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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 31.05.2007
Aktenzeichen: 8 Sa 139/07
Rechtsgebiete: ZPO, ArbGG


Vorschriften:

ZPO § 97 Abs. 2
ZPO § 259
ZPO § 288
ArbGG § 72 Abs. 2
Spricht der Arbeitgeber in Kenntnis der Tatsache, dass sich der Arbeitnehmer auf eine Gleichstellung beruft, ohne Zustimmung des Integrationsamtes eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus und nimmt er den zeitgleich vorsorglich gestellten Antrag beim Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung zurück, nachdem ihm behördlicherseits die unzutreffende Auskunft erteilt worden ist, eine Gleichstellung liege nicht vor, so kann dem Arbeitnehmer nicht der Einwand der Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes mit der Begründung entgegengehalten werden, er habe den Nachweis der Gleichstellung nicht zeitnah, sondern erst zwei Monate nach dem arbeitsgerichtlichen Gütetermin vorgelegt.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 29.11.2006 - 2 Ca 661/06 - wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Mit seiner Klage wendet sich der im Jahre 1952 geborene und einem Schwerbehinderten gleichgestellte Kläger, welcher seit dem Jahre 1972 als gewerblicher Arbeitnehmer im Verzinkerei-Betrieb der Beklagten beschäftigt ist, gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses durch ordentliche arbeitgeberseitige Kündigung vom 20.04.2006.

Er macht - neben dem Einwand der Sozialwidrigkeit der Kündigung - geltend, unstreitig fehle es an der erforderlichen Zustimmung des Integrationsamtes. Da der Beklagten die Gleichstellung des Klägers jedenfalls aus der Stellungnahme des Betriebsrats zur beabsichtigten Kündigung bekannt gewesen sei und er sich im Übrigen bereits in der Klageschrift auf den Sonderkündigungsschutz als Gleichgestellter berufen habe, könne von einer Verwirkung oder einem treuwidrigen Berufen auf den Sonderkündigungsschutz keine Rede sein.

Demgegenüber macht die Beklagte geltend, in entsprechender Anwendung der Grundsätze über die verspätete Mitteilung der Schwerbehinderteneigenschaft könne sich der Kläger unter den vorliegenden Umständen auf den Sonderkündigungsschutz nicht mehr berufen. Dies ergebe sich aus folgenden Umständen: Auf den Hinweis des Betriebsrats, der Kläger sei einem Schwerbehinderten gleichgestellt, habe sie in den Personalunterlagen des Klägers einen entsprechenden Nachweis nicht finden können. Gleichwohl habe sie unter dem 19.04.2006 beim Integrationsamt vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung beantragt. In der Einigungsverhandlung unter Beteiligung der örtlichen Fürsorgestelle habe der Kläger einen Gleichstellungsbescheid nicht vorlegen können, worauf der Mitarbeiter der Fürsorgestelle Rückfrage bei der Arbeitsagentur gehalten habe. Auf die - objektiv unrichtige - Auskunft, eine Gleichstellung liege nicht vor, habe die Beklagte sodann ihren Zustimmungsantrag beim Integrationsamt zurückgenommen. Weder im zeitlichen Zusammenhang hiermit noch in der Güteverhandlung vom 02.06.2006 habe der Kläger sodann seine Gleichstellung belegt, sondern erst mit Schriftsatz vom 03.08.2006 den Gleichstellungsbescheid vom 20.08.2002 vorgelegt. Ebenso wie der Arbeitnehmer gehalten sei, sich zeitnah nach Zugang der Kündigung auf einen etwa bestehenden Sonderkündigungsschutz nach den Regeln des Schwerbehindertenrechts zu berufen und im Falle verspäteter Mitteilung der Sonderkündigungsschutz verwirkt sei, müsse auch im vorliegenden Fall des verspäteten Nachweises von Schwerbehinderung oder Gleichstellung von einem Verlust des Sonderkündigungsschutzrechts ausgegangen werden.

