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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 19.06.2001
Aktenzeichen: 16 Sa 418/01
Rechtsgebiete: ZPO, ArbGG


Vorschriften:

ZPO § 97 Abs. 1
ArbGG § 72 Abs. 2
Zur Frage der Ablösung einer betrieblichen Übung durch nachfolgende Betriebsvereinbarung ( Revision eingelegt: 1 AZR 477/01 )
LANDESARBEITSGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

16 Sa 418/01

Verkündet am: 19.06.2001

In dem Rechtsstreit

hat die 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 19.06.2001 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Kaup als Vorsitzenden sowie die ehrenamtliche Richterin Zelenka und den ehrenamtlichen Richter Ladberg

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 31.01.2001 - 5 Ca 3735/00 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Der Streitwert wird für die Berufungsinstanz auf 7.200,- DM festgesetzt.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten zweitinstanzlich noch über Auswirkungen einer Betriebsvereinbarung, mit der dem Kläger und weiteren davon betroffenen Arbeitnehmern bis dahin gewährte Fahrtkostenvergünstigungen nicht mehr gewährt werden.

Die Beklagte ist ein Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs mit rund 2.350 Arbeitnehmern. Der zur Zeit 50-jährige Kläger, geboren am 21.03.1951, ist dort seit dem 01.04.1973 als Straßenbahnfahrer zu einem Monatsentgelt in Höhe von zuletzt rund 4.500,-- DM brutto beschäftigt. Er hatte ab Beginn seines Arbeitsverhältnisses, wie seinerzeit auch andere vergleichbare Arbeitnehmer, die Möglichkeit, von der Beklagten zur Verfügung gestellte Personalwagen für den Weg zur und von der Arbeitsstelle zu benutzen. Die Möglichkeit bestand jeweils in den Fällen, in denen aufgrund der Dienstzeit (Frühdienst ab 3:30 Uhr und Spätdienst nach 24:00 Uhr) die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich war.

Gemäß einer ab dem 30.09.1979 geltenden Betriebsvereinbarung (V 2024/215) erfolgte der Einsatz der Personalwagen nur noch auf bestimmten Strecken. Nicht in der Nähe dieser Strecken wohnende Mitarbeiter des Früh- oder Spätdienstes hatten die Möglichkeit, ein Taxi zu nutzen. Die Kosten hierfür trug die Beklagte. Mit Betriebsvereinbarung vom 22.12.1999 wurde die vorgenannte Betriebsvereinbarung zum 31.03.2000, nach Angaben der Beklagten wegen notwendiger Sparmaßnahmen, ersatzlos aufgehoben. Die dem Kläger ab dem 01.04.2000 entstandenen Fahrtkosten erstattet die Beklagte seitdem nicht mehr.

Nach vergeblicher Zahlungsaufforderung hat der Kläger mit der am 17.10.2000 beim Arbeitsgericht Essen eingegangenen Klage geltend gemacht, ihm sei aufgrund betrieblicher Übung ein einzelvertraglicher Anspruch auf Erstattung dieser Kosten entstanden, der durch die Betriebsvereinbarung und deren Aufhebung zum 31.03.2000 nicht entfallen sei.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger auf Kosten der Beklagten den Weg von und zur Arbeit (Betriebshof) außerhalb der Fahrtzeiten von öffentlichen Verkehrsmitteln zu ermöglichen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, ein Anspruch aus betrieblicher Übung sei nicht gegeben, da die Fahrtkostenerstattung aufgrund einer freiwilligen Betriebsvereinbarung erfolgt sei. Diese sei mit dem 31.03.2000 entfallen.

Das Arbeitsgericht Essen hat der Klage insoweit mit Urteil vom 31.01.2001 - 5 Ca 3735/00 - stattgegeben. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vorliegenden Berufung, die sie zu den im Sitzungsprotokoll vom 19.06.2001 genannten Zeitpunkten eingelegt und begründet hat und mit der sie weiterhin die Abweisung der Klage begehrt. Zur Begründung beruft sie sich darauf, dass eine betriebliche Übung von vornherein nicht entstanden sei. Demgegenüber bejaht der Kläger eine betriebliche Übung und beantragt die Zurückweisung der Berufung. Auf das weitere Vorbringen der Parteien wird Bezug genommen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands auf den übrigen Akteninhalt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ist - jedenfalls unter Berücksichtigung der bisher gängigen Rechtsprechung zu dieser Thematik - gegeben.

1. Auch das Berufungsgericht bejaht hier die Entstehung des Anspruchs für den Kläger aus einer betrieblichen Übung, wie diese in ständiger Rechtsprechung (vgl. u.a. BAG v. 16.04.1997 - 10 AZR 705/96 - AP Nr. 53 zu § 242 BGB Betriebliche Übung, zu II 1 a der Gründe) definiert wird. Aus der bereits bei Beginn seines Arbeitsverhältnisses im April 1973 bestehenden und auch in den Folgejahren fortgesetzten Übung, den betreffenden Arbeitnehmern des Früh- und Spätdienstes in den näher genannten Fällen kostenlose Fahrgelegenheiten zur Verfügung zu stellen, durfte der Kläger den Schluss ziehen, diese Leistung solle ihm auch künftig gewährt werden. Aus diesem als Willenserklärung zu wertenden und vom Kläger zumindest stillschweigend angenommenen Verhalten der Beklagten ist dem Kläger ein vertraglicher Anspruch auf diese üblich gewordene Leistung erwachsen.

