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Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 17.11.2008
Aktenzeichen: 17 Sa 886/08
Rechtsgebiete: MTV Feuerfest-/Säureschutzindustrie i.d.F. vom 01.04.2004


Vorschriften:

MTV Feuerfest-/Säureschutzindustrie i.d.F. vom 01.04.2004 Ziff. 276 (qualifizierte Öffnungsklausel) Anhang 5
Die qualifizierte Öffnungsklausel in Ziffer 276 Nr. 3 Anhang 5 zum MTV ermächtigt den Arbeitgeber nicht, in betriebsratslosen Betrieben die Jahressonderzahlung ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu reduzieren.
Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 07.05.2008 - 14 Ca 711/08 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die restliche Jahressondervergütung für das Jahr 2007.

Der Kläger ist seit dem 06.05.1974 bei der Beklagten, die in E. regelmäßig 29 Arbeitnehmer beschäftigt, als Schlosser mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden und einem Stundenlohn von 17,72 € brutto beschäftigt. Bei der Beklagten besteht kein Betriebsrat.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge für die Feuerfest-/Säureschutzindustrie Anwendung. Gemäß § 2 des Tarifvertrags über Jahressondervergütung, gültig ab dem 01.01.2007, beträgt die Jahressondervergütung für das Jahr 2007 für gewerbliche Arbeitnehmer 164,5 Tarifstundenentgelte.

Ziffer 276 des Anhangs 5 zum Manteltarifvertrag der Feuerfest-/ Säureschutzindustrie vom 01.04.2004 - gültig ab dem 25.01.2007 - (im folgenden Ziffer 276) lautet:

Ziffer 276 (Qualifizierte Öffnungsklausel)

"1. Arbeitgeber und Betriebsrat können ergänzend zu diesem Tarifvertrag freiwilliger Betriebsvereinbarungen im Sinne von § 77 Abs. 3 BetrVG unter Beachtung des § 46 Abs. 6 BetrVG abschließen.

2. Die abweichenden betrieblichen Regelungen unterlägen dem Zustimmungsvorbehalt der Tarifvertragsparteien, die insbesondere prüfen, ob die Betriebsvereinbarung den Rahmen der Öffnungsklausel nicht überschreiten. Die Notwendigkeit der abweichenden Regelungen muss anhand nachvollziehbarer Kriterien begründet werden. Bei Einvernehmen der Betriebsparteien und Konformität mit den tariflichen Bestimmungen sollen die Tarifvertragsparteien ihre Zustimmung erteilen.

3. In betriebsratslosen Betrieben erfolgt eine Anhörung der Belegschaft.

4. Tarifliche Leistungen einschließlich Leistungen aus den Entgelttarifverträgen und den Tarifverträgen zur Jahressondervergütung können kumulativ bis zu einer jährlichen Gesamtgrößenordnung eines tariflichen Monatseinkommens nach Art, Höhe und Auszahlungszeitpunkt verändert werden. Ausgenommen hiervon sind folgende Bereiche dieses Manteltarifvertrages:

...

5. Hauptzweck der ergänzenden Betriebsvereinbarungen sind durch Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen beschäftigungssichernde bzw. standortsichernde Maßnahmen.

Beispielhaft können dies u.a. sein:

- Sicherung und Förderung der Beschäftigung

- die Qualifizierung der Arbeitnehmer

- Alternativen zur Ausgliederung von Arbeit oder ihrer Vergabe an andere Unternehmen

- Sicherung von Produktion-und Investitionsprogrammen.

Die Regelungen des § 92a BetrVG sind hiervon unberührt."

Der Geschäftsführer der Beklagten beabsichtigte, die Jahressondervergütung 2007 im Dezember zu 50% auszuzahlen. Am 30.11.2007 fand hierzu bei der Beklagten eine Anhörung der Belegschaft statt.

Eine Zustimmung der Tarifvertragsparteien zur Kürzung der Jahressondervergütung wurde nicht eingeholt.