Durch Urteil vom 29.11.2006 (Bl. 104 ff d.A.), auf welches wegen des weiteren Sachverhalts und der Klageanträge Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 20.04.2006 nicht aufgelöst worden ist. Weiter ist die Beklagte verurteilt worden, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Verzinkerei-Arbeiter weiterzubeschäftigen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, die Kündigung scheitere an der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes. Durch die Stellungnahme des Betriebsrates sei die Beklagte davon unterrichtet gewesen, dass der Kläger dem Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte unterfalle. Indem die Beklagte - parallel zu ihrem Zustimmungsantrag beim Integrationsamt - bereits eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses ohne behördliche Zustimmung ausgesprochen habe, habe sie auf eigenes Risiko gehandelt. Zu keinem Zeitpunkt sei der Kläger von seinem Standpunkt zum Vorliegen einer Gleichstellung abgerückt. Allein der Umstand, dass der Kläger nicht sogleich, sondern erst im weiteren Zuge des Rechtsstreits einen entsprechenden Nachweis beigebracht habe, könne zur Annahme einer Verwirkung nicht genügen.

Mit ihrer rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung verfolgt die Beklagte unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vorbringens ihr Ziel der Klageabweisung weiter und beantragt,

unter Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

I

Zutreffend hat das Arbeitsgericht erkannt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die angegriffene Kündigung nicht beendet worden ist. Dementsprechend ist auch der vom Kläger verfolgte Weiterbeschäftigungsanspruch begründet.

1. Unstreitig ist der Kläger aufgrund behördlichen Bescheides vom 20.08.2002 (Bl. 51 d.A.) einem Schwerbehinderten gleichgestellt. Bereits vor Ausspruch der Kündigung ist die Beklagte hiervon durch den Widerspruch des Betriebsrats vom 13.04.2006 (Bl. 5 d.A.) informiert worden. In Übereinstimmung mit der zitierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts war damit der Beklagten die Notwendigkeit bekannt, vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen bzw. - sofern die Beklagte das Vorliegen einer Gleichstellung in Zweifel zog - ein entsprechendes Negativattest zu beantragen.

2. In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil kann der Umstand, dass der Kläger den Gleichstellungsbescheid weder zu der - von der örtlichen Fürsorgestelle anberaumten - Einigungsverhandlung am 24.05.2006 mitgebracht, noch die Vorlage des Bescheides zeitnah auf die unrichtige Auskunft der Agentur für Arbeit hin nachgeholt hat, sondern den Bescheid erst nach Scheitern des Gütetermins vom 02.06.2006 mit Schriftsatz vom 03.08.2006 vorgelegt hat, nicht dazu genügen, dem Kläger den Sonderkündigungsschutz nach den Regeln der Verwirkung oder aus sonstigen rechtlichen Aspekten von Treu und Glauben abzusprechen.

Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Arbeitnehmer gehalten ist, sich binnen einer angemessenen Frist nach Zugang der Kündigung auf eine dem Arbeitgeber bislang nicht bekannte Schwerbehinderung oder Gleichstellung zu berufen, anderenfalls er den Sonderkündigungsschutz "verwirkt", dient die - im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene - Begründung einer Mitteilungspflicht dazu, dem Arbeitgeber zeitnah zum Kündigungsanlass die Einholung der erforderlichen Zustimmung des Integrationsamtes zu ermöglichen. Die in Unkenntnis der Schwerbehinderung ohne Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochene Kündigung bleibt zwar im Falle der rechtzeitigen Nachholung der Mitteilung unwirksam, der Arbeitgeber ist durch die nachgeholte Mitteilung aber in die Lage versetzt, die Voraussetzungen für eine rechtswirksame Kündigung zu schaffen.

