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Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 21.07.2004
Aktenzeichen: 12 Sa 620/04
Rechtsgebiete: BGB, KSchG


Vorschriften:

BGB § 626
KSchG § 1
1. Hat ein knapp neun Monate beschäftigter Arbeitnehmer seinem Arbeitskollegen auf dessen Bemerkung "Du Arschloch" ins Gesicht gespuckt, kann aus verhaltensbedingten Gründen eine ordentliche Kündigung auch dann gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer anschließend durch einen Faustschlag des Arbeitskollegen verletzt wurde, danach beide Beteiligten dem Vorgesetzten erklärten, sich wieder zu vertragen und aufgrund der fristlosen Entlassung des Arbeitskollegen eine Wiederholungsgefahr entfällt. 2. Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und zum Prognoseprinzip im Kündigungsrecht.
LANDESARBEITSGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

12 Sa 620/04

Verkündet am 21. Juli 2004

In Sachen

hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 21.07.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Plüm als Vorsitzenden sowie den ehrenamtlichen Richter Löcherer und den ehrenamtlichen Richter Bunse

für Recht erkannt:

Tenor:

Unter teilweiser Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Essen vom 12.02.2004 und Zurückweisung der Berufung der Beklagten im Übrigen wird die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Feststellung beantragt, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die fristgerechte Kündigung vom 03.11.2003 [zum 31.12.2003] aufgelöst wurde.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer verhaltensbedingten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.

Der Kläger, am 06.03.1978 geboren, verheiratet, ein Kind, war seit dem 01.02.2003 als Kommissionierer bei der Beklagten in F. beschäftigt.

Am 27.10.2003 kam es zwischen dem Kläger und seinem Arbeitskollegen P. L., der ebenfalls als Kommissionierer beschäftigt war, zu einer Auseinandersetzung: Beide waren damit befasst, aus demselben Gang Waren herauszusuchen, der Zeuge L. überholte zunächst den Kläger und verperrte ihm dann den Weg, indem er Waren aus den seitlichen Hochregalen einlud. Als der Kläger den Zeugen aufforderte, Platz zu machen, antwortete dieser mit einem Schimpfwort. Der Kläger spuckte daraufhin dem Zeugen ins Gesicht. Der Zeuge reagierte mit einem Schlag ins Gesicht des Klägers und traf ihn am Auge. Danach trennte der Arbeitskollege K. S. die Kontrahenten. Zwischen dem Kläger und dem Zeugen L. kam es zu keinen weiteren Beleidigungen oder Tätlichkeiten. Im Büro ließ der herbeigerufene stellvertretende Lagerleiter, der Zeuge E. C., vom Kläger und dem Zeugen L. den Vorfall schildern. Nachdem sie seine Frage bejahten, ob sie sich wieder vertragen könnten und sich die Hand gaben, gingen beide zurück an die Arbeit.

Am Folgetag erschien der Kläger, der infolge des Faustschlages eine Jochbein-Orbitabodenfraktur erlitten hatte und deswegen vom 28.10.2003 bis 02.11.2003 stationär behandelt wurde, nicht zur Arbeit. Als der Zeuge C. an diesem Tag aus dem Betrieb die Information erhielt, dass der ­ ebenfalls dort beschäftigte ­ Bruder des Klägers geäußert habe, dass der Kläger Strafanzeige gegen den Zeuge L. stellen werde, unterrichtete er die Zentrale der Beklagten von dem Vorfall. Am 31.10.2003 hörte die Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat teilte ihr am 03.11.2003 seine Zustimmung zur Kündigung mit. Anschließend erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 03.11.2003 gegenüber dem Kläger die außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Gleichzeitig erklärte sie gegenüber dem Zeugen die ­ von diesem nicht angegriffene ­ fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Am 21.11.2003 hat der Kläger beim Arbeitsgericht Essen Kündigungsschutzklage eingereicht.

