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Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 03.08.2004
Aktenzeichen: 19 Sa 728/04
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 a)
KSchG § 1 Abs. 3 S. 1
KSchG § 1 Abs. 3 S. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 04.02.2004 - 3 Ca 1693/03 - abgeändert und wie folgt neu gefasst.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden Kündigungen vom 27.06.2003 aufgelöst worden ist.

Die Kosten der ersten Instanz hat die Beklagte zu 3/5 und die Klägerin zu 2/5 zu tragen.

Die Kosten der zweiten Instanz hat die Beklagte zu 4/5 und die Klägerin zu 1/5 zu tragen.

Tatbestand: Die Parteien streiten über von der Beklagten mit zwei gleichen Schreiben vom 27.06.2003 erklärte und auf betriebliche Gründe gestützte Kündigungen zum 31.10.2003. Die am 22.11.12xx geborene ledige Klägerin war bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten seit dem 26.06.1989 als gewerbliche Arbeitnehmerin beschäftigt. Nach einvernehmlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.03.1993 aus betrieblichen Gründen gegen Zahlung einer Abfindung wurde die Klägerin zum 08.09.1994 wieder eingestellt. Die Klägerin erhielt zuletzt eine monatliche Vergütung nach der Tariflohngruppe 5 des Lohnabkommens in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens in Höhe von 2116,09 EUR. Im Zuge der Verlagerung eines großen Teils der Produktion ins Ausland (S11xxxxx) vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat am 19.11.2001 einen Interessenausgleich und am 17.04.2003 dessen Verlängerung u.a. wegen beabsichtigter Verlagerung weiterer Teile der Produktion ins Ausland bis zum 31.07.2004. Gleichzeitig vereinbarten die Betriebspartner über die personelle Auswahl für betriebsbedingte Kündigungen im Zusammenhang mit dem Interessenausgleich auf der ersten Stufe die Bildung von Vergleichsgruppen wie z.B "Assembly (Montage)" und "FAT (Montage)" unterteilt nach Lohngruppen, auf der zweiten Stufe die für die Auswahl maßgeblichen sozialen Gesichtspunkte und deren Gewichtung aufgrund eines Punkteschemas (60 Punkte für ein Jahr Betriebszugehörigkeit, 12 Punkte für jedes Lebensjahr, 60 Punkte für jede unterhaltsberechtigte Person sofern aus der Lohnsteuerkarte ersichtlich und 6 Punkte für je 10 Grad Schwerbehinderung), auf der dritten Stufe die einer Sozialauswahl entgegenstehenden betrieblichen Bedürfnisse, so auch die Erhaltung einer gesunden und zukunftsorientierten Altersstruktur durch Beibehaltung des bisherigen Anteils der Arbeitnehmer in vier Altersgruppen (bis 35 Jahre, bis 45 Jahre, bis 55 Jahre und über 55 Jahre) einer jeden Vergleichsgruppe und auf der vierten Stufe die Berücksichtigung besonderer sozialer Härten. Die Beklagte ordnete die Klägerin (vgl. die von der Beklagten überreichten Übersichten Lohnempfänger S3xxx, Stand 28.02.2003 [Bl. 62 ff] und Stand 31.05.2003 [Bl. 191 ff]) in die Vergleichsgruppe "Assembly (Montage)/Lohngruppen 3 bis 5" und dort in die Altersgruppe der bis zu 35 Jahre alten Mitarbeiter ohne Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit von 1989 bis 1993 mit 865 Sozialpunkten ein neben den Arbeitnehmerinnen M3xxx und H4xxxx mit weniger und drei weiteren Arbeitnehmerinenn mit mehr Sozialpunkten. Mit Schreiben vom 18.06.2003 nebst Anlagen teilte die Beklagte dem Betriebsrat mit, dass sie beabsichtige mehreren Arbeitnehmern gemäß Interessenausgleich und Auswahlrichtlinien zu kündigen, u.a. zum 31.08.03 der Arbeitnehmerin M3xxx, zum 31.10.2003 der Arbeitnehmerin H4xxxx und der Klägerin sowie zum 30.03.2004 der Arbeitnehmerin S8xxxxx, die die Beklagte, wie aus der Übersicht "Lohnempfänger