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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Urteil verkündet am 10.09.2004
Aktenzeichen: 6 Sa 994/04
Rechtsgebiete: Protokollnotiz


Vorschriften:

Protokollnotiz Nr. 1 zu Teil II Abschnitt G der Anlage 1 a zum BAT
Für die Betreuung einer Wohngemeinschaft mit sechs Behinderten i.S.d. § 39 BSHG steht dem Arbeitnehmer eine tarifvertragliche Heimzulage zu, wenn die Bewohner sich nicht allein eine Ordnung für ihr Zusammenleben gegeben haben, deren Beachtung sie im Wesentlichen allein durchsetzen.
Landesarbeitsgericht Berlin Im Namen des Volkes Urteil

6 Sa 994/04

Verkündet am 10.09.2004

In dem Rechtsstreit

hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 6. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 10.09.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Corts sowie die ehrenamtlichen Richter Ostrop und Scholz

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 03.02.2004 - 47 Ca 142/03 - geändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1227,20 € (eintausendzwei-hundertsiebenundzwanzig 20/100) brutto zu zahlen nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz auf 184,08 € seit dem 01.01.03, auf weitere 736,32 € (siebenhundertsechsunddreißig 32/100) seit dem 01.01.04 und auf weitere 306,80 € seit dem 01.06.04.

3. Die Beklagte hat an den Kläger jeweils zum Letzten eines Monats, beginnend mit Juni 2004, eine Heimzulage in Höhe von 61,36 (einundsechzig 36/100) € brutto zu zahlen.

4. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger steht seit dem 01. September 1988 als Erzieher in den Diensten der Beklagten. Auf sein Arbeitsverhältnis findet kraft arbeitsvertraglicher Verweisung der BAT in seiner jeweiligen Fassung Anwendung.

Der Kläger arbeitet in einer Wohngemeinschaft zusammen mit zwei teilzeitbeschäftigten Kolleginnen. In dieser Wohngemeinschaft sind sechs Bewohner beiderlei Geschlechts untergebracht, bei denen es sich um Behinderte i.S.d. § 39 BSHG handelt. Diese bewohnen selbst möblierte Einzelzimmer auf zwei durch eine Treppe verbundenen Etagen, während Küche, Sanitärräume und Wohnzimmer gemeinschaftlich genutzt werden. Sie bereiten sich ihr Frühstück selbst und gehen danach in einer betreuten Werkstatt einer Arbeit nach. Die Betreuung findet nach ihrer Rückkehr ab 14.15 Uhr statt und geht an Arbeitstagen bis 19.00 oder 20.00 Uhr. Am Wochenende beträgt sie je nach Planung und Bedarf insgesamt zwölf Stunden. Nachtdienst, Nachtbereitschaft und Frühdienst gibt es nicht.

Nach Einräumung einer sechsmonatigen Auslauffrist stellte die Beklagte die Zahlung einer Heimzulage an den Kläger und ihrer anderen in Wohngemeinschaften eingesetzten Mitarbeiter ein.

Der Kläger ist der Ansicht, dass die von ihm betreute Wohngemeinschaft sowohl vom Betreuungsaufwand als auch von der psychologischen Belastung her mit einem klassischen Heim vergleichbar sei. Er verweist auf eine Konzeption für die Wohngemeinschaft 16 (Ablichtung Bl. 65 - 72 d.A.), die auch für die übrigen Wohngemeinschaften gelte.

Das Arbeitsgericht Berlin hat die ursprünglich auf Zahlung der Heimzulage für Oktober und November 2002 und künftige Leistung gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es zunächst auf ein klagabweisendes Urteil einer anderen Kammer in einem ähnlich gelagerten Verfahren vom 02. Juli 2003 - 29 Ca 13027/03 - verwiesen. Unabhängig von der geringen Größe der Wohngemeinschaft sei der Betreuungsaufwand wesentlich geringer als in einem klassischen Heim, in dem rund um die Uhr Betreuer zur Verfügung stünden. Vor allem fehle es an einer die Bewohner in ihrer Lebensführung einschränkenden Hausordnung. Letztlich sei das Konzept der Wohngemeinschaft eher dem "Betreuten Wohnen" zuzurechnen als der Heimerziehung.