Er behauptet, dass der Zeuge L. auf seine höflich vorgetragene Bitte, ihm Platz zu machen, mit den Worten reagiert habe: "Halt die Klappe, du Bastard!", und das Schimpfwort "Bastard" wiederholt habe, woraufhin er, der Kläger, den Zeugen angespuckt habe. Nachdem er und der Zeuge L. im Büro auf Veranlassung ihres Vorgesetzten C. sich versöhnt hätten, sei - so meint der Kläger ­ die Beklagte daran gehindert, wegen des Vorfalls noch arbeitsrechtliche Sanktionen zu ergreifen. Obwohl ihm mehrere Arbeitskollegen geraten hätten, Strafanzeige zu erstatten, habe er ­ was unstreitig ist ­ keine Strafanzeige gegen den Zeugen L. gestellt.

Die Beklagte macht für die Kündigung geltend, dass der Kläger durch grundloses Anspucken des Zeugen L. eine Tätlichkeit bzw. Beleidigung begangen habe und ihn wesentliche Schuld an der Eskalation treffe. Der Vorfall sei in der vom ­ nicht kündigungsberechtigten - Zeugen C. anschließend geführten Aussprache keineswegs "erledigt" worden.

Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 12.02.2004 ­ unter (rechtskräftiger) Abweisung einer vom Kläger erhobenen Forderung auf Überstundenbezahlung - der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung greift die Beklagte das Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht an. Sie begehrt weiterhin die Abweisung der Klage. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Berufung.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Die Kammer hat in der Verhandlung am 21.07.2004 durch Vernehmung der Zeugen S., L. und C. Beweis erhoben. Hinsichtlich des Inhalts der Aussagen wird auf das Sitzungsprotokoll vom 21.07.2004 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die außerordentliche Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB unwirksam ist. Die Berufung der Beklagten ist daher teilweise unbegründet. Hingegen hat sie Erfolg, soweit sie sich gegen die erstinstanzliche Feststellung richtet, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch die ordentliche Kündigung zum 31.12.2003 aufgelöst werde. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme erachtet die Kammer entgegen der Auffassung der Vorinstanz die ordentliche Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG für sozial gerechtfertigt und also für rechtswirksam.

II. Die außerordentliche Kündigung ist unwirksam.

1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach der Spruchpraxis des Bundesarbeitsgerichts ist im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB ­ in der ersten Stufe - zu prüfen, ob der Kündigungssachverhalt unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund abzugeben. Alsdann sind - in der zweiten Stufe - bei der erforderlichen Interessenabwägung alle in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles darauf zu überprüfen, ob es dem Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen (BAG, Urteil vom 11.12.2003, 2 AZR 36/03, AP Nr. 179 zu § 626 BGB, Urteil vom 20.01.1994, 2 AZR 521/93, AP Nr. 115 zu § 626 BGB). Im Unterschied zu § 626 Abs. 1 BGB lässt § 1 Abs. 2 KSchG für eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung solche im Verhalten des Arbeitnehmers liegenden Umstände ausreichen, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebes die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen. Als verhaltensbedingter Grund ist insbesondere eine rechts- (vertrags)widrige Pflichtverletzung aus dem Arbeitsverhältnis geeignet, wobei regelmäßig Verschulden erforderlich ist. Insofern genügt ein Umstand, der einen ruhig und verständig urteilenden Arbeitgeber zur Kündigung bestimmen kann (BAG, Urteil vom 11.12.2003, 2 AZR 667/02, z.V.v.).