S3xxx" ersichtlich, ebenfalls der Vergleichsgruppe "Assembly (Montage)/Lohngruppen 3 bis 5" zugeordnet hat und die aufgrund ihrer Sozialdaten (geboren am 01.13.14xx, eingetreten am 20.09.1999, Lohnsteuerklasse IV) mit 720 Sozialpunkten die wenigsten Sozialpunkte der etwa 25 Arbeitnehmer ihrer Altersgruppe der 36 bis 45-jährigen aus dieser Vergleichsgruppe hat. Mit zwei gleichlautenden Schreiben vom 27.06.2003 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 31.10.2003 (bei Aufrechterhaltung einer bereits am 29.10.02 ausgesprochenen Kündigung, die die Beklagte am 05.09.2003 im Einvernehmen mit der Klägerin wieder zurückgenommen hat). Mit der bei Gericht am 07.07.2003 eingegangenen Klage hat die Klägerin sich gegen die Kündigungen vom 27.06.04 gewandt. Sie hat behauptet, es lägen keine dringenden betrieblichen Gründe für diese Kündigungen vor. Es würden im Montagebereich von den Arbeitnehmern zahlreiche Überstunden geleistet und die Arbeitnehmer müssten teilweise über zehn Stunden täglich und auch samstags arbeiten. Die Beklagte habe sogar neue Arbeitnehmer eingestellt, so z.B. den Arbeitnehmer P1xxxx. Auch hat die Klägerin die Ansicht vertreten, dass die Sozialauswahl fehlerhaft sei, da u.a. die Arbeitnehmerin S8xxxxx aus der gleichen Vergleichsgruppe mit weniger Sozialpunkten über den 31.10.2003 hinaus weiterbeschäftigt würde und nichtmals gekündigt worden sei. Darüber hinaus sei sie auch mit weiteren von ihr benannten Arbeitnehmern vergleichbar, die ebenfalls weniger sozial schutzbedürftig seien als sie, aber in der von der Beklagten überreichten Übersicht der Vergleichsgruppe "Assembly (Montage)/Lohngruppen 3 bis 5" nicht aufgeführt seien. Die Klägerin hat beantragt, 1) festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden schriftlichen Kündigungen der Beklagten vom 27.06.2003 mit Ablauf des 31.10.2003 sein Ende gefunden hat 2) für den Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, sie bis zur rechtskräftigen Beendigung des Rechtsstreits als Montiererin über den 31.10.2003 hinaus weiterzubeschäftigen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat behauptet, im Bereich Assembly (Montage) seien im Jahre 2003 bis September 2003 einschließlich 70.830 Fertigungsstunden und bis zum Jahresende insgesamt 101.604 Fertigungsstunden angefallen. Von diesen Fertigungsstunden im Jahre 2003 seien ca. 6.000 Fertigungsstunden durch die Beschäftigung von Praktikanten aus der S11xxxxx verrichtet worden, die eingearbeitet worden seien. Im ersten Halbjahr 2004 sei mit 37.716 Fertigungsstunden und im zweiten Halbjahr 2004 mit 16.678 Fertigungsstunden zu rechnen gewesen. Insgesamt gehe sie ab dem 01.07.2004 von durchschnittlich 35.000 Fertigungsstunden pro Jahr aus, für deren Ableistung nur noch 23 der bisher im Bereich Assembly (Montage) vollzeitbeschäftigten 62 Arbeitnehmer benötigt würden. Soweit die Klägerin behaupte, es würden zahlreiche Überstunden anfallen, sei darauf zu verweisen, dass aufgrund einer Betriebsvereinbarung über gleitende Arbeitszeit festgelegt worden sei, dass zu bestimmten Zeiten zusätzliche "Regelarbeitszeit" zu verrichten sei, die dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werde. Der Arbeitnehmer P1xxxx sei vom 23.09.2003 bis zum 31.12.2003 für einen vorübergehenden zusätzlichen Arbeitsbedarf eingestellt worden und habe eine mit der Tätigkeit der Klägerin nicht vergleichbare Arbeit ausgeführt, bei der er auch schwere Gewichte habe bewegen müssen. Der vorübergehende Arbeitsbedarf sei kurzfristig durch ein noch nie gefertigtes und geprüftes Neuanlagenprodukt entstanden, bei welchem der Arbeitnehmer P1xxxx zur Montage/Vormontage als