Gegen dieses ihm am 30. März 2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. April 2004 eingelegte und am 01. Juni 2004, dem Dienstag nach Pfingsten, eingelegte Berufung des Klägers. Er vertieft seinen Vortrag zur Betreuungsintensität, Kontrolle und sozialen Einbindung der Mitglieder seiner Wohngemeinschaft in Abgrenzung zum betreuten Einzelwohnen mit einer nur gelegentlichen Betreuung. In den Wohnstätten der Beklagten mit ihrer Rundumbetreuung würde neben der Heim- auch eine Schichtzulage gezahlt.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung des angefochtenen Urteils

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn für Oktober bis Dezember 2002 184,08 € brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01. Januar 2003, für Januar bis Dezember 2003 736,32 € brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01. Januar 2004 und für Januar bis Mai 2004 306,80 € brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01. Juni 2004 zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagte an ihn jeweils zum Letzten eines Monats, beginnend mit dem 01. Juni 2004, eine Heimzulage i. H. v. 61,36 € brutto zu zahlen habe.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und meint, es sei nicht erkennbar, inwieweit der Kläger etwa im hypothetischen Fall der Durchsetzung eines Hausverbots oder einer Tierhaltung einer besonderen psychischen Belastung ausgesetzt sei. Dass er darauf achte, dass die Bewohner ihre Pflichten in der Wohngemeinschaft nachkämen, sei eine Selbstverständlichkeit.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung ist zulässig. Sie ist fristgemäß und ordnungsgemäß eingelegt und begründet worden (§§ 222 Abs. 2, 519 Abs. 2 ZPO, § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG).

2. Die Erweiterung des Zahlungsbegehrens und die gleichzeitige Beschränkung auf eine bloße Feststellung ab einem bestimmten Monat war bereits gemäß §§ 264 Nr. 2, 525 ZPO, § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG zulässig, ohne dass es noch auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 533 ZPO ankam (dazu BGH, Urteil vom 19.03.2004 - V ZR 104/03 - NJW 2004, 2152 zu II 2 b der Gründe).

3. Die Klage ist begründet.

3.1 Der Kläger hat Anspruch auf (Weiter-)Zahlung der monatlichen Heimzulage in Höhe von 61,36 € brutto über September 2002 hinaus.

3.1.1 Gemäß der Protokollnotiz Nr. 1 Hs. 1 zu Teil II Abschnitt G der Anlage 1a zum BAT, der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung findet, erhält der Angestellte für die Dauer der Tätigkeit in einem Erziehungsheim, einem Kinder- oder Jugendwohnheim oder einer vergleichbaren Einrichtung (Heim) eine Zulage von 120,-- DM, was 61,36 € entspricht, wenn in dem Heim überwiegend Behinderte i.S.d. § 39 BSHG oder Kinder oder Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten zum Zwecke der Erziehung, Ausbildung oder Pflege ständig untergebracht sind. Dabei kommt es auf ein bestimmtes Alter der behinderten Bewohner nicht an (BAG, Urteil vom 20.04.1994 - 10 AZR 296/93 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 zu II 2 a der Gründe). Die als "Heim" im tariflichen Sinne anzusehende Einrichtung ist dadurch gekennzeichnet, dass eine - in der Regel größere - Zahl von Menschen dort lebt, die in eine nicht durch sie selbst gesetzte Ordnung eingebunden sind und die sich an Regeln halten müssen, die typischer Weise durch eine Heimleitung festgesetzt werden. Erziehung, Ausbildung oder Pflege erfordern die Verwirklichung eines von der Leitung der Einrichtung vorgegebenen Konzepts, dessen Einhaltung organisatorisch sichergestellt werden soll. Eine Organisationsform, mit der im Wesentlichen nur begleitete Selbsthilfe erreicht werden soll, vermag diese Voraussetzung nicht zu erfüllen (BAG, Urteil vom 20.03.2002 - 10 AZR 518/01 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 34 zu II 3 c, bb der Gründe). Dabei kann die Betreuung in einem Heim gerade darin bestehen, schrittweise Selbständigkeit unter Aufsicht einzuüben. Auch ist der Heimcharakter nicht davon abhängig, dass die dort lebenden Bewohner im Sinne einer stationären Vollversorgung rund um die Uhr betreut werden (BAG, Urteil vom 27.09.2000 - 10 AZR 640/99 - ZTR 2001, 177 zu II B 2 b, bb der Gründe).

3.1.2 Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, wie es ja auch der eigenen Beurteilung der Beklagten bis zum Jahre 2002 entsprochen hat.

3.1.2.1 Die Bewohner der vom Kläger betreuten Wohngemeinschaft sind durchweg Behinderte i.S.d. § 39 BSHG.

3.1.2.2 Die Wohngemeinschaft bildet den Lebensmittelpunkt ihrer Bewohner; dass diese dort nicht rund um die Uhr betreut werden und sich morgens allein waschen, anziehen und frühstücken, ist unschädlich. Entscheidend ist vielmehr, dass ihnen nicht überlassen ist, ihr Zusammenleben nach Rückkehr von der Arbeit am Nachmittag und Abend und an den Wochenenden selbst zu organisieren. Vielmehr sind sie Einschränkungen in ihrer Lebensführung unterworfen, die weit über die Beachtung einer Hausordnung hinausgehen, wie sie auch von getrennt wohnenden Mietern eines Miethauses hinsichtlich der Ruhezeiten, des Verschließens der Türen und der Reinigung von Fluren und Kellern zu beachten sind.

