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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 20.03.2007
Aktenzeichen: 3 Sa 30/07
Rechtsgebiete: MTV Chemische Industrie


Vorschriften:

MTV Chemische Industrie § 8 Abs. 1 Ziffer. 5
§ 8 Abs. 1 Ziffer 5 MTV Chem. Industrie gewährt bei stationärer Unterbringung der Ehefrau des Arbeitnehmers dann keinen Anspruch auf bezahlte Freistellung, wenn dieser zur Versorgung minderjähriger Kinder stellvertretend den Haushalt führt. Insoweit liegt keine "Anwesenheit des Arbeitnehmers zur vorläufigen Sicherung der Pflege" i.S.d. Tarifbestimmung vor.
Tenor:

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Krefeld vom 04.12.2006 5 Ca 2449/06 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

3. Streitwert: 218,18 €.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die bezahlte Freistellung des Klägers nach § 8 Abs. 1 Ziff. 5 des Manteltarifvertrages der Chemischen Industrie (im Folgenden: MTV).

Der Kläger ist bei der Beklagten zu einer Vergütung von monatlich ca. 2.400,-- € brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft einzelvertraglicher Vereinbarung die Tarifverträge für die Chemische Industrie Anwendung.

Die Ehefrau des Klägers befand sich am 16. und 17.03.2006 entsprechend einer vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigung vom 16.03.2006 (Bl. 4 d.A.) in stationärer Krankenhausbehandlung. Unter Berufung auf die Regelung des § 8 Abs. 1 Ziff. 5 MTV beantragte der Kläger für diese beiden Tage bezahlten Sonderurlaub. Die Beklagte stellte ihn für diese Tage unter Fortzahlung der Vergütung frei, rechnete sie hingegen auf den tariflichen Urlaubsanspruch des Klägers an. Eine bezahlte Freistellung nach § 8 Abs. 1 Ziff. 5 MTV lehnte sie hingegen ab.

In der Tarifbestimmung lautet es wie folgt:

§ 8

Freistellung von der Arbeit

I.

Freistellungskatalog

Dem Arbeitnehmer ist ohne Anrechnung auf seinen Urlaub und ohne Verdienstminderung Freizeit wie folgt zu gewähren:

1. bei seiner Eheschließung 2 Tage

2. anlässliche der Geburt seines Kindes

bei nichtehelichen Kindern ist der Vaterschaftsnachweis durch eine Bescheinigung des Jugendamtes zu erbringen, andernfalls ist der gewährte Freistellungstag als Urlaubstag anzurechnen. Ist die Anrechnung auf den laufenden Jahresurlaub nicht möglich, erfolgt die Verrechnung im folgenden Urlaubsjahr 1 Tag

3. bei Teilnahme an der Hochzeit seiner Kinder, Stief- oder Pflegekinder sowie der goldenen oder diamantenen Hochzeit der Eltern oder Stiefeltern 1 Tag

4. bei seiner silbernen Hochzeit 1 Tag

5. bei schwerer Erkrankung von zur Hausgemeinschaft gehörenden Familienmitgliedern, sofern der Arzt bescheinigt, dass die Anwesenheit des Arbeitnehmers zur vorläufigen Sicherung der Pflege erforderlich ist.

bis zu 2 Tage

6. bei Tod seines Ehegatten 3 Tage

7. bei Tod seiner Eltern oder Kinder; sowie bei Tod seiner Stiefeltern, Schwiegereltern, Geschwister, Stiefkinder oder Pflegekinder, falls sie mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt lebten 2 Tage

8. bei der Teilnahme an der Beisetzung von Stiefeltern, Schwiegereltern, Geschwistern, Stiefkindern, Schwiegerkindern oder Pflegekindern, die nicht mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt lebten 1 Tag

9. bei Arbeitsjubiläen nach 25-, 40- und 50jähriger Betriebszugehörigkeit 1 Tag

Mit der am 18.09.2006 bei dem Arbeitsgericht Krefeld eingegangenen Klage hat der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Beklagte nicht berechtigt sei, die Freistellung an diesen beiden Tagen auf den tariflichen Jahresurlaub anzurechnen. Hierzu hat er die Ansicht vertreten, bereits nach dem Wortlaut der Tarifbestimmung komme es darauf an, dass die Pflege des Erkrankten durch die Präsenz des zur Freistellung Berechtigten gesichert werden sollte, wobei eine Sicherung auch dadurch erfolgen könne, dass der Arbeitnehmer zur Versorgung der Kinder anstelle des Erkrankten den Haushalt führe.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, dass die Beklagte nicht berechtigt ist, den dem Kläger für den 16. und 17.03.2006 gewährten Urlaub auf den dem Kläger zustehenden Jahresurlaub anzurechnen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Voraussetzungen für eine bezahlte Freistellung nach der Tarifbestimmung seien nicht gegeben. Die Pflege der Ehefrau des Klägers im Krankenhaus sei auch ohne dessen Anwesenheit im Haushalt sichergestellt gewesen. Die Haushaltsführung und Beaufsichtigung der Kinder während der Erkrankung eines anderen Familienmitgliedes werde von der tariflichen Regelung nicht erfasst. Entsprechend könne sich ein ärztliches Attest auch nur auf die Erkrankung des Patienten und die Notwendigkeit der Pflege beziehen, nicht aber auf die Erforderlichkeit der Haushaltsführung und Kinderbetreuung.