Mitarbeiter der "FAT-Montage" eingesetzt worden sei. Sie habe auch eine zutreffende Sozialauswahl getroffen. Die gebildeten Vergleichsgruppen beruhten auf den verschiedenen organisatorischen Einheiten mit unterschiedlichen Tätigkeiten und Anforderungen und auf den verschiedenen Lohngruppen, wobei in Anbetracht der Anlernzeiten die Lohngruppen 3 bis 5 zu einer Vergleichsgruppe hätten zusammengefasst werden können, nicht jedoch weitere Lohngruppen. Die Klägerin könne sich auch nicht auf die Arbeitnehmerin S8xxxxx berufen, da diese einer anderen Altersgruppe angehöre und durch die Altersgruppen verhindert werden solle, dass sich durch die Kündigungen die Altersstruktur nachteilig ändere. Das Arbeitsgericht Hamm hat mit Urteil vom 04.02.2004 die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass bei einem Rückgang der Fertigungsstunden auf durchschnittlich 35.000 pro Jahr im Bereich Assembly (Montage) nachvollziehbar nur noch ein Beschäftigungsbedarf für 23 Vollzeitarbeitnehmer bestehe. Soweit die Klägerin sich auf Überstunden und Neueinstellungen berufe, habe die Beklagte unbestritten dargelegt, dass ein vorübergehender höherer Arbeitsbedarf durch ein Neuanlaufprodukt entstanden und die Beschäftigung des Arbeitnehmers P1xxxx lediglich bis zum 31.12.2003 befristet gewesen sei. Auch die Sozialauswahl bezüglich der von der Klägerin genannten Arbeitnehmer sei nicht fehlerhaft, weil diese von den Betriebspartnern aufgrund ihrer Erfahrung als mit der Klägerin nicht vergleichbar eingestuft worden seien. Gegen das ihr am 16.03.2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14.04.2004 Berufung eingelegt und diese am 13.05.2004 begründet. Sie vertritt weiterhin die Ansicht, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt sei. Sie behauptet, die Beklagte habe nicht nur bis zum 31.12.2003, sondern auch darüber hinaus für früher von ihr - der Klägerin - verrichtete Tätigkeiten in erheblichem Umfang Leiharbeitnehmer eingesetzt, Überstunden ableisten lassen und Zeitverträge mit neuen Mitarbeitern geschlossen. Sie vertritt die Ansicht, es sei unerheblich, ob nach Ausspruch der Kündigung die Produktion neuer Produkte angelaufen sei, weil ständig neue Produkte hergestellt würden. Zu Unrecht sei die Sozialauswahl auf Altersgruppen beschränkt worden. Jedenfalls hätte sie bei ordnungsgemäß durchgeführter Sozialauswahl an Stelle der Arbeitnehmerin S8xxxxx weiterbeschäftigt werden müssen und sei ihr zu einem zu frühen Zeitpunkt gekündigt worden. Im Übrigen müsse die Beklagte wie auch bei anderen Arbeitnehmern ihre frühere Betriebszugehörigkeit bei der Sozialauswahl mitberücksichtigen. Die Klägerin beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 04.02.2004 - 3 Ca 1693/03 - abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die beiden Kündigungen vom 27.06.2003 nicht aufgelöst worden ist. Die Klage auf Weiterbeschäftigung hat sie im Hinblick auf eine von der Beklagten am 27.11.03 zum 31.01.04 ausgesprochene weitere Kündigung zurückgenommen. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie behauptet, dass nur - wie hier - bei einer besonderen technischen Komplexität eines Neuanlaufproduktes die befristete Einstellung weiterer Arbeitnehmer ausnahmsweise erforderlich sei, die Klägerin für derartige Tätigkeiten aber insbesondere kurzfristig nicht einsetzbar sei, so dass ihrer Ansicht nach die Betriebsbedingtheit der Kündigung nicht unter der befristeten Beschäftigung des Arbeitnehmers P1xxxx leiden könne. Soweit die Klägerin sich hinsichtlich der Sozialauswahl auf die Arbeitnehmerin S8xxxxx berufe, gehöre diese nicht nur einer anderen Altersgruppe an. Sie sei auch mittlerweile aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausgeschieden. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin bereits aufgrund der ersten Kündigung vom 29.10.2002 nicht mehr im Betrieb tätig gewesen sei und auch kein Beschäftigungsbedarf für sie mehr bestanden habe, sei auch die Frage, ob andere Mitarbeiterinnen anstelle der Klägerin zum 31.10.03 hätten gekündigt werden können, völlig unerheblich. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf ihre Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle Bezug genommen. Entscheidungsgründe: Die zulässige Berufung ist begründet. Das Arbeitsverhältnis ist nicht durch die Kündigungen vom 27.06.2003 aufgelöst worden. Die Kündigungen sind gemäß den §§ 1, 23 KSchG in der bis zum 31.12.2003 gültigen Fassung unwirksam, da das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigungen am 27.06.2003 länger als sechs Monate bestand, im Betrieb mehr als fünf vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer beschäftigt waren und die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist. I. Die beiden schriftlichen Kündigungen vom 27.06.2003 zum 31.10.2003 sind bereits gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt, weil sich aus dem Vorbringen der Beklagten bezüglich der Verlagerung weiterer Teile der Produktion ins Ausland bis zum 30.06.2004 nicht ergibt, dass bei Ausspruch der Kündigungen davon auszugehen war, dass bereits ab dem 31.10.2003 dringende Erfordernisse einer Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstanden, zumal in der gleichen Vergleichsgruppe bereits zum 31.08.2003 die Arbeitnehmerin S9xxxxxx und zum 31.10.2003 die Arbeitnehmerin H4xxxx ausschieden. Aus den von der Beklagten vorgelegten Zahlen über die Fertigungsstunden im Bereich Assembly (Montage) im Jahre 2003 ist zu entnehmen, dass die Zahl der bis zum 30.09 angefallenen 70.830 Fertigungsstunden bis zum 31.12 auf 101.604 also um 30.774 anstieg und damit die Zahl der Fertigungsstunden im vierten Quartal um 7.164 höher war als die durchschnittliche Zahl der Fertigungsstunden in den vorangegangenen drei Quartalen (70.830 : 3 = 23.610). Die Beklagte gibt aber nicht an, welche der im Bereich der Montage im vierten Quartal 2003 angefallenen Fertigungsstunden zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung noch nicht zu erwarten waren. Dies ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis der Beklagten auf eine technische Komplexität eines Neuanlaufproduktes und eine deshalb erforderlich gewordene befristete Einstellung des Arbeitnehmers P1xxxx, zumal dieser nach dem Vorbringen der Beklagten keine vergleichbaren Tätigkeiten verrichtet hat, sondern im Bereich der "FAT-Montage" eingesetzt wurde, der mit dem Bereich "Assembly (Montage)", dem die Beklagte die Klägerin zugeordnet und für den sie die Zahl der Fertigungsstunden angegeben hat, nicht übereinstimmt, wie sich aus den mit dem Betriebsrat vereinbarten Auswahlrichtlinien ergibt. Dem Vorbringen der Beklagten ist auch nicht zu entnehmen, wann die technische Komplexität eines Neuanlaufproduktes in welchem Umfang erkennbar wurde. Die Beklagte geht auch nicht auf das Vorbringen der Klägerin ein, dass mit zahlreichen weiteren Arbeitnehmern Zeitverträge geschlossen und auch Leiharbeitnehmer eingesetzt wurden. Sofern die Beklagte sich darauf beruft, dass die Klägerin bereits aufgrund der im Jahre 2002 ausgesprochenen Kündigung nicht beschäftigt worden sei, lässt dies keine Rückschlüsse auf eine fehlende Beschäftigungsmöglichkeit für die Zeit ab dem 31.10.2003 zu. II. Selbst bei Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse für eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits zum 31.10.03 sind die Kündigungen vom 27.06.2003 gemäß § 1 Abs 3 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt, weil die Beklagte bei der Auswahl der bereits zum 31.10.2003 zu kündigenden Arbeitnehmer jedenfalls hinsichtlich der bis zum 31.03.2004 weiterbeschäftigten Arbeitnehmerin S8xxxxx soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend entsprechend der mit dem Betriebsrat am 17.04.2003 geschlossenen Betriebsvereinbarung über die Auswahlrichtlinie für betriebsbedingte Kündigungen im Zusammenhang mit dem Interessenausgleich berücksichtigt hat. 1. Die Betriebspartner haben in der Betriebsvereinbarung über die Auswahlrichtlinie bezüglich der zweiten Stufe festgelegt, welche sozialen Gesichtspunkte und wie diese im Verhältnis zueinander zu bewerten sind. Danach hat die am 29.12.1970 geborene und am 08.09.1994 wieder eingestellte Klägerin auch ohne Berücksichtigung ihrer Beschäftigung im Betrieb von 1989 bis 1993 864 Sozialpunkte und die am 07.10.1962 geborene und am 20.09.1999 eingestellte Arbeitnehmerin S8xxxxx, die ebenfalls der Vergleichsgruppe Montage/Lohngruppen 3 bis 5 angehört, auch unter Berücksichtigung ihrer Steuerklasse IV nur 720 Sozialpunkte, so wie dies in der nach dem Vorbringen der Beklagten mit dem Betriebsrat abgestimmten Übersicht Lohnempfänger S3xxx auch aufgeführt ist. Besondere soziale Gesichtspunkte, die eine abweichende Härteregelung entsprechend der Auswahlrichtlinie zulassen, sind nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht geltend gemacht worden. Vielmehr wirkt sich hier sogar bei der Abwägung der sozialen Gesichtspunkte anhand des Punkteschemas günstig für die Arbeitnehmerin S8xxxxx aus, dass ihr für ihren Ehemann 60 Punkte berechnet wurden, obwohl zumindest aufgrund ihrer Lohnsteuerklasse IV anzunehmen ist, dass ihr Ehemann selbst Einkommen hat, und andererseits bei der Klägerin ihre vorangegangene Betriebszugehörigkeit nicht berücksichtigt wurde. 2. Die Auswahlrichtlinie ist auch durch eine Betriebsvereinbarungen wirksam gemäß § 95 BetrVG zustande gekommen.

a) Im Hinblick auf § 1 Abs. 4 KSchG ist die Festlegung der sozialen Gesichtspunkte und ihre Bewertung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen (vgl. APS-Kiel, 2. Aufl., RN. 764 zu § 1 KSchG und KR-Etzel, 7. Aufl., RN. 697 zu § 1 KSchG). Grob fehlerhaft ist die Festlegung und Bewertung der zu berücksichtigenden sozialen Gesichtspunkte nur, wenn ein unerlässlicher Gesichtspunkt (Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten) unberücksichtigt bleibt oder unzureichend berücksichtigt wird. Die Betriebspartner haben bei dem von ihnen gewählten Punkteschema diese unerlässlichen sozialen Gesichtspunkte berücksichtigt. Es ist auch nicht fehlerhaft und erst recht nicht grob fehlerhaft, dass die Betriebspartner die Betriebszugehörigkeit im Verhältnis zum Alter im besonderen Maße gewichtet haben, da es zumindest vertretbar ist, der Betriebszugehörigkeit im Hinblick auf die gezeigte Betriebstreue und auf den ihr auch in gesetzlichen Regelungen eingeräumten Stellenwert wie z.B. bei den Kündigungsfristen und bei der Bemessung der Abfindung nach § 10 KSchG eine besondere Bedeutung zukommen zu lassen (vgl. Erfurter Kommentar-Ascheid, 4. Aufl., RN. 494 zu § 1 KSchG). Dies kommt auch dem berechtigten Interesse entgegen, schon bei der der Bewertung der sozialen Gesichtspunkte darauf zu achten, dass durch die Sozialauswahl möglichst keine Überalterung des Betriebes eintritt. Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit auch eine ausreichende Berücksichtigung des Alters bei Punkteschemata angenommen, bei denen dieses im Verhältnis zur Betriebszugehörigkeit teilweise noch weniger berücksichtigt wird, insbesondere für die Altersgruppen, in denen sich die Klägerin und die Arbeitnehmerin S8xxxxx befinden, in denen einem Altersunterschied noch nicht die gleiche Bedeutung zukommt wie in den sich anschließenden Altersgruppen (vgl. Gaul/Lung, NZA 2004, 184 ff. und die dort aufgeführten Punkteschemata, die den Entscheidungen des BAG vom 24.03.1983 = AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung und vom 23.11.2000 = NZA 2001, 601 zugrunde lagen). b) Unwirksam sind die von den Betriebspartnern vereinbarten Auswahlrichtlinien auch nicht deshalb, weil sie nur für die Kündigungen im Zusammenhang mit dem Interessenausgleich gelten sollen (vgl. auch LAG Hamm, Urteil vom 15.05.2002 - 14 Sa 44/02 - [Nr. 4 der Entscheidungsgründe] veröffentlich in JURIS). Zweifelhaft könnte dies nur dann sein, wenn die Auswahlrichtlinie Bestandteil eines Interessenausgleichs wäre (vgl. insoweit Gaul/Lung, a.a.O. unter IV Nr. 2 und KR-Etzel, a.a.O., Rdn. 695 zu § 1 KSchG). Unzweifelhaft können die Betriebspartner aber wie hier einen Interessenausgleich mit einer gemäß § 95 BetrVG durch eine Betriebsvereinbarung abgeschlossenen Auswahlrichtlinie verbinden (vgl. KR-Etzel, a.a.O., RN. 705 zu § 1 KSchG und APS-Kiel, 2. Aufl., RN. 761 zu § 1 KSchG). 3. Kündigungen, die der Arbeitgeber unter Verstoß gegen eine wirksame Auswahlrichtlinie erklärt, sind im Hinblick auf § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 b) KSchG nicht nur bei einem Widerspruch des Betriebsrats unwirksam (vgl. KR-Etzel, a.a.O., RN. 700,708 zu § 1 KSchG und Löwisch DB 1975,349,351f). Der Arbeitgeber kann nur in Härte- und sonstigen Ausnahmefällen von der Auswahlrichtlinie abweichen (vgl. APS-Kiel, 2 Aufl., RN. 770 zu § 1 KSchG und Erfurter Kommentar-Ascheid, 4. Aufl., RN. 522 zu § 1 KSchG). Insbesondere dann, wenn wie hier der Arbeitgeber bei einer Massenkündigung zum Ausdruck bringt, dass er eine Auswahlrichtlinie anwendet, ergibt sich bereits daraus eine Selbstbindung des Arbeitgebers und liegt bei Abweichung von der Auswahlrichtlinie auch aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes keine ausreichende Berücksichtigung sozialer Kriterien gemäß § 1 Abs. 3 KSchG mehr vor, wenn nicht im Einzelfall Gründe für eine andere Gewichtung der sozialen Kriterien oder die zusätzliche Berücksichtigung weiterer sozialer Kriterien vorliegen. 4. Eine Sozialauswahl war nicht deshalb entbehrlich, weil die Arbeitnehmerin S8xxxxx nach dem Vorbringen der Beklagten mit Schriftsatz vom 24.06.2004 zwischenzeitlich aufgrund betriebsbedingter Kündigung aus dem Betrieb ausgeschieden ist, selbst wenn man unterstellt, dass entsprechend der Mitteilung an den Betriebsrat vom 18.06.2003 ihr zum 31.03.2004 gekündigt wurde. Eine Sozialauswahl ist zwischen allen vergleichbaren Arbeitnehmern vorzunehmen, deren Kündigung nicht zum gleichen Kündigungstermin beabsichtigt ist, sofern dies nicht auf unterschiedlichen Kündigungsfristen beruht (vgl. BAG, Urteil vom 18.01.2001 - 2 AZR 514/99 - AP Nr. 115 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung sowie BAG, Urteil vom 10.10.1996 - 2 AZR 651/95 - und BAG, Beschluss vom 07.03.2002 - 2 AZR 147/01 - jeweils veröffentlicht in JURIS). Unterschiedliche Kündigungsfristen können hier nicht für eine Kündigung der Arbeitnehmerin S8xxxxx erst zum 31.03.04 maßgeblich gewesen sein. Bei der Arbeitnehmerin S8xxxxx war aufgrund ihrer relativ kurzen Betriebszugehörigkeit sogar nur eine Kündigungsfrist von einem Monat einzuhalten. Wie sich aus der Mitteilung an den Betriebsrat vom 18.06.2003 ergibt, war auch nicht bei Ausspruch der Kündigung gegenüber der Klägerin beabsichtigt, der Arbeitnehmerin S8xxxxx zum gleichen Zeitpunkt zu kündigen. Es lag hiernach eine von vorneherein beabsichtigte etappenweise Reduzierung der Belegschaft vor, bei der eine Sozialauswahl notwendig ist (vgl. BAG, Urteil vom 10.10.1996, a.a.O., und BAG, Urteil vom 16.09.1982 - 2 AZR 211/80 - unter B I Nr. 2 a) der Entscheidungsgründe, AP Nr. 4 zu § 22 KO). 