2. Dies ist hier auch nicht wegen der Zugehörigkeit der Beklagten zum öffentlichen Dienst anders zu beurteilen. Zwar muss ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes grundsätzlich davon ausgehen, dass sein Arbeitgeber ihm nur Leistungen gewähren will, zu denen er rechtlich verpflichtet ist. Insbesondere bei fehlender Rechtsgrundlage für die Gewährung von Zusatzleistungen und einer fehlerhaften Rechtsanwendung bzw. falscher Anwendung von Vorschriften kann der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nicht auf Weitergewährung solcher Zusatzleistungen vertrauen, sondern muss mit einer Korrektur der fehlerhaften Rechtsanwendung rechnen (BAG v. 11.10.1995 - 5 AZR 802/94 - AP Nr. 9 zu § 611 BGB Arbeitszeit, zu II 2 b der Gründe; ebenso die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer zitierte BAG-Entscheidung vom 20.09.2000 - 5 AZR 20/99 - ZTR 2001, 220, zu IV der Gründe). Dies schließt aber die Entstehung einer betrieblichen Übung und darauf basierender Zusatzleistungen auch im Bereich des öffentlichen Dienstes nicht aus. Im vorliegenden Fall war die Beklagte nicht daran gehindert, auch im eigenen Interesse zur Sicherstellung ihres öffentlichen Nahverkehrs für die betroffenen Arbeitnehmer des Früh- und Spätdienstes einen Fahrdienst und entsprechend kostenlose Mitfahrgelegenheiten zur Verfügung zu stellen. Insbesondere handelte es sich hierbei nicht um ein rechtsfehlerhaftes Vorgehen der Beklagten. Der Kläger durfte auf den Fortbestand der Leistungen aus betrieblicher Übung vertrauen. Verfestigt wurde dies noch durch die ab dem 30.09.1979 hierzu getroffene Betriebsvereinbarung und die darin nunmehr schriftlich geregelten Einzelheiten. Diese Betriebsvereinbarung löste seinen bisherigen Anspruch aus betrieblicher Übung nicht ab, sondern modifizierte ihn allenfalls.

3. Eine Ablösung des Anspruchs des Klägers aus betrieblicher Übung erfolgte auch nicht durch die Betriebsvereinbarung vom 22.12.1999, mit der die Betriebsvereinbarung von 1979 zum 31.03.2000, nach Angaben der Beklagten infolge notwendiger Sparmaßnahmen, ersatzlos aufgehoben wurde. Jedenfalls auf der Basis der hierzu bislang ergangenen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die Ablösung des individualrechtlichen Anspruchs des Arbeitnehmers auf Gewährung sozialer Leistungen aus einer Einheitsregelung durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung allenfalls unter den engen und im vorliegenden Fall nicht gegebenen Voraussetzungen des sogenannten kollektiven Günstigkeitsvergleichs möglich, ansonsten nicht möglich (BAG v. 16.09.1986 - GS 1/82 - AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972). In der Entscheidung vom 28.03.2000 -1 AZR 366/99 - (AP Nr. 83 zu § 77 BetrVG 1972) hat das Bundesarbeitsgericht seine Auffassung erneut bekräftigt.

4. Die in der Praxis wiederholt auftretenden Zweifel an der Richtigkeit dieser Rechtsprechung sind allerdings zumindest zum Teil berechtigt, die Akzeptanzprobleme nachvollziehbar. So haben Merten/Schwartz in ihrem Aufsatz (DB 2001, 646) zu der vorgenannten BAG-Entscheidung vom 28.03.2000 die Frage aufgeworfen, ob es selbst bei Bejahung einer betrieblichen Übung und eines daraus abzuleitenden individualrechtlichen Anspruchs des Arbeitnehmers nicht überzeugender wäre, jedenfalls bei einer Gesamtzusage über die Gewährung betrieblicher Sozialleistungen von einem zumindest stillschweigenden Leistungsvorbehalt der "Betriebsvereinbarungsoffenheit" auszugehen. Der durch betriebliche Übung geschaffene und zum Vertragsinhalt gewordene Rechtszustand wäre zumindest konkludent betriebsvereinbarungsoffen und könnte bei den auf einer Einheitsregelung bzw. Gesamtzusage basierenden Sozialleistungen von den dafür eher zuständigen Betriebspartnern gemeinsam geregelt und je nach Bedarf abgeändert oder an veränderte Umstände angepasst werden. Dass die Betriebspartner dies häufig ebenso sehen, zeigt beispielhaft der vorliegende Fall, in dem Geschäftsleitung und Betriebsrat gemeinsam mit der ab dem 30.09.1979 geltenden Betriebsvereinbarung die bis dahin praktizierte Übung über den Personalwageneinsatz einer modifizierten Regelung unterwerfen wollten. Die Bejahung einer vom Arbeitgeber zumindest stillschweigend vorbehaltenen Betriebsvereinbarungsoffenheit bei Zustandekommen eines vertraglichen Anspruchs des Arbeitnehmers wäre eine durchaus praxisgerechte Lösung. Sie hätte zudem den Vorteil, dass für die Einheitsregelung über die Gewährung von betrieblichen Sozialleistungen die von den Betriebspartnern gestaltete Betriebsvereinbarung Anwendung fände.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Streitwert für diesen Teil des Rechtsstreits (200,- DM x 36 = 7.200,- DM) blieb unverändert. Die Zulassung der Revision erfolgt nach § 72 Abs. 2 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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