Diese Grundsätze lassen sich auf die vorliegende Fallgestaltung nicht übertragen. Für einen Vertrauensschutz des Arbeitgebers im vorbezeichneten Sinne besteht schon deswegen keine Grundlage, weil die Beklagte von der - zunächst nicht belegten - Gleichstellung des Klägers Kenntnis und - eben aus diesem Grunde - vorsorglich einen Zustimmungsantrag beim Integrationsamt gestellt hatte. Dass die Beklagte anschließend den Zustimmungsantrag aufgrund einer unrichtigen behördlichen Auskunft zurücknahm, hat mit einem Vertrauenstatbestand, welcher einer unterlassenen Mitteilung der Schwerbehinderung gleichsteht, nichts zu tun. Allein die Tatsache, dass der Kläger in der Einigungsverhandlung einen Gleichstellungsbescheid nicht vorgelegt hat und es bereits bei Zugang des Gleichstellungsbescheides im Jahre 2002 versäumt hatte, die falsche Schreibweise seines Namens richtig zu stellen, stellt keinen Tatbestand dar, aufgrund dessen die Beklagte verbindlich darauf vertrauen konnte, der Kläger sei in Wahrheit - abweichend von seinen Angaben - gar nicht Gleichgestellter. Vielmehr blieb es der Beklagten unbenommen, ein förmliches Negativattest zu beantragen, um in der unklar gebliebenen Situation für sich Rechtsklarheit zu gewinnen. Davon, dass der Kläger auf die (unzutreffende) Auskunft der Agentur für Arbeit zum Ausdruck gebracht habe, er halte an seiner Darstellung nicht weiter fest, erfolgreich die Gleichgestellung mit einem Schwerbehinderten erlangt zu haben, kann auch auf der Grundlage des Beklagtenvorbringens nicht ausgegangen werden.

3. Auch unter dem Gesichtspunkt der Prozessverwirkung, des Verbots widersprüchlichen Verhaltens oder des Arglisteinwandes kann dem Kläger der Einwand, die Kündigung scheitere an der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes, nicht abgeschnitten werden.

a) Nachdem der Kläger bereits in der Klageschrift auf die bestehende Gleichstellung hingewiesen und die Beklagte mit Schriftsatz vom 31.05.2006 das Vorliegen einer Gleichstellung ausdrücklich bestritten hat, ist im Gütetermin vom 02.06.2006 ersichtlich das Schwergewicht der Erörterung auf die soziale Rechtfertigung der Kündigung gelegt worden. Auch wenn man den Vortrag der Beklagten als wahr unterstellt, im Gütetermin sei von Seiten der Beklagten ausdrücklich noch einmal das Vorliegen einer Gleichstellung bestritten worden, worauf der Kläger nichts entgegnet habe, folgt hieraus allenfalls, dass im damaligen Zeitpunkt die Richtigkeit des Beklagtenvorbringens als zugestanden galt (§ 138 Abs. 3 ZPO). Ein bindendes gerichtliches Geständnis im Sinne des § 288 ZPO lag demgegenüber ersichtlich nicht vor. Dementsprechend musste der Kläger, um seiner Prozessförderungspflicht zu entsprechen, rechtzeitig vor dem Kammertermin seinen Vortrag zur behaupteten Gleichstellung präzisieren und unter Beweis stellen. Nicht hingegen kann auf der Grundlage des Prozessrechts davon ausgegangen werden, der Kläger habe, nachdem er im Gütetermin keine gegenteilige Erklärung abgegeben habe, auf die Geltendmachung entsprechenden Tatsachenvorbringens bzw. den entsprechenden Einwand verbindlich verzichtet.