Durch Urteil vom 04.12.2006, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe ergänzend Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht Krefeld die Klage kostenpflichtig abgewiesen und den Streitwert auf 218,18 € festgesetzt. Das Gericht hat die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, bereits der Wortlaut der Tarifbestimmung stehe dem Klagebegehren entgegen. "Pflege" könne sich begrifflich nur auf den Erkrankten, nicht hingegen andere, gesunde Familienmitglieder beziehen. Bezahlte Freistellung werde nur für die unmittelbare Pflege des Erkrankten selbst gewährt.

Gegen das ihm am 08.12.2006 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 08.01.2007 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem weiteren, dem Gericht am 08.02.2007 vorliegenden Schriftsatz begründet.

Mit der Berufung greift der Kläger das Urteil in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht an und macht geltend, nach dem Wortlaut der tariflichen Regelung sei ausreichend, dass die Pflege des Erkrankten durch die Präsenz des anspruchsberechtigten Arbeitnehmers gesichert werde. Dies könne auch durch Anwesenheit im Haushalt erfolgen, um auf diese Weise die Pflege des Familienmitgliedes erst zu ermöglichen. Die weitere Wahrnehmung der Versorgungspflichten durch die erkrankte Ehefrau selbst hätte andernfalls zur Möglichkeit der erforderlichen stationären Behandlung geführt.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Krefeld vom 04.12.2006 5 Ca 2449/06 festzustellen, dass die Beklagte nicht berechtigt ist, den dem Kläger für den 16. und 17.03.2006 gewährten Urlaub auf den dem Kläger zustehenden Jahresurlaub anzurechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens. Sie hält an der Auffassung fest, die Sicherung der vorläufigen Pflege beinhalte zwar auch eine Pflege des Erkrankten durch Dritte, bei der jedoch eine Anwesenheit des Arbeitnehmers beim Erkrankten notwendig sein müsse.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in beiden Rechtszügen wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen (§§ 525, 313 Abs. 2 ZPO, 64 Abs. 6 ArbGG).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Krefeld vom 04.12.2006 ist zulässig, hingegen unbegründet.

I. Die Berufung ist an sich statthaft, § 64 Abs. 1 ArbGG, gem. § 64 Abs. 2 lit. a) ArbGG zulässig sowie in gesetzlicher Form und Frist eingelegt und begründet worden, §§ 519 Abs. 1 u. 2, 520 Abs. 2 u. 3 ZPO, 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG.

II. Die Berufung hatte hingegen in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht ist das Arbeitsgericht Krefeld zur Klageabweisung gelangt. Mit den Erwägungen der Berufung vermochte der Kläger eine Abänderung der angefochtenen Entscheidung nicht herbeizuführen.

Zutreffend hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass sich der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf bezahlte Freistellung für den 16. und 17.03.2006 nicht aus § 8 Abs. 1 Ziff. 5 MTV herleiten lässt. Insoweit wird auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe gem. §§ 540 Abs. 1 ZPO, 64 Abs. 6 ArbGG Bezug genommen. Die Beklagte war berechtigt, diese beiden Tage auf den Jahresurlaubsanspruch des Klägers anzurechnen, nachdem der Kläger hierfür ausdrücklich bezahlte Freistellung und nicht etwa für den Fall der Verweigerung des Sonderurlaubs unbezahlte Freistellung beantragt hatte.

Eine Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrages hat nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln zu erfolgen. Zunächst ist vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu ermitteln ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne an den Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist jedoch der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Zweck der Tarifnormen zu berücksichtigen, sofern und soweit dieser Wille in den Tarifnormen seinen Niederschlag gefunden hat. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil häufig nur aus ihm und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen und nur bei Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Sinn und Zweck zutreffend ermittelt werden kann (vgl. in stdRspr. BAG v. 28.05.1998, AP Nr. 52 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag). Noch verbleibende Zweifel können ohne Bindung an eine Reihenfolge mittels weiterer Kriterien wie der Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch der praktischen Tarifübung geklärt werden. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG v. 18.05.2006, NZA 2007, 103; BAG v. 05.10.1999, AP Nr. 15 zu § 4 TVG Verdienstsicherung).

In Anwendung diese Grundsätze ist für den geltend gemachten Sonderurlaubsanspruch aus der tariflichen Bestimmung nichts herzuleiten.

1. Soweit der Kläger in seinem vorgerichtlichen Schreiben vom 10.04.2006 den Standpunkt vertreten hat, in der Tarifbestimmung sei nicht explizit aufgeführt, wer der Pflege bedarf, war dem nicht beizutreten. Wie sich aus dem Text unschwer ergibt, ist Bezugsobjekt der "Pflege" der Erkrankte selbst und nicht etwa ein Dritter. Insbesondere ist die Versorgung der zuhause befindlichen gesunden Kinder bei stationärem Aufenthalt der Mutter keine "Pflege" im Tarifsinne, wie sich auch aus dem Gesamtzusammenhang der Tarifbestimmung ergibt. Für eine Interpretation in dieser Richtung entgegen dem eindeutigen Wortlaut finden sich auch ansonsten keinerlei Anhaltspunkte.