Für das Jahr 2007 zahlte die Beklagte an den Kläger die Hälfte der Jahressondervergütung (Stundenlohn 17,72 € brutto x 164,5 Stunden 2914,94 € brutto) in Höhe von 1457,47 € brutto.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass die Beklagte nicht berechtigt sei, die Jahressonderzuwendung ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu kürzen. Der Manteltarifvertrag enthalte keine Öffnungsklausel für betriebsratslose Betriebe.

Der Kläger hat beantragt,

1. Die Beklagte zu verurteilen, 1457,47 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage an ihn zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass sie berechtigt sei, einseitig die Jahressondervergütung zu kürzen. Die Ziffer 276 enthalte eine qualifizierte Öffnungsklausel für betriebsratslose Betriebe. Die Voraussetzungen unter denen die qualifizierte Öffnungsklausel eine Reduzierung der Jahressondervergütung zulasse, seien erfüllt gewesen. Die Belegschaft sei zuvor angehört worden. Die Maßnahme sei zur Sicherung der Beschäftigung erforderlich gewesen, da ansonsten Kurzarbeit oder zumindest eine betriebsbedingte Kündigung gedroht hätte. Im Oktober 2007 sei eine stark abflauende Tendenz im Geschäftsbetrieb der Beklagten festzustellen gewesen. Es sei ein akutes Einsparerfordernis von ca. 40.000 € festgestellt worden.

Mit Urteil vom 07.05.2008 hat das Arbeitsgericht der Klage auf Zahlung der restlichen Jahressondervergütung stattgegeben und dazu ausgeführt, dass die Zustimmung der Tarifvertragsparteien Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Reduzierung der Jahressondervergütung 2007 sei. Dies ergebe sich aus der Auslegung der Ziffer 276. Auch wenn die Ziffer 276 Nr. 2 nicht ausdrücklich die Anhörung der Belegschaft nenne, sondern im zweiten Halbsatz des Satzes 1 auf die Betriebsvereinbarung abstelle, so komme doch aus dem Gesamtzusammenhang der Ziffer 276 eindeutig zum Ausdruck, dass auch im Falle der Anhörung der Belegschaft in betriebsratslosen Betrieben der Zustimmungsvorbehalt gelte. Die Nr. 1 und 2 müssten für den betriebsratslosen Betrieb so gelesen werden, dass die "freiwillige Betriebsvereinbarung" durch " Anhörung der Belegschaft" ersetzt werde. Hätten die Tarifvertragsparteien eine Unterscheidung dahingehend treffen wollen, dass ein betriebsratsloser Betrieb beliebig von den Tarifvertragsregelungen abweichen könne, so hätten sie dies deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Dass dies nicht das Ziel der Regelung gewesen sein könne, ergebe sich aus der Überlegung, dass in einem Betrieb, in dem ein Betriebsrat über die Rechte der Arbeitnehmer wache, ein geringeres Bedürfnis bestehe, einen weiteren Schutz durch die Tarifvertragsparteien zu gewährleisten, als in einem Betrieb, in dem es keinen Betriebsrat gebe, der über die Arbeitnehmerrechte wache. Auch die Regelung in Ziffer 276 Nr. 2 S. 3 zeige, dass die Auslegung der Beklagten nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien entspreche, da danach die Tarifvertragsparteien ihre Zustimmung bei Einvernehmen der Betriebsparteien und Konformität mit den tariflichen Bestimmungen erteilen sollen. Da die Zustimmung nicht vorliege und lediglich die Belegschaft angehört worden sei, könne der Kläger die restliche Vergütung verlangen. Es könne dahinstehen, ob die sonstigen Voraussetzungen für eine wirksame Kürzung nach Ziffer 276 vorlägen.

Gegen das der Beklagten am 02.06.2008 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf hat die Beklagte mit dem am 18. 06. 2008 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 04. 08.2008 per Fax und am 05.08.2006 im Original beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.

