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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 11.05.2005
Aktenzeichen: 12 (11) Sa 115/05
Rechtsgebiete: BAG, KSchG, StGB


Vorschriften:

BAG § 626
KSchG § 1
StGB § 259
Der Umstand, dass der Arbeitnehmer eine vom Arbeitgeber herausgegebene Verhaltensanordnung (hier: Verbot des Verzehrs von Ware ohne Vorliegen eines Kassenbons), u. U. verbunden mit ausdrücklicher Kündigungsandrohung bei Zuwiderhandlung, missachtet, rechtfertigt jedenfalls dann nicht "automatisch" eine verhaltensbedingte Kündigung, wenn dem hohen Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers, fehlender Wiederholungsgefahr und fehlender Schädigung des Arbeitgebers im wesentlichen nur dessen Interesse an einer Generalprävention gegenüber steht (vgl. BAG v. 16.12.2004, 2 ABR 7/04, EzA, SD 2005, Nr. 5, 9).
LANDESARBEITSGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

12 (11) Sa 115/05

Verkündet am 11. Mai 2005

In Sachen

hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 11.05.2005 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Plüm als Vorsitzenden sowie die ehrenamtliche Richterin Zelenka und den ehrenamtlichen Richter Preuß

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 02.12.2005 wird kostenfällig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

A. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.

Die Klägerin, am 29.09.1947 geboren, verheiratet, GdB 20, ist seit dem 01.09.1978 bei der Beklagten in deren Warenhaus in N. beschäftigt. Sie war als Abteilungshilfe im Bereich Molkereiprodukte eingesetzt. Am 10.10.1992 schlossen die Parteien eine Altersteilzeitvereinbarung mit einer Arbeitsphase vom 01.11.2002 bis 15.04.2005 und einer Freistellungsphase vom 16.04.2005 bis 30.09.2007.

Die Beklagte hat in der "Betrieblichen Ordnung vom 30.04.2003" und in einer internen Miteilung vom 28.03.2003 festgelegt, dass bei jeder Ware, die im Haus verzehrt werde, grundsätzlich der Kassenbon vorzuweisen sei, und mit Aushang im Lager bekannt gegeben, das der Verzehr von unbezahlter Ware zur fristlosen Kündigung führe.

Am 10.08.2004 wurde die ebenfalls im Bereich Molkereiprodukte tätige Frau J. dabei beobachtet, wie sie sich gegen 7.10 Uhr in der Backstube von der Mitarbeiterin Frau H. zwei (unverpackte) Brötchen geben ließ. Etwa 20 bis 25 Minuten später wurde beobachtet, dass Frau J. zur Wursttheke ging, mit der dort tätigen Frau K. sprach und danach Frau K. zwei Stücke Fleischwurst in die Abteilung Molkereiprodukte brachte. Frau J. bot anschließend der Klägerin eines der Brötchen an. Die Klägerin lehnte zunächst ab, nahm dann das Brötchen an und verzehrte es.

In der späteren Befragung räumte Frau J. gegenüber der Beklagten ein, Brötchen "organisiert" zu haben, und behauptete, dass die Klägerin zwei bis drei Male zuvor ein Brötchen mitgegessen und gewusst habe, dass die am 10.08.2004 beschafften Brötchen nicht bezahlt gewesen seien. Frau H. ließ sich ein, dass sie bei der Aushändigung der Brötchen an Frau J. davon ausgegangen sei, dass Frau J. diese auch bezahle. Frau K. bestritt, Fleischwurst in die Abteilung Molkereiprodukte gebracht zu haben. Nach Behauptung der Beklagten erklärte die Klägerin, dass ihr bewusst gewesen sei, dass die von Frau J. geholten Brötchen nicht bezahlt gewesen seien und dass es nicht das einzige Mal gewesen sei, dass sie gemeinsam mit Frau J. von dieser beschaffte Brötchen verzehrt habe. Die Klägerin hält entgegen, nicht gewusst zu haben, ob die von Frau J. beschaffte Ware bezahlt gewesen sei oder nicht; Frau J. habe ihr am 10.08.2004 das Brötchen förmlich aufgedrängt.

Nach Anhörung des Betriebsrats erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin unter dem 23.08.2004 die fristlose und unter dem 30.08.2004 die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Mit der am 01.09.2004 eingereichten und am 08.09.2004 erweiterten Klage hat die Klägerin vor dem Arbeitsgericht Oberhausen beide Kündigungen angegriffen. Durch Urteil vom 02.12.2004 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung begehrt die Beklagte, die das Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht angreift, weiterhin die Abweisung der Klage. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Berufung.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen verwiesen.

B. Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage zu Recht stattgegeben.

I. Für die außerordentliche Kündigung fehlt es an einem wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB.

1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach der Spruchpraxis des Bundesarbeitsgerichts ist im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB - in der ersten Stufe - zu prüfen, ob der Kündigungssachverhalt unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund abzugeben. Alsdann sind - in der zweiten Stufe - bei der erforderlichen Interessenabwägung alle in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles darauf zu überprüfen, ob es dem Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen (BAG, Urteil vom 11.12.2003, 2 AZR 36/03, AP Nr. 179 zu § 626 BGB, Urteil vom 20.01.1994, 2 AZR 521/93, AP Nr. 115 zu § 626 BGB).

2. Nach der Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts ist das vom Arbeitnehmer begangene Eigentums- oder Vermögensdelikt zum Nachteil des Arbeitgebers an sich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Dies gilt auch, wenn es um Gegenstände von nur geringem Wert geht. Während einerseits gerade der besondere Unrechtsgehalt der Straftat oder das mit der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung verbundene Unwerturteil den "an sich" wichtigen Grund ausmachen (vgl. BAG, Urteil vom 12.08.1999, 2 AZR 923/98, AP Nr. 28 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung = ArbuR 1999, 486, BAG, Beschluss vom 08.06.2000, 2 ABR 1/00, AP Nr. 3 zu § 2 BeschSchG = ArbuR 2001, 271), kommt es andererseits nicht auf die strafrechtliche Würdigung des Fehlverhaltens an, sondern auf die Beeinträchtigung des für das Arbeitsverhältnis erforderlichen Vertrauens durch das Verhalten des Arbeitnehmers (BAG, Urteil vom 05.11.1992, 2 AZR 147/92, AP Nr. 4 zu § 626 BGB Krankheit = AiB 1993, 327).

a) Die Klägerin hat die Brötchen nebst Fleischwurst weder selbst entwendet noch unterschlagen, sondern eines der von Frau J. "organisierten" Brötchen mitverzehrt. Kommt danach als Straftat nur Hehlerei näher in Betracht, so liegt in dem bloßen Mitverzehr und Mitverbrauch gestohlener Nahrungs- und Genussmittel nicht ohne weiteres ein Sichverschaffen im Sinne des § 259 StGB (BGHSt, Beschluss vom 28.04.1998, wistra 1998, 264, Urteil vom 11.09.1991, MDR 1992, 320). Jedenfalls fehlt es an der nach § 259 StGB erforderlichen Bereicherungsabsicht. Nach Lage der Dinge strebte die Klägerin mit der Annahme und dem Verzehr des Brötchens nicht die Erlangung eines Vermögensvorteils an, sondern tat dies nur zögernd und aus Gefälligkeit gegenüber Frau J. Das bloße Bewusstsein, mit dem geschenkten Brötchen eine Bereicherung zu erlangen, genügt nicht für die Bereicherungsabsicht.

b) Allerdings hat die Klägerin eine gravierende Pflichtverletzung begangen, die zwar nicht den besonderen Unwertgehalt einer Straftat hat, aber gleichwohl geeignet ist, einen an sich wichtigen Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB und verhaltensbedingten Grund i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 KSchG abzugeben. Die Klägerin konnte nach den Umständen nicht im Zweifel darüber sein, dass Frau J. die beiden Brötchen in der Backstube (bei Frau H.) und die Fleischwurst bei den Wurstwaren (Frau K.) ohne Bezahlung "akquiriert" hatte. So war Frau J. nicht etwa zu der ca. 100 m entfernten Personalkasse gegangen und von dort wieder zurückgekehrt. Überdies schließt der Zeitablauf (die Klägerin will bereits gegen 7.45 Uhr, nach dem Verzehr der Brötchen, mit Frau J. zum Personalbüro gerufen worden sein) aus Sicht der Klägerin die Möglichkeit aus, dass die Brötchen an der erst ab 7.30 Uhr besetzten Personalkasse bezahlt sein konnten. Der (Mit-)Verzehr von Nahrungsmitteln, von denen der Arbeitnehmer annehmen muss, dass sie von Arbeitskollegen entwendet wurden, stellt eine erhebliche Pflichtverletzung dar, zumal vorliegend durch Betriebsordnung, interne Mitteilung und Aushang im Lager der Verzehr von Ware ohne Bezahlung bzw. ohne vorzuweisenden Kassenbon ausdrücklich verboten worden war.