3.1.2.3 So ist es den Bewohnern der Wohngemeinschaft verboten, während der Woche Besuch über Nacht zu empfangen. Auch am Wochenende ist Besuch, bei dem es sich zumeist ohnehin nur um Bewohner anderer Wohngemeinschaften der Beklagten handelt, nur nach Absprache mit dem Kläger oder seinen beiden Kolleginnen erlaubt. Auch wenn es keine bestimmte Zeit geben mag, zu der die Bewohner in der Wohngemeinschaft anwesend sein müssen, so müssen sie sich doch dort zunächst nach der Arbeit einfinden und dürfen sie abends nur nach vorheriger Mitteilung verlassen und wird nach der auch insoweit unwidersprochenen Darstellung des Klägers im Verhandlungstermin darauf geachtet, dass sie bis 22.00 Uhr zurückgekehrt sind. Auch wenn zu dieser Zeit weder der Kläger noch eine seiner Kolleginnen in der Wohngemeinschaft noch anwesend sind, findet eine Kontrolle durch die jeweils anderen Bewohner statt, die ein Ausbleiben ggf. telefonisch melden. Hierbei handelt es sich um einschneidende Einschränkungen der persönlichen Lebensführung (BAG, Urteil vom 23.10.2002 - 10 AZR 60/02 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 35 zu II 3 b, ee und ff der Gründe).

3.1.2.4 Weiterer Ausdruck einer fremdbestimmten Ordnung ist das Verbot, größere Tiere zu halten. Auch bei Kleintieren wie Vögeln oder Hamstern ist es Aufgabe des Klägers, deren Abschaffung durchzusetzen, wenn ihr Besitzer nicht in der Lage ist, sie ordnungsgemäß zu versorgen.

3.1.2.5 Auch die Haushaltsführung bleibt den Bewohnern nicht überlassen. Vielmehr wird von den Betreuern ein Konto verwaltet, auf das jeder Bewohner einen festgelegten Betrag zu zahlen hat, wie dies unter 5.2 der Konzeption einer anderen Wohngemeinschaft der Beklagten ausdrücklich niedergelegt ist, der Modellcharakter zukommt.

3.1.2.6 In dieser Konzeption wird unter 3. auch deutlich, dass gegenüber den Bewohnern der Wohngemeinschaft der Beklagten Lernschritte und Ziele verfolgt werden und sie erst noch schrittweise an Belastungen herangeführt werden sollen. Dass dieses Lernen sozialer und lebenspraktischer Kompetenzen und Fertigkeiten unter Wahrung eines größtmöglichen Maßes an Selbstbestimmung erfolgen soll, steht nicht entgegen, sondern ist gerade Voraussetzung für einen Lernerfolg. Hierzu gehört dann auch, dass die Bewohner mit den Betreuern Regeln für ihr Zusammenleben aufstellen. Dies allein zu tun, sich mithin eine im Wesentlichen selbst bestimmte Ordnung zu geben, ist dagegen nicht vorgesehen und mit Rücksicht auf die Behinderungen der Bewohner offenbar auch nicht möglich.

3.1.2.7 Schließlich stand die vergleichsweise geringe Zahl an Bewohnern der Wohngemeinschaft des Klägers deren Heimcharakter nicht entgegen. Auch bei nur sechs Bewohnern ergibt sich bereits eine Fülle sich überschneidender Beziehungen und pflegen sich gruppendynamische Prozesse einzustellen, wenn die betreffenden Personen auf engem Raum ständig zusammenleben müssen.

3.1.2.8 Soweit die Beklagte gemeint hat, die Aufgabe des Klägers, die Erfüllung der Pflichten der Bewohner seiner Wohngemeinschaft zu überwachen, sei eine Selbstverständlichkeit, ändert dies am Bestehen einer solchen Überwachungspflicht nichts. Desgleichen ist nicht erforderlich, dass mit der Pflichterfüllung in jedem Einzelfall eine psychisch belastende Konfliktsituation für den Kläger verbunden ist. Ausreichend ist vielmehr, dass die durch eine fremdbestimmte Ordnung geprägte gemeinsame Unterbringung kontinuierlich eine erhöhte psychische Belastung mit sich bringt, wie dies bei nur gelegentlichen Besuchen im Rahmen eines betreuten Wohnens nicht der Fall ist. Dort wird den ansonsten sich selbst überlassenen Bewohnern lediglich Hilfestellung bei der Bewältigung zwischenzeitlich aufgetretener Probleme geleistet.

3.2 Die Zinsforderung beruht auf § 286 Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1, 614 Satz 2 BGB. Entsprechend seinem Antrag waren dem Kläger lediglich Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz und nicht in Höhe von i.H.v. 5 Prozentpunkten darüber zuzusprechen (§ 308 Abs. 1 ZPO).

4. Die Beklagte hat als unterlegene Partei gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG für eine Zulassung der Revision waren nicht erfüllt.

Ende der Entscheidung

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