Mit der Berufung macht die Beklagte geltend, dass die Zustimmung der Tarifvertragsparteien zur Reduzierung der Jahressondervergütung nicht erforderlich gewesen sei. Allein die Ziffer 276 Nr. 3 der qualifizierten Öffnungsklausel befasse sich mit betriebsratslosen Betrieben. Ein Erfordernis der Zustimmung der Tarifvertragsparteien werde darin nicht aufgestellt. Die unstreitig erfolgte Anhörung der Belegschaft könne auch nicht als " abweichende betriebliche Regelung " im Sinne der Nr. 2 der Öffnungsklausel angesehen werden. Eine Anhörung sei keine Regelung in diesem Sinne. Es müsse am eindeutigen Wortlaut der Ziffer 276 festgehalten werden, dass sich die Nr. 1 und 2 mit Betrieben beschäftigten, in denen ein Betriebsrat existiere und die Tarifvertragsparteien, die auch die betriebsratslosen Betriebe im Blick gehabt hätten, eine ausdrückliche Regelung in Nr. 3 für betriebsratslose Betrieben getroffen hätten. Wenn die Tarifvertragsparteien auch hier einen ausdrücklichen Zustimmungsvorbehalt ihrerseits für notwendig gehalten hätten, hätte dies ausdrücklich erwähnt werden müssen. Allein durch die Tatsache, dass betriebsratslose Betriebe eine ausdrückliche Regelung und Erwähnung durch die Tarifvertragsparteien erfahren hätten, sei die Möglichkeit verwehrt, eine vermeintliche Regelungslücke mit einem Zustimmungserfordernis der Tarifvertragsparteien aufzufüllen. Im Übrigen gebe es bei einer förmlichen Betriebsvereinbarung eine "Regelung", die überhaupt zustimmungsfähig sei. Bei einer Anhörung der Belegschaft gebe es dagegen keine Regelung, der die Tarifvertragsparteien zustimmen könnten. Wenn man die Zustimmung der Tarifvertragsparteien für erforderlich halten würde, würde man jeglicher betrieblichen Verständigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unzulässigerweise jede Bedeutung absprechen. Die Tarifvertragsparteien würden entweder gar nichts prüfen oder ihre eigene Prüfungskompetenz in den einzelnen Betrieb hineintragen, was jedoch unzweifelhaft dem Wortlaut, wie auch dem Sinn und Zweck der tariflichen Öffnungsklausel widersprechen würde. Der eindeutige Tarifwortlaut spreche für betriebsratslose Betriebe nur von einer Anhörung der Belegschaft und nicht vom Zustimmungserfordernis der Tarifvertragsparteien. Der vom Arbeitsgericht angenommene angebliche Wille der Tarifvertragsparteien habe im Tarifwortlaut keinen Niederschlag gefunden. Auch das Praktikabilitätserfordernis sei nicht berücksichtigt worden, weil bereits das Procedere einer Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu einer Regelung mangels derselben nicht möglich sei. Das Argument, dass ein geringeres Schutzniveau der Belegschaft gegeben sei, verfange nicht. Die Arbeitnehmer, die zu einer beabsichtigten unternehmerischen Entscheidung ausdrücklich gehört würden, hätten die direkte Möglichkeit, mit dem Arbeitgeber in eine Diskussion über Sinn und Notwendigkeit der beabsichtigten Maßnahme einzutreten. Es gehe auch die Ansicht fehl, dass nach diesseitiger Sichtweise in betriebsratslosen Betrieben, ohne jede Kontrolle eine Kürzung tariflicher Ansprüche möglich sei. Auch in betriebsratslosen Betrieben dürfte eine beschäftigung- bzw. standortsichernde Wirkung der Maßnahme erforderlich sein. Die beschäftigungs- und standortsichernden