3. Indessen ist die außerordentliche Kündigung nach der gebotenen umfassenden Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nicht zu rechtfertigen.

a) Liegt ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich vor, kann eine hierauf gestützte beabsichtigte außerordentliche Kündigung gleichwohl das Arbeitsverhältnis nur wirksam beenden, wenn bei der umfassenden Interessenabwägung das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers überwiegt. Bei der umfassenden Interessenabwägung kommt insbesondere der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen beanstandungsfreier Bestand ein besonderes Gewicht zu. Die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist auch dann zu berücksichtigen, wenn die Kündigung auf ein Vermögensdelikt zu Lasten des Arbeitgebers gestützt wird (BAG, Beschluss vom 16.12.2004, 2 ABR 7/04, EzA-SD 2005, Nr. 5, 9 -11). Lebensalter und Familienstand/Unterhaltspflichten sind ebenfalls berücksichtigungsfähige Gesichtspunkte, wenn auch von untergeordneter Bedeutung. Weiterhin ist im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen, mit welchem Verschuldensgrad ("Verwerflichkeit") der Arbeitnehmer gehandelt hat, welche Nachteile und Auswirkungen die Vertragspflichtverletzung im Bereich des Arbeitgebers gehabt hat und inwieweit eine Wiederholungsgefahr besteht (vgl. Kammerurteil vom 21.07.2004. 12 Sa 620/04, Juris Nr: KARE600011034). Der vom Arbeitgeber reklamierte Aspekt der Generalprävention gegenüber anderen Mitarbeitern bzw. die negative Ausstrahlungswirkung im Falle der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers ist für das Kündigungsrecht im allgemeinen und für die Interessenabwägung im besonderen ein zwar anerkannter, jedoch nur begrenzt tragfähiger Gesichtspunkt (BAG vom 16.12.2004, a.a.O.). Für die Beurteilung verhaltensbedingter Kündigungen gilt nicht der Gleichbehandlungsgrundsatz. Freilich wird, wenn der vom Arbeitgeber in anderen, ähnlich oder noch schwerwiegender gelagerten Fällen gegenüber anderen Arbeitnehmern nachsichtig gewesen ist, in die Interessenabwägung aufzunehmen sein, ob vertretbare Gründe vorliegen, die dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung gerade des gekündigten Arbeitnehmers unzumutbar machen (BAG, Urteil vom 15.03.1990, 2 AZR 484/89, n.v., Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 8. Aufl., Rz. 322 f., m. w. N.).

b) Das Interesse der Klägerin an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes ergibt sich in erster Linie aus der Dauer der bei der Beklagten verbrachten, störungsfrei verlaufenen Dienstzeit (ca. 26 Jahre). Des Weiteren verschlechtert ihr Lebensalter (im Kündigungszeitpunkt 56 Jahre) signifikant die Aussichten, auf dem Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz zu finden, zumal die fristlose verhaltensbedingte Kündigung wegen ihrer diskriminierenden Wirkung ihre Chancen weiter herabsetzt, eine neue Anstellung zu finden. Zusätzliche Nachteile entstehen der Klägerin dadurch, dass die Kündigung das Altersteilzeitarbeitsverhältnis zum Ende der Arbeitsphase vor Beginn der Freistellungsphase beendet. Das vertragswidrige Verhalten der Klägerin hatte keine nachteiligen wirtschaftlichen Auswirkungen im Rechtskreis der Beklagten. Indem Frau J. sich Brötchen und Aufschnitt aushändigen ließ, war der Schaden bereits eingetreten. Das belegte Brötchen, das Frau J. der Klägerin reichte, war unverkäuflich geworden. Nach den gegebenen Einzelfallumständen erscheint auch eine Wiederholungsgefahr als höchst unwahrscheinlich. Ebenso wenig vermag die Kammer eine besondere "Verwerflichkeit" in der Pflichtverletzung der Klägerin zu erkennen. Dabei braucht sie nicht wesentlich darauf abzuheben, dass - auch aus Sicht der Klägerin - das belegte Brötchen kaum von Wert war, sondern stellt bei der Bewertung des Fehlverhaltens heraus, dass die Klägerin in der Kette der Arbeitskolleginnen, die sich strafbar bzw. pflichtwidrig verhalten haben, am Ende gestanden hat. Der Hauptvorwurf trifft zweifelsfrei die (fristlos entlassene) Mitarbeiterin J. Aber auch Frau K. (Wurstwaren) und Frau H. (Backstube) würden dadurch, dass sie Frau J. zu Brötchen mit Aufschnitt ohne Bezahlung verholfen hätten, eine gravierendere Pflichtwidrigkeit begangen haben als die Klägerin. Wenn die Beklagte Frau K. und Frau H. allein deshalb, weil diese Mitarbeiterinnen jede Schuld abstritten, nicht kündigte, dann erscheint die Kündigung der Klägerin als überzogene Reaktion. Dass - nach Behauptung der Beklagten - die Klägerin eingeräumt hatte, einen Fehler begangen und gewusst zu haben, dass Frau J. das Brötchen nicht bezahlt hatte, ändert nichts an dem Befund, dass ein verständig urteilender Arbeitgeber zunächst dem Arbeitnehmer kündigt, der objektiv das schwerere Fehlverhalten begangen hat, und erst danach dem weniger schuldigen Arbeitnehmer kündigt. Die Weiterbeschäftigung von Frau K. und Frau H. indiziert die Annahme, dass der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin ebenso zumutbar war.