2. a) Grobe Beleidigungen von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten, stellen einen erheblichen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis dar und sind an sich geeignet, eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, wenn diese eine ernstliche Störung des Betriebsfriedens, der betrieblichen Ordnung und des reibungslosen Betriebsablaufes verursachen (vgl. BAG, Urteil vom 21.01.1999, 2 AZR 665/98, AP Nr. 151 zu § 626 BGB). Zum einen dürfen Arbeitnehmer vom Arbeitgeber den Schutz ihrer Würde und körperlichen Unversehrtheit erwarten, so dass der Arbeitgeber gegen "Störenfriede", die Auseinandersetzungen anzetteln oder durch (exzessive) Überreaktionen verschärfen, vorgehen und Eskalationen (Provokation ­ Beleidigung ­ Tätlichkeit) verhindern muss. Zum anderen liegt es im eigenen betrieblichen Interesse des Arbeitgebers, dass der Arbeitsablauf und die betriebliche Zusammenarbeit nicht durch Beleidigungen und Tätlichkeiten beeinträchtigt werden, dies u.U. mit der Folge von Arbeitsausfällen, Arbeitsversäumnissen und Eigenkündigungen von Arbeitnehmern (vgl. BAG, Urteil vom 31.03.1993, 2 AZR 492/92, AP Nr. 32 zu § 626 BGB Ausschlussfrist). Die einmalige grobe Beleidigung von Arbeitskollegen wird- zumal nach einem langjährig und ungestört verlaufenen Arbeitsverhältnis ­ nur selten als "an sich" wichtiger Grund oder als Ergebnis der Interessenabwägung nach § 626 Abs. 1 BGB ausreichen, um eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Vielmehr bedarf es vor Ausspruch einer Kündigung grundsätzlich einer Abmahnung. Anders liegen die Dinge bei vielfachen und/oder besonders groben (schwersten) Beleidigungen. In solchen Fällen kann der Arbeitnehmer nicht ernsthaft damit rechnen, dass der Arbeitgeber sein Verhalten tolerieren werde. Daher wird durch sein Fehlverhalten das für ein Arbeitsverhältnis notwendige Vertrauen auf Dauer zerstört, so dass die Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung berechtigt ist (BAG, Urteil vom 10.10.2002, 2 AZR 418/01, AP Nr. 180 zu § 626 BGB, vgl. Urteil vom 30.09.1993, 2 AZR 188/93, EzA Nr. 152 zu § 626 nF BGB).

b) Ob der Bewertung des Arbeitsgerichts beizupflichten ist, dass das Anspucken und insbesondere das Ins-Gesicht-Spucken die "schlimmste" Form der Beleidigung sei, braucht die Kammer nicht zu entscheiden. Jedenfalls stellt das vorsätzliche Verhalten des Klägers, dem Zeugen L. ins Gesicht zu spucken, eine schwerste (gröblichste) Beleidigung dar und wurde, wie die (Über-)Reaktion des Zeugen bestätigt, von ihm als zutiefst verletzende Kundgabe menschlicher Verachtung und nicht etwa nur als emotionale Entgleisung oder als lamaöse Unsportlichkeit empfunden. Damit ist das Verhalten an sich geeignet, einen wichtigen Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Erst recht ist es ein an sich geeigneter Grund für eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG.

3. Allerdings hat die Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zum Ergebnis, dass es der Beklagten nicht unzumutbar gewesen ist, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Daher ist die außerordentliche Kündigung unwirksam.

a) Im allgemeinen fällt bei der Interessenabwägung in Konstellationen der vorliegenden Art zu Gunsten des Arbeitnehmers eine lange Dauer des Arbeitsverhältnisses (soweit es beanstandungsfrei bestanden hat) ins Gewicht, wohingegen dem Lebensalter, zumal dann, wenn es die Chancen des Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt nicht beeinträchtigt und den Unterhaltspflichten geringe oder nur marginale Bedeutung zukommt (BAG, Urteil vom 05.04.2001, 2 AZR 159/00, AP Nr. 171 zu § 626 BGB).

Zum Kündigungszeitpunkt bestand das Arbeitsverhältnis der Parteien erst seit ca. 9 Monaten. Die geringe Dauer der Betriebszugehörigkeit des Klägers begründet kein besondere Schutzwürdigkeit des Klägers. Sein Lebensalter und seine damaligen Unterhaltspflichten gegenüber zwei Personen sind per se keine Umstände, die für sein Interesse an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses besonders in Ansatz gebracht werden können.