Wirkungen der Maßnahmen ständen einer arbeitsgerichtlichen Kontrolle offen. Die Beschäftigung bei der Beklagten werde auch durch die Kürzung der Jahressondervergütung 2007 gesichert und gefördert. Es fänden in festen Abständen, grundsätzlich jeden Montag, Besprechungen der Geschäftsleitung mit der kaufmännischen Leitung, mit dem Vertrieb und mit den Produktionsleitern statt, bei denen Produktionsprogramme, die wirtschaftliche Situation sowie eventuelle Unregelmäßigkeiten besprochen würden. Im Oktober 2007 sei eine stark abfallende Tendenz im Geschäftsbetrieb festgestellt worden. Dies habe sich an nicht ausreichenden Zahlungseingängen und zurückgehenden Umsätzen bemerkbar gemacht. Man sei zu der Entscheidung gekommen, dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssten, um Kosten einzusparen und damit den Standort zu sichern. Es seien zunächst Arbeitszeitkonten der Mitarbeiter möglichst auf Null gesetzt und Resturlaub realisiert worden. Darüber hinaus habe man ein Einsparerfordernis von 40.000,00 € festgestellt. Man habe Kurzarbeit, die Kürzung der Jahressondervergütung 2007 für alle Mitarbeiter auf die Hälfte und eine betriebsbedingte Kündigung eines Produktionsmitarbeiters im gewerblichen Bereich diskutiert. Die Berechnungen hätten ergeben dass das Einsparziel bei Kurzarbeit nach 2,5 bis 3 Monaten in Höhe von 30% zu erreichen gewesen sei. Bei einer Kürzung der Jahressondervergütung habe man sofort eine Kosteneinsparung in Höhe von 42.000,00 € erreichen können. Bei Abwägung der unterschiedlichen Möglichkeiten sei die Kürzung der Jahressondervergütung durch die qualifizierte Öffnungsklausel gedeckt. Durch die Maßnahme würden auch die Wettbewerbsbedingungen der Beklagten verbessert. Dies stelle eine ausreichende Darstellung der Gefährdung von Arbeitsplätzen dar.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 07.05.2008 - 14 Ca 711/08 -, zugegangen am 02. 06. 2008, abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertritt im Wesentlichen die Auffassung, dass die Tarifvertragsparteien keine allgemeine Öffnungsklausel vereinbart hätten, die die Betriebsparteien in die Lage versetzen würden, auch vom Tarifrecht abweichende ungünstigere Regelungen zu treffen. Die Tarifvertragsparteien hätten lediglich den Betriebsparteien einen Hinweis gegeben, dass sie bereit wären, auch bei schlechteren Regelungen für die Belegschaft zuzustimmen. Nach dem Tarifvertrag Rdz. 168 sei die Zustimmung der Tarifvertragsparteien erforderlich. Diese Regelung werde in der Ziffer 276 Nr. 2 ausdrücklich bestätigt. Abweichende Regelungen unterlägen dem Zustimmungsvorbehalt der Tarifvertragsparteien, die insbesondere zu prüfen hätten, ob die Betriebsvereinbarung den Rahmen der Öffnungsklausel überschreitet. Bei Einvernehmen der Betriebsparteien und Konformität mit den tariflichen Bestimmungen sollten die Tarifvertragsparteien ihre Zustimmung erteilen. Es liege lediglich eine Sollvorschrift vor, d.h., dass der Ermessensspielraum der Tarifvertragsparteien eingeengt sei, wenn die Voraussetzungen für eine wirtschaftlich schwierige Lage vorlägen. Dass den Tarifvertragsparteien von der Beklagten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nachvollziehbar mitgeteilt worden seien, sei nicht vorgetragen.