b) Aus denselben Gründen scheidet auch ein entsprechender Vertrauenstatbestand in dem Sinne aus, die Beklagte habe bei Zugang des Schriftsatzes vom 03.08.2006 redlicherweise nicht mehr damit rechnen müssen, der Kläger werde seinen Vortrag zur Gleichstellung im Zuge des Prozesses noch präzisieren und unter Beweis stellen. Selbst wenn es der Kläger im ersten Rechtszug überhaupt versäumt hätte, die behauptete Gleichstellung unter Beweis zu stellen und dementsprechend das Arbeitsgericht die Klage wegen fehlenden Sonderkündigungsschutzes und gegebener sozialer Rechtfertigung der Kündigung abgewiesen hätte, wäre der Kläger nicht gehindert gewesen, noch im Berufungsrechtszug den fehlenden Nachweis der Gleichstellung nachzureichen. Da eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens allein bei streitigem Vortrag in Betracht kommt, das Vorliegen der Gleichstellung indessen unstreitig ist, hätten sich die prozessualen Folgen für den Kläger auf die Kostentragungspflicht gemäß § 97 Abs. 2 ZPO beschränkt. Für einen weitergehenden "Einwendungsverlust" aus prozessualen Gründen ist danach kein Raum.

c) Auch unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens kann dem Kläger der Einwand nicht abgeschnitten werden, die Kündigung scheitere an der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes. Auch wenn es zweifellos sinnvoll gewesen wäre, wenn der Kläger von sich aus - auch ohne Aufforderung durch die örtliche Fürsorgestelle - den Gleichstellungsbescheid zur Einigungsverhandlung vor der Fürsorgestelle mitgebracht und so umgehend für Rechtsklarheit gesorgt hätte, lässt sich hieraus ein treuwidriges Verhalten nicht herleiten. Entsprechendes gilt für den Umstand, dass der Kläger es unterlassen hat, die falsche Schreibweise seines Namens im Gleichstellungsbescheid richtig zu stellen. Dies gilt schon im Hinblick darauf, dass aus der Sicht des Klägers in keiner Weise absehbar war, dass die falsche Schreibweise seines Namens zu Rechtsnachteilen für Dritte führen könnte.

d) Schließlich kann auch der Umstand, dass der Kläger nicht im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht auf seinem Standpunkt insistiert hat, die Kündigung scheitere schon an der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes, weshalb die vom Arbeitsgericht verfügte Auflage ohnehin überflüssig sei, nicht die Einschätzung begründen, der Kläger habe in arglistiger Weise Sachvortrag und Beweismittel zurückgehalten, um Gericht und Gegenseite in die Irre zu führen und so etwa durch Hinauszögerung des Prozesses unredliche wirtschaftliche Vorteile zu erlangen (§ 826 BGB). Weder trägt die Beklagte ihrerseits ausdrücklich ein derartiges arglistiges Verhalten des Klägers vor, noch bestand in Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger seinerzeit wie auch noch heute durchgehend arbeitsunfähig erkrankt war, für taktische Erwägungen Raum, die Belastung der Beklagten mit Verzugslohnansprüchen könne durch Herauszögerung des Prozesses gesteigert werden.

4. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass dem Kläger kein Verhalten angelastet werden kann, welches ihm den Einwand der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung abschneiden kann. In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteils erweist sich damit die ausgesprochene Kündigung als rechtsunwirksam. Aus demselben Grunde ist die Beklagte zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet. Allein die Tatsache, dass der Kläger seit längerem und auch gegenwärtig arbeitsunfähig erkrankt ist, lässt weder das Rechtsschutzbedürfnis für den Weiterbeschäftigungsantrag entfallen, noch führt die aktuell fehlende Leistungsfähigkeit des Klägers zum Verlust des Beschäftigungsanspruchs. Vielmehr handelt es sich beim Weiterbeschäftigungsantrag um einen Antrag auf künftige Leistung im Sinne des § 259 ZPO. Jedenfalls unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger nach seiner Darstellung alsbald mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit rechnet, genügt es für die Begründetheit des Weiterbeschäftigungsverlangens, dass die Beklagte den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und damit die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung schon dem Grunde nach leugnet.

II

Die Kosten der erfolglosen Berufung hat die Beklagte zu tragen.

III

Die Kammer hat die Revision gegen das Urteil gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG zugelassen.

Ende der Entscheidung

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