Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 11.05.2004
Aktenzeichen: 19 Sa 1789/03
Rechtsgebiete: ArbGG, ZPO


Vorschriften:

ArbGG § 9 Abs. 5
ArbGG § 9 Abs. 5 Satz 3
ArbGG § 9 Abs. 5 Satz 4
ArbGG § 64 Abs. 1
ArbGG § 64 Abs. 2 Buchst. c
ArbGG § 66 Abs. 1
ArbGG § 66 Abs. 1 Satz 1
ArbGG § 66 Abs. 1 Satz 2
ZPO § 517 Alt. 2
ZPO § 551 Nr. 7
Gelangt ein arbeitsgerichtliches Urteil nach Ablauf von fünf Monaten seit Verkündung in vollständig abgefasster Form zur Geschäftsstelle und wird es noch vor Ablauf der Berufungsfrist gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1, 2 ArbGG mit einer zutreffenden und vollständigen Rechtsmittelbelehrung versehen zugestellt, ist eine nach Ablauf von sechs Monaten seit Verkündung eingelegte Berufung verspätet.
Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 17. April 2003 - 4 Ca 2407/02 - wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung der Beklagten.

Durch das am 17. April 2003 verkündete Urteil hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Wegen des erstinstanzlichen Parteivortrags sowie der Begründung der Klageabweisung wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils Bezug genommen.

Das Urteil ist in vollständig abgefasster Form mit Rechtsmittelbelehrung am 29. September 2003 zur Geschäftsstelle gelangt und am 30. September 2003 dem Kläger zugestellt worden. Hiergegen richtet sich die am 28. Oktober 2003 eingegangene und - nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 2. Januar 2004 - an diesem Tag begründete Berufung des Klägers. Im Termin vom 2. März 2004 wurde der Kläger vom Gericht darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf die Neuregelung des § 66 Abs. 1 ArbGG Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung bestehen, weil sowohl die Berufungsfrist als auch die Berufungsbegründungsfrist danach versäumt seien.

Der Kläger hält weiterhin die fristlose Kündigung für unwirksam.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils des Arbeitsgerichts Herne vom 17. April 2003 - 4 Ca 2407/02 - festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 12. April 2002 beendet wurde, sondern zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen weiter besteht,

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil als zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Vorbringen in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsbegründung vom 2. Januar 2004, die Berufungserwiderung vom 18. Februar 2004 sowie das Protokoll der Sitzung vom 2. März 2004, jeweils nebst Anlagen, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unzulässig. Sie ist zwar gemäß § 64 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. c ArbGG statthaft. Sie wurde jedoch nicht fristgerecht eingelegt. Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG beginnt die einmonatige Berufungseinlegungsfrist mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung. Das Urteil wurde am 17. April 2003 verkündet. Die Frist zur Einlegung der Berufung begann mit dem Ablauf des 17. September 2003, die Berufung hätte bis spätestens 17. Oktober 2003 eingelegt werden müssen. Die Berufungsschrift ist erst am 28. Oktober 2003, d.h. nach Ablauf der Berufungseinlegungsfrist, beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

1. Der Ablauf der Frist wurde nicht dadurch verhindert, dass dem Kläger erst am 30. September 2003 das vollständig abgefasste Urteil mit Rechtsmittelbelehrung zugestellt wurde. Zwar beginnt die Frist für ein Rechtsmittel nur, wenn die Partei oder der Beteiligte über das Rechtsmittel und das Gericht, bei dem das Rechtsmittel einzulegen ist, die Anschrift des Gerichts und die einzuhaltende Frist und Form schriftlich belehrt worden ist (§ 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG). Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsmittels nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung der Entscheidung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Rechtsmittel nicht gegeben sei (§ 9 Abs. 5 Satz 44 Halbs. 1 ArbGG). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass mit der ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung die normale Rechtsmittelfrist beginnt (vgl. BAG, Urteil vom 8. Juni 2000 - 2 AZR 584/99 = AP Nr. 21 zu § 66 ArbGG 1979). Dies entspricht Sinn und Zweck der Vorschrift des § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG. Sobald der Partei eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung erteilt ist, weiß sie, wie sie gegen die anzufechtende Entscheidung gerichtlich vorzugehen hat. § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG legt nur im Interesse der Rechtssicherheit die Frist von einem Jahr seit Zustellung als Höchstfrist fest, innerhalb derer selbst bei unterbliebener oder unrichtig erteilter Rechtsmittelbelehrung die Einlegung des Rechtsmittels erfolgen muss. Diese Frist endet, wenn die anzufechtende Entscheidung mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung zugestellt ist, denn dann beginnt nach § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG die normale Rechtsmittelfrist (vgl. BAG, a.a.O.). Wird bei völligem Unterbleiben einer Rechtsmittelbelehrung nachträglich eine Entscheidung mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung zugestellt, bedarf die Partei nicht mehr des Schutzes durch § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG. Nichts hindert sie, entsprechend der Rechtsmittelbelehrung vorzugehen und innerhalb der Frist, über die sie ordnungsgemäß belehrt worden ist, das Rechtsmittel gegen die anzufechtende Entscheidung einzulegen (vgl. BAG, a.a.O.).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger am 30. September 2003 das mit Tatbestand, Entscheidungsgründen und Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil zugestellt erhalten. In der Rechtsmittelbelehrung heißt es wörtlich:

"Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung."