5. Auch berechtigte betriebliche Bedürfnisse im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG bedingten nicht die Beschäftigung der Arbeitnehmerin S8xxxxx anstelle der Klägerin bis zum 31.03.04. a) Eine um ein halbes Jahr frühere Kündigung lässt sich insbesondere nicht damit rechtfertigen, dass die Klägerin bereits aufgrund der ersten Kündigung vom 29.10.02 nicht mehr im Betrieb beschäftigt war. Die Klägerin war im Tätigkeitsbereich der Vergleichsgruppe "Assembly (Montage)", der die Beklagte sie und die Arbeitnehmerin S8xxxxx zugeordnet hat, viele Jahre tätig und war somit mit den Tätigkeiten im Bereich der Montage vertraut, die zudem auch nach dem Vorbringen der Beklagten nur eine begrenzte Anlernzeit erfordern, wie sich auch aus der tariflichen Eingruppierung ergibt. Die Vertrautheit mit solchen einfacheren Tätigkeiten entfiel nicht innerhalb von nichtmals einem Jahr zwischen den Kündigungsterminen. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Nichtbeschäftigung der Klägerin auf einer von der Beklagten zwischenzeitlich wieder zurückgenommenen Kündigung beruhte, somit nicht der Sphäre der Klägerin zuzurechnen ist. b) Die Beklagte kann sich ferner nicht darauf berufen, dass eine Sozialauswahl zwischen der Klägerin und der Arbeitnehmerin S8xxxxx entbehrlich gewesen sei, weil die Arbeitnehmerin S8xxxxx bereits der Altersgruppe der 36 bis 45-jährigen angehöre. Die mit dem Betriebsrat vereinbarte Auswahlrichtlinie sieht auf der 3. Stufe der Auswahl lediglich zur Erhaltung einer gesunden und zukunftsorientierten Altersstruktur vor, dass gemäß § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG soziale Gesichtspunkte nur dann keine Berücksichtigung mehr finden sollen, wenn dadurch in einer Altersgruppe überproportional viele Arbeitnehmer gekündigt werden müssten. Die Auswahl der Arbeitnehmerin S8xxxxx anstelle der Klägerin für eine Kündigung bereits zum 31.10.2003 hätte aber nicht der Erhaltung der Altersstruktur entgegenstanden, sondern ihr vielmehr gedient, weil aus der wesentlich kleineren Altersgruppe der Klägerin bereits der Arbeitnehmerin M3xxx zum 31.08.2003 und der Arbeitnehmerin H4xxxx zum 31.10.2003 gekündigt wurde, aus der wesentlich größeren Altersgruppe der Arbeitnehmerin S8xxxxx aber außer der ebenfalls bereits im Jahre 2002 schon einmal gekündigten Arbeitnehmerin S10xxx keiner Arbeinehmerin/keinem Arbeitnehmer zu einem Termin vor dem 31.01.04 gekündigt wurde, wie sich aus der von der Beklagten überreichten Übersicht Lohnempfänger S3xxx, Stand 31.05.2003 [Bl. 191 ff] ergibt. Die Kosten des Rechtsstreits des ersten Rechtszuges waren wegen der Rücknahme der Leistungsklage durch die Klägerin unter Berücksichtigung des Verhältnisses des Streitwertes der Leistungsklage zum Gesamtstreitwert (4.232,18 EUR / 10580,45) gemäß den §§ 91, 269 ZPO zu 2/5 der Klägerin und zu 3/5 der Beklagten aufzuerlegen. Die Kosten des Rechtsstreites des zweiten Rechtszuges waren wegen der Rücknahme der Leistungsklage bereits bei Antragstellung in der mündlichen Verhandlung der Klägerin zu 1/5 und der Beklagten zu 4/5 aufzuerlegen. Die Revision war mangels Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 72 ArbGG nicht zuzulassen.

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