Das Interesse der Beklagten, sich von der Klägerin zu trennen, wiegt deren Bestandsschutzinteresse nicht auf. Die Verfehlung der Klägerin ist, selbst wenn man den Sachvortrag der Beklagten in den streitigen Punkten als richtig unterstellt und weiter davon ausgeht, dass die Klägerin 2 oder 3 mal ein ihr von Frau J. angebotenes Brötchen annahm, nicht so gravierend, dass das Vertrauensverhältnis als zerrüttet angesehen werden kann. Die Kammer verkennt nicht das berechtigte Interesse der Beklagten, aus Gründen der Generalprävention den Verstoß gegen das Verbot, Ware ohne Bezahlung bzw. vorliegenden Kassenbon zu verzehren, konsequent und "grundsätzlich" durch eine außerordentliche Kündigung zu ahnden. Insoweit mag die allgemeine Androhung der Kündigung bei Pflichtverstößen im Sinne einer antizipierten Abmahnung auch eine Negativprognose begründen können (BAG, Urteil vom 05.04.2001, 2 AZR 580/99, AP Nr. 32 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung). Es ist jedoch fehlsam, an dem Umstand, dass der Arbeitgeber im Falle eines bestimmten Pflichtverstoßes die fristlose Kündigung angedroht hat, die Berechtigung der Kündigung maßgeblich festzumachen (a. A. wohl Schlachter, NZA 2005, 436). Arbeitgeber oder Arbeitnehmer können nicht über das gesetzliche, durch § 626 BGB (und § 1 KSchG) bestimmte Maß hinaus ihr Kündigungsrecht erweitern (KR/ Fischermeier, 7. Aufl., § 626 BGB Rz. 68, Stahlhacke/Preis, Rz. 833). Andernfalls würde man zu dem grotesken Ergebnis gelangen, dass eine Arbeitsvertragspartei umso leichter kündigen könnte, je komplexer sie ein Regelwerk aufstellt über (mit Kündigung bedrohte) Pflichtverstöße der anderen Partei. Greift eine Partei zu ihrer antizipierten und pauschalen Kündigungsandrohung und sieht sich dann gehalten, bei jeder Pflichtverletzung "schematisch" mit einer Kündigung zu reagieren, ist sie in eigener Verantwortung das Risiko eingegangen, im Kündigungsschutzprozess zu scheitern. Im Streitfall war trotz der begangenen Vertragspflichtverletzung von der Weiterbeschäftigung der Klägerin keine derart negative Ausstrahlungswirkung auf das Ordnungsverhalten der Belegschaft zu befürchten, dass die Kündigung ultima ratio war. Denn der Sachverhalt ist durch zu Gunsten der Klägerin wirkende Besonderheiten gekennzeichnet, vor allem durch ein hohes, aufgrund langer Betriebszugehörigkeit erworbenes Bestandsschutzinteresse und durch die spezifischen Fallumstände, die einerseits das Fehlverhalten der Klägerin in milderem Licht und andererseits die Reaktion der Beklagten als unangemessen hart und selektiv erscheinen lassen. Angesichts des Ausnahmecharakters der Fallumstände muss der Aspekt der Generalprävention zurücktreten.