Dem Kläger war durch diese Rechtsmittelbelehrung verdeutlicht worden, dass für die Einlegung der Berufung neben der Frist von einem Monat ab Zustellung auch die Höchstfrist von sechs Monaten nach Verkündung zu beachten war. Daraus war klar ersichtlich, dass bis spätestens 17. Oktober 2003 das Rechtsmittel eingelegt werden musste. Wird aber während des Laufs der gesetzlichen Höchstfrist des § 66 Abs. 1 Satz 1, 2 ArbGG das mit der zutreffenden, auf den Fristbeginn spätestens fünf Monate nach Verkündung des Urteils hinweisenden Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil zugestellt, hindert § 9 Abs. 5 ArbGG nicht den Fristablauf (vgl. LAG Berlin, Beschluss vom 24. Oktober 2003 - 8 Sa 747/03, Juris). Ob § 9 Abs. 5 Satz 3, 4 ArbGG durch § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG in der seit dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung verdrängt wird, bedarf in einem solchen Fall keiner Entscheidung (vgl. LAG Berlin, a.a.O.).

2. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass das Urteil im vorliegenden Fall erst nach Ablauf von fünf Monaten seit Verkündung in vollständig abgefasster Form zur Geschäftsstelle gelangt ist. Zwar ist es deshalb gemäß § 551 Nr. 7 ZPO als ein Urteil ohne Gründe anzusehen. Diese Bestimmung gilt auch für erstinstanzliche Urteile (vgl. BAG, Urteil vom 13. September 1995 - 2 AZR 855/94 = AP Nr. 12 zu § 66 ArbGG 1979). Trotzdem bleibt eine Nachholung der Rechtsmittelbelehrung mit der Folge, dass ab Zustellung des Urteils die normale Rechtsmittelfrist beginnt, auch dann zulässig, wenn das anzufechtende Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten vollständig abgefasst und unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt ist. Zum einen kann der Mangel der verspäteten Urteilsabsetzung nach § 551 Nr. 7 ZPO nicht von Amts wegen, sondern nur auf entsprechende Rüge hin berücksichtigt werden, was ein zulässiges Rechtsmittel voraussetzt. Zum anderen kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein nach Ablauf der Frist des § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, § 517 Alt. 2 ZPO zugestelltes Urteil nicht nur als Urteil ohne Gründe, sondern auch als Urteil ohne Rechtsmittelbelehrung anzusehen ist (vgl. BAG, Urteil vom 8. Juni 2000, a.a.O.). Wenn auch bei Tatbestand und Entscheidungsgründen anzunehmen ist, dass das nachlassende Erinnerungsvermögen regelmäßig zu Einbußen bei der verspäteten Urteilsabsetzung führt, ist es dem Richter stets auch nach längerer Zeit möglich, ein solches Urteil mit der normalerweise nach Formblatt bzw. unter Nutzung eines entsprechenden Textbausteins zu erteilenden zutreffenden Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Entspricht diese Rechtsmittelbelehrung der gesetzlichen Form, so muss die Partei innerhalb der dann laufenden Rechtsmittelfrist - im arbeitsgerichtlichen Verfahren des § 66 Abs. 1 Satz 1, 2 ArbGG - angesichts der ordnungsgemäßen Belehrung gegen das verspätet zugestellte Urteil vorgehen und kann sich dann überlegen, ob sie die Rüge nach § 551 Nr. 7 ZPO erhebt oder nicht (vgl. BAG, Urteil vom 8. Juni 2000, a.a.O.).

3. Aus der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 2. Januar 2004 folgt kein anderes Ergebnis. Zum einen ist die Fristverlängerung unwirksam. Der Antrag auf Fristverlängerung wurde vom Kläger am 1. Dezember 2003 gestellt. Dies war nach Ablauf der gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1, 2 ArbGG bis zum 17. November 2003 laufenden Begründungsfrist. Ein Antrag auf Fristverlängerung muss aber innerhalb der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht eingehen (vgl. BAG, Urteil vom 8. Juni 1994 - 10 AZR 452/93 = AP Nr. 31 zu § 233 ZPO 1977; ErfK/Koch, § 66 ArbGG Rdnr. 19). Unabhängig davon wäre eine auf einen rechtzeitig gestellten Antrag hin gewährte Fristverlängerung ungeeignet, die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung zu heilen. Eine Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung besagt nicht, dass das Gericht damit bereits über die Zulässigkeit der Berufung eine abschließende Entscheidung getroffen hat. Ein entsprechendes schutzwertes Vertrauen der die Berufung führenden Partei besteht nicht. Da sich die Parteien vor dem Landesarbeitsgericht durch besondere Prozessvertreter vertreten lassen müssen, kann davon ausgegangen werden, dass diesen die Sonderregelung in § 66 Abs. 1 ArbGG bekannt ist (vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, § 66 Rdnr. 32). Ebenso wie eine unzulässige mehrmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist eine Verspätung der innerhalb der verlängerten Frist eingehenden Begründung nicht verhindert (vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, a.a.O.), kann eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht die Verspätung der Berufungseinlegung beseitigen.

4. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der Kläger nicht ausdrücklich beantragt. Unabhängig davon, ob in dem trotz des Hinweises auf die Bedenken der Zulässigkeit der Berufung gestellten Berufungsantrag auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung zu sehen ist, da dieser nicht ausdrücklich gestellt sein muss (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 1996 - XII ZB 177/93 = NJW 1997, S. 1312), sind Wiedereinsetzungsgründe weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Revision bestehen nicht, weil es vorliegend nicht auf die strittige Frage der rechtlichen Bedeutung des § 9 Abs. 5 Satz 3, 4 ArbGG für die Berufungseinlegungsfrist angesichts der Neuregelung des § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG ankommt.

Ende der Entscheidung

Zurück