Wegen des weiteren Berufungsvorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die statthafte (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes zulässige (§ 64 Abs. 2 ArbGG), form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung (§§ 66 Abs. 1 S. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 Abs. 3 ZPO) ist zulässig.

II.

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Die Berufungskammer folgt den zutreffenden Gründen der Entscheidung des Arbeitsgerichts Düsseldorf. Die Angriffe der Berufung gegen dieses Urteil greifen nicht durch.

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung weiterer 1457,47 € brutto. Gemäß § 2 des kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anzuwendenden Tarifvertrags Jahressondervergütung für die Jahre 2007 bis 2012 gültig ab dem 01.01.2007 hat der Kläger für das Jahr 2007 einen Anspruch auf eine Jahressondervergütung in Höhe von 2914,94 € brutto (164,5 Tarifstundenentgelte). Da erst ein Betrag in Höhe von 1457,47 € brutto gezahlt worden ist, ist die Beklagte verpflichtet, den geltend gemachten Restbetrag zu zahlen.

a) Die Reduzierung der Jahressonderzahlung durch die Beklagte ist wegen Verstoßes gegen den Tarifvertrag unwirksam. Aufgrund der Tarifbindung der Parteien (§ 3 Abs. 1 TVG) entfalten die Tarifregelungen gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbare und zwingende Wirkungen. Abweichungen sind gemäß § 4 Abs. 3 TVG nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zu Gunsten des Arbeitnehmers enthalten.

b) Entgegen der Auffassung der Beklagten ermächtigt die qualifizierte Öffnungsklausel Ziffer 276 des Anhangs 5 zum Manteltarifvertrag der Feuerfest -/ Säureschutzindustrie vom 01.04.2004 - gültig ab dem 21.01.2007 - nicht den Arbeitgeber, in betriebsratslosen Betrieben ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien vom Tarifvertrag abzuweichen.

aa) Die Ziffer 276 Nr. 3., die sich alleine mit betriebsratslosen Betrieben beschäftigt, lautet, "in betriebsratslosen Betrieben ist die Belegschaft anzuhören". Die Vorschrift ist mithin in Bezug auf die Streitfrage nicht eindeutig und bedarf der Auslegung.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG zuletzt Urteil vom 09.04.2008 - 4 AZR 104/07- n.v.; BAG v. 23.10.2002 - 3 AZR 4068/01-, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 184 = EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 36) folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages oder die praktische Tarifübung ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt. (z.B. BAG Urteil v. 30. 05.2001 - 4 AZR 269/00 BAGE 98,35,38 f.; 07. 07. 2004 - 4 AZR 433/03-BAGE 111, 204, 209) .

bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann der Auffassung der Beklagten nicht gefolgt werden, dass der Arbeitgeber gem. Ziffer 276 Nr. 3 berechtigt ist, in betriebsratslosen Betrieben die Jahressonderzuwendung einseitig nach Anhörung der Belegschaft, ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien, zu reduzieren, wenn die in Ziffer 5 genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

(1) Die Ziffer 276 enthält nur konkrete Regelungen für Betriebe mit Betriebsrat, wenn dort vom Tarifvertrag abweichende Betriebsvereinbarungen geschlossen werden sollen. In Nr. 1 ist ausdrücklich aufgeführt, dass Arbeitgeber und Betriebsrat ergänzend zu diesem Manteltarifvertrag freiwillige Betriebsvereinbarungen im Sinne des § 77 Abs. 3 BetrVG unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG abschließen können. In Nr. 2 ist festgelegt, dass die abweichenden betrieblichen Regelungen dem Zustimmungsvorbehalt der Tarifvertragsparteien unterliegen und welche Prüfungen die Tarifvertragsparteien vorzunehmen haben bzw. bei Vorliegen welcher Voraussetzungen die Tarifvertragsparteien ihre Zustimmung erteilen sollen. Die betriebsratslosen Betriebe werden nur in der Nr. 3 erwähnt. Dort ist aufgeführt, dass in betriebsratslosen Betrieben eine Anhörung der Belegschaft erfolgt.