b) Zugunsten der Beklagten ist ihr Interesse anzusetzen, dass Arbeitsablauf und Betriebsfrieden nicht durch Entgleisungen (Beleidigungen, Tätlichkeiten) beeinträchtigt werden. Auch ist dem Kläger ist ein erhebliches Verschulden anzulasten. Zwar war das Anspucken eine Spontanreaktion auf eine verbale Beleidigung. Jedoch erscheint die Beleidigung als eher geringfügig, denn der Zeuge L. bezeichnete ­ wie nach seiner Aussage und den glaubhaften Aussagen der weiteren Zeugen zur Überzeugung der Kammer fest steht - den Kläger als "Arschloch" und nicht als "Bastard". Mit der erstgenannten Bezeichnung wird, zumal auf der betrieblichen Ebene, auf dem der Kläger und der Zeuge arbeiteten und im Hinblick auf einen dort zu erwartenden Umgangston, der Angesprochene deutlich weniger in seiner Ehre herabgesetzt als durch das Wort "Bastard". Dies gilt nicht nur nach der ­ maßgebenden - einheimischen Sprachbedeutung, sondern ebenso unter dem Aspekt, dass der Kläger und der Zeuge nicht aus dem mitteleuropäischen Kulturkreis stammen.

c) Allerdings waren Arbeitsablauf und Betriebsfrieden am 27.10.2003 nur kurzfristig und ohne signifikante Folgen gestört. Auch bestand keine konkrete Wiederholungsgefahr, zum einen, weil sich in der Aussprache bei dem Zeugen C. der Kläger und der Zeuge L. "versöhnten", zum anderen, weil nach der Entlassung des Zeugen L. ausgeschlossen war, dass es zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen diesen Mitarbeitern am Arbeitsplatz kommen konnte.

(11) Das Arbeitsgericht leitet aus diesem Befund die Unwirksamkeit der außerordentliche (und ordentlichen) Kündigung her, indem es von der Maxime ausgeht, dass die verhaltensbedingte Kündigung keine Sanktion für vergangenes Fehlverhalten, sondern immer Schutz des Arbeitgebers vor künftigen Beeinträchtigungen des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer sei.

In der Tat lässt sich, wenn man den Kündigungsschutz am "Prognoseprinzip" ausrichtet und eine "Wiederholungsgefahr" fordert, im Streitfall keine konkrete Gefahr ausmachen, sondern nur darüber spekulieren, ob das Verhalten des Klägers am 27.10.2003 eine einmalige Entgleisung war oder es einer latenten psychischen Veranlagung zu Überreaktionen entsprach und daher sich bei ähnlichen Anlässen wiederholen könnte. Sieht man, weil gekünstelt, davon ab, solchermaßen eine konkrete Wiederholungsgefahr zu konstruieren, wird das "Prognoseprinzip" von seinen Verfechtern (Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 8. Aufl., Rz. 921, von Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, 13. Aufl., § 1 Rz. 130 ff., KR/Fischermeier, 7. Aufl., § 626 BGB Rz. 111, APS/Ascheid, 2. Aufl., § 1 KSchG Rz. 125 ff./296 ff.) auch für die Konstellation angenommen, dass (ohne Wiederholungsgefahr) das vergangene Ereignis künftige Folgewirkungen zeigt, wegen deren eine nutzbringende Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen erscheint (Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, S. 322/328). Derartige, belastende Folgewirkungen haben sich dem Arbeitsgericht bei rein zukunftsbezogener Betrachtung nicht aufgedrängt.

(22) Die Kammer hält dafür, dass das Kündigungsrecht vom "Verhältnismäßigkeitsgrundsatz" (ultima-ratio-Prinzip) beherrscht wird. Danach bleibt die "Wiederholungsgefahr" zwar als wesentlicher Aspekt mit zu berücksichtigen und kann nach ihrer jeweiligen, geringen bis hohen Intensität auf die Beurteilung, ob die Kündigung eine unverhältnismäßige Maßnahme ist, durchschlagen. Indessen setzt die Kündigung nicht stets eine Negativprognose voraus, sondern kann auch dann, wenn keine Wiederholungsgefahr besteht, rechtens sein.