2. Soweit der Kläger sodann die Auffassung vertreten hat, ein Anspruch bestehe auch deshalb, weil seine "Anwesenheit" im Tarifsinne in der häuslichen Wohnung und die Versorgung der Kinder zur "Sicherung der Pflege" der stationär behandelten Ehefrau erforderlich gewesen sei, vermochte dem ebenso wenig beigetreten zu werden. Zwar setzt die "vorläufige Sicherung der Pflege" nicht voraus, dass der Arbeitnehmer selbst die Pflege durchführt. Ausreichend ist nach dem Wortlaut, dass seine Anwesenheit zur Sicherung der Pflege erforderlich ist, mithin es nicht darauf ankommt, ob er sich selbst unmittelbar an der Pflege beteiligt oder dies auf andere Weise geschieht. Ist allein der Erkrankte das Bezugsobjekt der Pflege, so ist folglich die "Anwesenheit" des Arbeitnehmers unmittelbar oder mittelbar auf die Anwesenheit bei diesem bezogen. Die Führung des Haushalts und Versorgung der Kinder stellt sich von daher bei stationärem Aufenthalt des Angehörigen nicht als "Anwesenheit zur Sicherung der Pflege" im Tarifsinne dar.

Zu berücksichtigen ist schließlich, dass ein Sonderurlaub nach dem Freistellungskatalog des § 8 Abs. 1 MTV nur gewährt werden soll, sofern der Arzt die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Arbeitnehmers zur vorläufigen Sicherung der Pflege bescheinigt. Ob die Anwesenheit in diesem Sinne erforderlich ist, soll mithin ärztlicher Beurteilung unterliegen. Allein der Arzt kann die Schwere der Krankheit und den erforderlichen Pflegeaufwand sowie die hierzu einzuleitenden Maßnahmen diagnostizieren. Auch hierdurch wird deutlich, dass es sich um die Pflege des erkrankten Angehörigen und nicht etwa die Versorgung nicht erkrankter Dritter handelt und es eine Fragestellung medizinischer Art ist, ob die Anwesenheit beim Erkrankten zur Sicherung seiner Pflege erforderlich ist oder nicht. Keiner medizinischen Fachkenntnisse würde hingegen die Beantwortung der Frage bedürfen, ob die Versorgung der Kinder und Führung des Haushalts bei Abwesenheit der Ehefrau nötig ist oder nicht. Hierbei käme es auf Bewertungen an, die ärztlicher Diagnose und Einschätzung nicht unterliegen. Es steht von daher außer Frage, dass es nicht wie der Kläger annimmt darauf ankommt, ob durch seine Anwesenheit im Haushalt seiner Ehefrau der stationäre Aufenthalt erst ermöglicht wird, sondern allein, ob seine Anwesenheit bei seiner Ehefrau im Krankenhaus bzw. die Einleitung der erforderlichen Maßnahmen zur vorläufigen Sicherung ihrer Pflege erforderlich war. Letzteres macht der Kläger nicht geltend.

Steht daher in § 8 Abs. 1 Ziff. 5 MTV nach Wortlaut, erkennbarem Sinn und Zweck der Bestimmung sowie in systematischem Zusammenhang des Freistellungskataloges insgesamt die Pflege des schwer erkrankten Familienmitgliedes im Vordergrund und soll dem Arbeitnehmer hier ein angemessener zeitlicher Freiraum insbesondere zu deren Einleitung und Absicherung gewährt werden, so findet sich für die vom Kläger vorgenommene gegenteilige Bewertung keinerlei tarifrechtliche Grundlage.

Ein Anspruch auf bezahlte Freistellung für den 16. und 17.03.2006 ergibt sich auch nicht aus § 616 BGB. Zwar kommen insoweit auch unvorhergesehene Erkrankungen naher Angehöriger in Betracht, welche eine häusliche Pflege durch den Arbeitnehmer erforderlich machen und sich von daher als persönliche Leistungshindernisse darstellen (vgl. BAG v. 20.06.1979, AP Nr. 49-51 zu § 616 BGB). Im Streitfall scheidet ein entsprechender Anspruch des Klägers jedoch bereits deshalb aus, weil eine anderweitige Versorgung seiner Ehefrau bereits gesichert war (vgl. hierzu auch: ErfKom/Dörner, 7. Aufl., § 616 BGB Rz. 13 m.w.N.).

III. In Ermangelung sonstiger rechtlicher oder tatsächlicher Gesichtspunkte, welche einer Anrechnung der beiden Tage auf die Urlaubsansprüche des Klägers entgegenstehen könnten, war die Berufung des Klägers nach alledem als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels waren gem. §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 97 Abs. 1 ZPO dem Kläger aufzuerlegen.

Gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG war die Revision für den Kläger zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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