(2) Entgegen der Auffassung der Beklagten kann der Nr. 3 nicht entnommen werden, dass der Arbeitgeber in betriebsratslosen Betrieben ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien vom Tarifvertrag über die Jahressondervergütung abweichen kann. Der Satz befasst sich schon vom Wortlaut nicht mit den Tarifvertragsparteien, sondern nur damit, wie sich der Arbeitgeber in betriebsratslosen Betrieben gegenüber der Belegschaft zu verhalten hat. Er hat sie nach dem Willen der Tarifvertragsparteien anzuhören. Wie sich der Arbeitgeber gegenüber den Tarifvertragsparteien zu verhalten hat, ergibt sich daraus nicht. Die Tarifvertragsparteien werden nicht erwähnt. Der Wortlaut des Anhangs des Tarifvertrages, insbesondere der Inhalt der speziellen Vorschrift, spricht mithin nicht für die Auffassung der Beklagten.

(3) Nach Auffassung der Kammer ergibt sich auch weder aus der Systematik des Tarifvertrages noch aus dem Sinn und Zweck der Regelung, dass in betriebsratslosen Betrieben ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien vom Tarifvertrag zum Nachteil der Arbeitnehmer abgewichen werden kann.

Allein aus der Erwähnung der betriebsratslosen Betriebe in der tariflichen Öffnungsklausel ergibt sich das nicht. Es ist zwar davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien jedem im Tarifvertrag verwendeten Satz eine Bedeutung zugemessen haben. Es kann aber der Beklagten nicht gefolgt werden, dass der Regelung in Nr. 3 nur dann ein Sinn zu entnehmen ist, wenn man sie dahingehend versteht, dass dem Arbeitgeber damit in betriebsratslosen Betrieben unter bestimmten Voraussetzungen ein einseitiges Recht zur Reduzierung der Jahressonderzahlung eingeräumt werden sollte.

Der Satz ist nicht inhaltsleer, wenn man den Wortlaut zugrunde legt. Er befasst sich damit, wie sich der Arbeitgeber gegenüber der Belegschaft bei einer Abweichung von den tariflichen Vorschriften zu verhalten hat. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien soll die Belegschaft vorher angehört werden. Die Tarifvertragsparteien wollten damit offensichtlich allein das Verhalten gegen Belegschaft regeln. Darin erschöpft sich der Inhalt des Satzes.

(4) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der weiteren Vorschriften des Tarifvertrages zur Jahressondervergütung. Der Manteltarifvertrag, gültig ab 01.04.2004, sieht in der Ziffer 168 vor, dass Arbeitgeber und Betriebsrat bei tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien Ausnahmelösungen vereinbaren können. Betriebsratslose Betriebe werden dort nicht erwähnt. Daraus kann nur geschlossen werden, dass nach diesem Willen der Tarifvertragsparteien selbst bei tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur in Betrieben mit Betriebsrat Abweichungen zum Nachteil der Arbeitnehmer möglich sein sollen. Für betriebsratslose Betriebe gilt das nicht. Die qualifizierte Öffnungsklausel in der Ziffer 276 enthält eine vergleichbare Regelung. Es werden zudem unter Ziffer 5. weitere Gründe genannt, aufgrund derer abweichende freiwillige Betriebsvereinbarungen möglich sind.

Soweit die Beklagte davon ausgeht, dass der Arbeitgeber in betriebsratslosen Betrieben auch nur bei Vorliegen der im Tarifvertrag unter Ziffer 5. genannten besonderen Gründe vom Tarifvertrag abweichen kann und damit dem Willen der Tarifvertragsparteien Rechnung getragen wird, überzeugt das nicht. Der Wortlaut der Regelung spricht bereits gegen die Auffassung der Beklagten. Die Ziffer 5. spricht vom "Hauptzweck der ergänzenden Betriebsvereinbarungen". Die Tarifvertragsparteien setzten damit wie selbstverständlich voraus, dass Veränderungen aufgrund von ergänzenden Betriebsvereinbarungen erfolgen. Nach dem üblichen Sprachgebrauch werden aber unter Betriebsvereinbarungen nur Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat verstanden. Dafür, dass die Tarifvertragsparteien darunter auch Regelungen zwischen dem Arbeitgeber und der Belegschaft bzw. zwischen einzelnen Arbeitnehmern verstanden haben, ergeben sich keine Anhaltspunkte, zumal in Ziffer 276 Nr.1 auf die Vorschriften des BetrVG (§ 77, 76 BetrVG) Bezug genommen wird.