Richtig ist, dass § 626 Abs. 1 BGB und § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG den Maßstab für die Prüfung, ob die außerordentliche oder ordentliche Kündigung berechtigt ist, aus einem zukunftsbezogenen Zeitmoment, dem Kündigungstermin, gewinnen, wenn sie entweder nach der (Un-)Zumutbarkeit, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses) fortzusetzen, oder nach der sachlichen Bedingtheit, ob das Arbeitsverhältnis mit dem Kündigungstermin zu beenden ist, fragen. Freilich darf die Erkenntnis, dass die befristete Verlaufsprognose nach § 626 Abs. 1 BGB oder die Terminprognose nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG sich auf die an den Kündigungsgrund zu stellenden Anforderungen auswirken und gleichzeitig das außerordentliche und das ordentliche Kündigungsrecht gegeneinander abgrenzen, nicht den Blick dafür verstellen, dass das Gesetz für die Wirksamkeit der Kündigung nicht explizit eine "Wiederholungsgefahr" fordert, sondern an ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen anknüpft: Das vergangene Geschehen muss dabei, um zur Kündigung zu berechtigen, einen "an sich wichtigen" Grund i. S. v § 626 Abs. 1 BGB oder personen- oder verhaltensbedingten Grund i. S. v. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG abgeben. Es ist die Grundlage für die Feststellung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überhaupt und nach welcher Frist "unzumutbar" ist. Damit bestimmt - jedenfalls bei der verhaltensbedingten außerordentlichen oder ordentlichen Kündigung die durch das vergangene Geschehen eingetretene Belastung des Arbeitsverhältnisses die "Verhältnismäßigkeit" der Kündigung. Danach bleibt die "Zukunftsprognose" im Rahmen der Interessenabwägung nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt, der die Kündigung als unverhältnismäßig erscheinen lassen kann. Allein die Erwartung, dass sich vergangenes Fehlverhalten nicht wiederholen werde, macht die verhaltensbedingte Kündigung nicht unangemessen. Wohl kann ­ je nach den Umständen des Einzelfalls ­ die günstige Prognose die Korrektur des Ergebnisses bewirken , dass "eigentlich" eine außerordentliche oder ordentliche Kündigung berechtigt gewesen wäre. Die strikte Anwendung des "Prognoseprinzips" gäbe zudem Raum für groteske Erwägungen: Würde etwa der Buchhalter durch Unterschlagungen die Firma ruinieren, die eifersüchtige Sekretärin die Ehefrau ihres Chefs beseitigen oder ein Mitarbeiter im Wutanfall das Betriebsgebäude abfackeln, bestünde jedenfalls für die Dauer der Kündigungsfrist keine Wiederholungsgefahr und eine Kündigung wäre unter diesem Aspekt nicht begründbar. Bei Tätlichkeiten müsste dasselbe gelten, wenn sich die Aversion des Arbeitnehmers lediglich auf einen bestimmten Arbeitskollegen bezöge und dieser Kollege entlassen würde. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Sachverhalte, in denen eine Wiederholungsgefahr aus personenbezogenen oder es aus betrieblichen Gründen praktisch nicht besteht.

Die Kammer hält es ­ in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 12.08.1999, 2 AZR 923/98, AP Nr. 28 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung [dort unter II 2 d bb], Urteil vom 10.10.2002, 2 AZR 418/01, AP Nr. 180 zu § 626 BGB [unter B I 4) und mit weiten Teilen des Schrifttums (ErfK/Müller-Glöge, 4. Aufl., § 626 BGB Rz. 44, APS/Dörner, 2. Aufl., § 1 KSchG Rz. 272, ders. § 626 BGB Rz. 27, Loritz, RdA 1996, 114) ­ daher für richtig, in dem "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" den maßgeblichen Ansatzpunkt im Kündigungsrecht zu sehen. Somit kann auch ohne Wiederholungsgefahr eine Kündigung nach den strengen Anforderungen des § 626 Abs. 1 BGB oder den milderen Anforderungen des § 1 Abs. 2 KSchG berechtigt sein. Wenn in diesem Zusammenhang darauf abgestellt wird, dass die Schwere des Vertragsverstoßes in der Vergangenheit die vertrauensvolle Weiterführung des Arbeitsverhältnisses für die Zukunft ausgeschlossen erscheinen lassen könne (Preis, NZA 1997, 1096 f.), wird inzidenter die kündigungsrechtliche Unmaßgeblichkeit einer günstigen Verhaltensprognose und die Relativität des "Prognoseprinzips" eingeräumt.