Es hätte nach allem ausgereicht, die Klägerin abzumahnen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch bei Störungen im Vertrauensbereich stets das Abmahnungserfordernis zu prüfen und eine Abmahnung jedenfalls dann vor Ausspruch der Kündigung erforderlich, wenn ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht und erwartet werden kann, dass das Vertrauen wiederhergestellt wird (BAG, Urteil vom 04.06.1997, 2 AZR 526/96, AP Nr. 137 zu § 626 BGB, Urteil vom 18.10.2000, 2 AZR 131/00, AP Nr. 169 zu § 626 BGB). So liegen die Dinge auch hier. Bei dem (Mit-)Verzehr unbezahlter Ware handelt es sich um steuerbares Verhalten. Die Abmahnung war erfolgversprechend. Danach wäre das Vertrauensverhältnis wiederhergestellt und eine Wiederholungsgefahr auszuschließen gewesen, insbesondere dahingehend, dass die Klägerin nochmals ihr von Kolleginnen zum Verzehr angebotene Ware, ohne sich deren Bezahlung zu vergewissern, annehmen würde. Zwar ist eine Abmahnung in den Fällen entbehrlich, in denen die Pflichtverletzung des Arbeitnehmers so schwer ist, dass ihre Hinnahme durch den Arbeitgeber von vornherein ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 17.06.2002, 2 AZR 62/02, EzA Nr. 59 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung). Eine solche Konstellation liegt indessen nicht vor. Auch wenn der Verzehr eines von der Kollegin J. "beschafften" und geschenkten Brötchens eine erhebliche Pflichtverletzung bedeutete, wog diese nicht derart schwer, dass sie unausweichlich die Kündigung nach sich ziehen musste. Vielmehr durfte die Klägerin erwarten, dass die Beklagte es bei einer milderen Sanktion belassen würde, zumal - aus objektiver, verständiger Sicht - die für den weiteren Vollzug des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauensgrundlage nicht zerstört war.

II. Die ordentliche Kündigung ist mangels verhaltensbedingten Grundes i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG unwirksam.

1. Gegenüber § 626 Abs. 1 BGB lässt § 1 Abs. 2 KSchG für eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung solche im Verhalten des Arbeitnehmers liegenden Umstände ausreichen, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebes die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen. Unter Zugrundelegung dieses Beurteilungsmaßstabs ist ein verhaltensbedingter Grund i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG gegeben, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine Vertragspflicht schuldhaft verletzt, dadurch das Arbeitsverhältnis konkret beeinträchtigt hat und keine zumutbare Möglichkeit einer anderen Beschäftigung besteht. Entscheidend ist, ob das Fehlverhalten des Arbeitnehmers im Einzelfall geeignet ist, einen ruhig und verständig urteilenden Arbeitgeber zur Kündigung zu bestimmen (BAG, Urteil vom 17.06.2002, a.a.O., Urteil vom 11.12.2003, 2 AZR 667/02, AP Nr. 48 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung, Urteil vom 24.06.2004, 2 AZR 63/03, AP Nr. 49).

2. Die Verfehlung der Klägerin reicht nicht aus, um eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial zu rechtfertigen. Die ordentliche Kündigung vom 30.08.2004 kann aus denselben Erwägungen, die die fristlose Kündigung vom 23.08.2004 zu Fall bringen, keinen Bestand haben. Die Interessenabwägung hat zum Ergebnis, dass auch die ordentliche Kündigung eine unverhältnismäßige Reaktion darstellt. Mit einer Abmahnung hätte die Beklagte in angemessener und ausreichender Weise das Fehlverhalten der Klägerin geahndet. Dies gilt umso mehr, als die Arbeitsphase bereits am 15.04.2005, also nur 1 1/2 Monate nach dem ordentlichen Kündigungstermin (28.02.2005) endete und daher aus Sicht der Beklagten die ihr aus der tatsächlichen Weiterbeschäftigung der Klägerin entstehende Belastung zeitlich begrenzt war.

C. Die Kosten der Berufung hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Beklagte zu tragen.

Für die Zulassung der Revision an das Bundesarbeitsgericht bestand keine Veranlassung, da dem vorliegenden Rechtsstreit weder eine grundsätzliche Bedeutung beigemessen werden kann, § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG, noch die Voraussetzungen für eine Divergenzrevision ersichtlich sind, § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG. Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Landesarbeitsgericht kann von der Beklagten Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht eingelegt werden. Hinsichtlich der Einzelheiten der Nichtzulassungsbeschwerde wird auf § 72 a ArbGG hingewiesen.

Ende der Entscheidung

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