(5) Für die Auffassung der Kammer spricht zudem die Protokollnotiz zu Ziffer 276 (qualifizierte Öffnungsklausel). Darin heißt es, "bei gesetzlichen Änderungen zur Öffnung tarifliche Regelungen auf betrieblicher Ebene, die Abweichungen gegebenenfalls auch ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien erlauben, werden die Tarifvertragsparteien Verhandlungen aufnehmen". Die Protokollnotiz weist allgemein auf Änderungen tariflicher Regelungen auf betrieblicher Ebene hin, ohne zwischen Betrieben mit Betriebsrat und ohne Betriebsrat zu differenzieren. In jedem Fall sollen bei gesetzlichen Änderungen zur Öffnung tarifliche Regelungen ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien Verhandlungen der Tarifvertragsparteien aufgenommen werden. Selbst bei gesetzlichen Änderungen zur Öffnung tariflicher Regelungen wollen die Tarifvertragsparteien reagieren. Daraus ist unzweifelhaft zu entnehmen, dass ohne eine gesetzliche Änderung Abweichungen vom Tarifvertrag erst recht der Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedürfen.

(6) Letztlich sprechen auch allgemeine Erwägungen gegen ein einseitiges Änderungsrecht des Arbeitsgebers, worauf das Arbeitsgericht zu Recht hinweist. Wenn sich die Tarifvertragsparteien schon in Betrieben mit Betriebsrat eine Kontrolle von abweichenden freiwilligen Betriebsvereinbarungen vorbehalten, so ist kein Grund dafür erkennbar, warum sie in betriebsratslosen Betrieben, in denen dem Arbeitgeber nur der einzelne Arbeitnehmer und nicht der Betriebsrat entgegensteht, der die Interessen der Gesamtbelegschaft vor Augen hat und mit dem er sich zwingend einigen muss, auf eine Kontrolle von Änderungen verzichten sollten. Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass bei Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Zulässigkeit der Maßnahme im Rahmen einer gerichtlichen Ermessenskontrolle eine Überprüfung stattfindet und damit missbräuchliches Verhalten ausgeschlossen wird. Hier geht es nicht um die Möglichkeiten zur Überprüfung einer einseitigen Vertragsänderung durch den Arbeitnehmer, sondern alleine um die Beteiligung der Tarifvertragsparteien vor der Durchführung der Maßnahme.

Angesichts der Gesamtumstände, insbesondere aufgrund gesetzlichen Regelungen in § 4 Abs. 3, 4 TVG , hätte es folglich einer deutlicheren Regelung im Tarifvertrag bedurft, um davon auszugehen, dass Tarifvertragsparteien auf ihr Zustimmungsrecht bei Abweichungen vom Tarifvertrag verzichten wollten. Daran fehlt es hier.

Angesichts der obigen Ausführungen kam es nicht mehr darauf an, ob die Kürzung durch sachliche Gründe bedingt war.

Nach alledem kann der Kläger den geltend gemachten Betrag verlangen und die Berufung war zurückzuweisen.

2. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288, 291 BGB.

III.

Die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels waren gemäß §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 97 ZPO der Beklagten aufzuerlegen.

IV.

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen, da entscheidungserhebliche Rechtsfragen vorliegen, die grundsätzliche Bedeutung haben, für die Einheitlichkeit der Rechtsordnung von allgemeiner Bedeutung und höchstrichterlich noch nicht entschieden sind.

Ende der Entscheidung

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