Zur Klarstellung sind zwei Punkte anzumerken:

(1) Die "Wiederholungsgefahr" bleibt, wie bereits erwähnt, als wesentlicher Aspekt mit zu berücksichtigen und kann nach ihrer jeweiligen, geringen bis hohen Intensität auf die Beurteilung, ob die Kündigung eine unverhältnismäßige Maßnahme ist, durchschlagen.

(2) Für die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis trotz fehlender Wiederholungsgefahr belastet ist, reicht nicht der amorphe Hinweis auf einen (vom Kündigenden reklamierten) irreparablen Vertrauensverlust. Vielmehr bedarf es, ohne die Darlegungspflicht hinsichtlich der konkreten Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses zu überspannen (vgl. BAG, Urteil vom 24.09.1987, 2 AZR 26/87, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung), der nachvollziehbaren Begründung, dass das inkriminierte Fehlverhalten das Arbeitsverhältnis dermaßen beeinträchtigt, dass die Kündigung, ob außerordentlich oder die ordentlich, ultima ratio ist.

d) Im Ergebnis führt die Würdigung, ob der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar ist, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zu der Feststellung der Nichtberechtigung der außerordentlichen Kündigung vom 03.11.2003. Weil keine größere Beeinträchtigung des Arbeitsablaufs und Betriebsfriedens eingetreten war und keine konkrete Wiederholungsgefahr bestand, war der Beklagten zuzumuten, den Kläger bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiterzubeschäftigen. Ihr Interesse, durch eine Sanktionierung des Verhaltens des Klägers der Belegschaft zu verdeutlichen, dass grobe Beleidigungen und Tätlichkeiten im Betrieb nicht geduldet werden, machte nicht die außerordentliche Kündigung des Klägers notwendig, sondern wurde ­ neben der fristlosen Entlassung des Zeugen L. ­ auch durch eine weniger einschneidende Maßnahme gegenüber dem Kläger ausreichend gewahrt.

4. Die ordentliche Kündigung ist aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt und daher wirksam.

a) Das Fehlverhalten des Klägers lässt die ordentliche Kündigung vom 03.11.2003 bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebes als billigenswert und angemessen erscheinen. Die Gewichtung der (unter I 3) erwähnten Aspekte führt damit zu dem Befund, dass ­ im Unterschied zur fristlosen Kündigung ­ die ordentliche Kündigung angesichts der Schwere der Pflichtverletzung des Klägers und ihrer Folgen als interessengerecht anzusehen ist.

b) Demgegenüber hat das Arbeitsgericht im Rahmen der Interessenabwägung dem Kläger die Mitschuld des Zeugen L. an der Eskalation, die durch den Faustschlag erlittene Verletzung und fehlende Wiederholungsgefahr zugute gehalten und der Beklagten angelastet, sich im Nachhinein nicht ausreichend um eine Konfliktschlichtung und Befriedung bemüht zu haben. Der Kläger hat außerdem geltend gemacht, dass der Vorfall als Kündigungsgrund verwirkt sei, nachdem er und der Zeuge L. dem Zeugen C. versprachen, sich wieder zu vertragen.

c) Nach Auffassung der Kammer verfängt keine dieser Erwägungen.

