620 R 677) aufgrund seiner Ausbildung und Fähigkeiten in der Lage sein, die Tätigkeit seines Kollegen innerhalb kurzer Einarbeitungszeit zu übernehmen. Dies war entgegen der Ansicht der Beklagten hinsichtlich diverser Kollegen des Klägers zumindest im Ressort Lokales der Fall.

2.1.1.2 Nach seiner insoweit unwidersprochenen Darstellung war der Kläger vor seiner Beschäftigung als Bezirksredakteur für Sp. und R. zunächst bis Februar 1991 in der Nachrichtenredaktion tätig. Anschließend wurde er bis Mai 1992 in der Was-Wann-Wo-Redaktion eingesetzt, wo es schwerpunktmäßig um die Erarbeitung von Veranstaltungs- und Szenetipps ging. Bis August 1997 arbeitete der Kläger in der Redaktion der Sp. Rundschau, einer Beilage für Leser in diesem Bezirk. Dort war er zwei Jahre lang auch kommissarischer Leiter der Redaktion. In der Folgezeit wurde der Kläger als Bezirksredakteur für P. und W. eingesetzt. Erst ab Februar 1999 war er dann schwerpunktmäßig als Bezirksredakteur für Sp. und R. tätig, wobei er aber auch Beiträge für die Szene-Seite und andere Seiten lieferte.

Angesichts dieses Werdegangs und der früheren Tätigkeit des Klägers als Auslandskorrespondent des ADN in Afrika hatte die Kammer keinen Zweifel, dass z.B. seine Kollegen A, B, H, H, K und R in ihren Tätigkeitsbereichen, dem Bezirk M. bzw. Br./Umland bzw. Reportage/Freizeit/Szene, jeweils nur über einen Routinevorsprung verfügten, den der Kläger innerhalb weniger Wochen hätte aufholen können. Dies um so eher, wenn er seine Kollegen bei ihrer Tätigkeit hätte begleiten und dadurch auch ihre Kontaktpersonen hätte kennen lernen können, was unschwer möglich gewesen wäre, wie seine sofortige Freistellung durch die Beklagte zeigt.

2.1.2 Einer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten standen auch keine berechtigten betrieblichen Bedürfnisse der Beklagten entgegen, die eine Weiterbeschäftigung seiner Kollegen bedingten.

2.1.2.1 Die Herausnahme an sich vergleichbarer Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG erfordert, dass deren Weiterbeschäftigung zur Aufrechterhaltung eines geordneten Betriebsablaufs oder zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Betriebs notwendig ist und dem Interesse des Arbeitgebers an ihrer Weiterbeschäftigung ein größeres Gewicht als den Belangen des sozial schwächeren Arbeitnehmers zukommt. Dies kann sich aufgrund von Spezialkenntnissen, Kontakten oder erheblichen Leistungsunterschieden ergeben. Damit das betriebliche Bedürfnis des Arbeitgebers auch als berechtigt anerkannt werden kann, müssen die Gründe für die Herausnahme sog. Leistungsträger um so gewichtiger sein, desto schwerer das soziale Interesse des entlassenen Arbeitnehmers wiegt (BAG, Urteil vom 12.4.2002 - 2 AZR 706/00 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 56 zu II 4b, bb (1)). Dies war vorliegend nicht erkennbar.

2.1.2.2 Soweit die Beklagte sich auf Fachkenntnisse und ressortspezifische Kontakte der Kollegen des Klägers berufen hat, mögen diese zwar eine gewisse Zeitlang für die Wahrung ihres Qualitätsstandards nützlich sein. Dafür, dass der Kläger nicht in der Lage gewesen sein soll, sich diese Kenntnisse, sofern aufgrund früherer Tätigkeit in diesen Bereichen nicht ohnehin schon vorhanden, innerhalb kurzer Zeit ebenfalls zu verschaffen und entsprechende Kontakte zu knüpfen, gab es angesichts seiner reichen Berufserfahrung keine Anhaltspunkte. Dies galt in besonderem Maße für die Lokalredakteurin G., die lediglich als Vertretung für eine Elternzeit nehmende Kollegin unter Kündigungsvorbehalt befristet bis zum 16. Mai 2003 beschäftigt werden sollte und hinsichtlich deren besonderer Qualifikation die Beklagte überhaupt nichts vorgebracht hat. Hinzu kam, dass es sich nicht um Bereiche handelte, die nur von einem einzigen darauf spezialisierten Redakteur bearbeitet wurden, dem sonst gleichsam eine Schlüsselstellung zugekommen wäre. Gegen eine Qualitätssichernde Spezialisierung sprach schließlich auch die eigene Personalpolitik der Beklagten, die ausweislich der Aufstellung des Betriebsrats in der Anlage zu seinem Widerspruch in den letzten Jahren zahlreiche sogar Ressortübergreifende Versetzungen vorgenommen hatte.

Unter diesen Umständen konnte die Beklagte auch nicht unter Berufung auf ihren durch Art 5 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Tendenzschutz eine Herabsetzung der Anforderungen an ein betriebliches Bedürfnis für sich reklamieren.

2.1.2.3 Selbst wenn aber der Beklagten ein betriebliches Bedürfnis an der Weiterbeschäftigung sämtlicher Kollegen des Klägers zugestanden werden müsste, wäre es doch angesichts der auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellten Fähigkeit des Klägers, zumindest auf längere Sicht seine für den Bezirk M. bzw. Br./Umland zuständigen Kollegen zu ersetzen, einerseits und der schwierigen Arbeitsmarktlage für Redakteure im Alter des Klägers von 48 Jahren, seiner über zehnjährigen Betriebszugehörigkeit und seiner Unterhaltspflichten gegenüber seiner Ehefrau und zwei Kindern andererseits keinesfalls gewichtiger als das Interesse des Klägers an einer Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses.

2.1.3 Dass der Kläger aufgrund der Dauer seiner Betriebszugehörigkeit, seines Lebensalters und seiner Unterhaltspflichten deutlich sozial schutzbedürftiger war als seine weiterbeschäftigten Kollegen, die zum Teil gerade erst vier Jahre in den Diensten der Beklagten standen, viele Jahre jünger waren und weniger Unterhaltspflichten hatten, stand außer Streit (§ 1 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 KSchG). Davon war aus prozessualen Gründen auch hinsichtlich der Elternzeitvertreterin auszugehen, über deren Sozialdaten außer einer offenbar erst kurzen Betriebszugehörigkeit die Beklagte keine weiteren Angaben gemacht und die sie offenbar von vornherein nicht in die Sozialauswahl einbezogen hatte (dazu BAG, Urteil vom 15.6.1989 - 2 AZR 580/88 - BAGE 62, 116= AP KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 18 zu B II 3b, bb der Gründe).

2.2 Der Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers ergab sich nach seinem entsprechenden Verlangen aufgrund des fristgerecht und ordnungsgemäß begründeten Widerspruchs des Betriebsrats bereits aus § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG.

3. Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen.

Die Voraussetzungen des § 72 Abs.2 ArbGG für eine Zulassung der Revision waren nicht erfüllt. Insbesondere kam der Rechtssache auch bei einer grundrechtskonformen Auslegung des § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 KSchG angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten keine grundsätzliche Bedeutung zu.

Ende der Entscheidung

Zurück