(11) Die Gefahr, dass es zwischen dem Kläger und dem Zeugen L. zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Beleidigungen und/oder Tätlichkeiten kommen würde, war nach der Aussprache bei dem Zeugen C. minimal; nach der Entlassung eines der Kontrahenten entfiel sie ganz. Immerhin war nicht für alle Zukunft auszuschließen, dass der Kläger erneut auffällig hätte werden können, wenn auch gegenüber einem anderen Arbeitskollegen und in abgewandelter Form. Denn sein Verhalten am 27.10.2003 lässt eine Disposition zu unangemessenen, exzessiv diskreditierenden Überreaktionen und fehlenden Respekt vor der Integrität der Arbeitskollegen erkennen (vgl. BAG, Urteil vom 08.06.2000, 2 AZR 638/99, AP Nr. 163 zu § 626 BGB [zu B I 3 b]).

(22) Ihrem berechtigten Interesse, dass im Betrieb generell grobe Beleidigungen und Tätlichkeiten in der Belegschaft unterbleiben, darf die Beklagte dadurch Rechnung tragen, dass sie schuldhaftes Fehlverhalten konsequent ahndet und durch ihre Sanktionen keine Zweifel darüber aufkommen lässt, dass ein Arbeitnehmer durch solches Fehlverhalten sein Arbeitsverhältnis aufs Spiel setzt. Würde sie über einen Vorfall wie dem vorliegenden hinwegsehen oder es bei einer milden Reaktion belassen, müsste sie befürchten, dass ein Präjudiz geschaffen und der Standard des betrieblichen Zusammenlebens auf ein Niveau fallen würde, das die Hinnahme gröbster Beleidigungen oder Tätlichkeiten impliziert. Aus diesem Grund würde sich ­ auch ohne Wiederholungsgefahr ­ das Geschehen am 27.10.2003 als erhebliche Belastung für die Beklagte erweisen, wenn sie auf Dauer das Arbeitsverhältnis fortsetzen musste. Aus demselben Grund kann der Beklagten auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, keine ausreichenden Schlichtungsbemühungen unternommen zu haben. Sie brauchte solche Bemühungen nicht zu Gunsten des Klägers zu unternehmen, zumal es sich bei ihm nicht um einen langjährig beschäftigten Mitarbeiter handelte, der sich bisher stets vertragsgetreu verhalten hatte und dem ein einmaliges, wenn auch nicht zu entschuldigendes Fehlverhalten eher nachzusehen wäre.

(33) Der Umstand, dass der Kläger eine erhebliche, ihm durch den Zeugen L. beigebrachte Verletzung erlitt, ist im Rahmen der kündigungsrechtlichen Interessenabwägung ohne besonderes Gewicht. Im Übrigen muss sich der Kläger vorhalten lassen, seinerseits durch das Anspucken die Überreaktion des Zeugen ausgelöst zu haben.

(44) Die Beklagte hat ihr Kündigungsrecht nicht dadurch verwirkt, dass der Zeuge C. den Kläger und den Zeugen L. aufforderte, sich wieder zu vertragen und sie, nachdem sie sich die Hand gaben, an ihren Arbeitsplatz entließ. Der Zeuge C. war als stellvertretender Lagerleiter dem Kläger und dem Zeugen L. lediglich fachlich vorgesetzt. Er hatte indessen keine personellen Kompetenzen, war insbesondere nicht zu Kündigungen oder nur zu Abmahnungen befugt. Damit konnte er auch nicht verbindlich für die Beklagte auf die Ausübung des Kündigungsrechts verzichten. Mit der Aussprache ging es ihm ­ für den Kläger erkennbar ­ nur darum, zu verhindern, dass der Vorfall hochgespielt wurde. Dies gelang freilich nicht, weil der Vorfall nicht folgenlos blieb: Zum einen wurde im Betrieb bekannt, dass der Kläger (was er, auch wenn er dies nicht verwirklichte, sich zurechnen lassen muss) eine Strafanzeige gegen den Zeugen L. erwog und weil er überdies ab dem 28.10.2003 verletzungsbedingt fehlte.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.

Gegen dieses Urteil ist kein Rechtsmittel gegeben. Ein gesetzlicher Grund für die Revisionszulassung nach § 72 Abs. 2 ArbGG (Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache oder Divergenz) ist nicht ersichtlich.

Ende der Entscheidung

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