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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 22.06.2009
Aktenzeichen: 5 Sa 1208/08
Rechtsgebiete: ERA


Vorschriften:

ERA § 10 Nr. 10 Abs. 6
1. Aus § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA folgt eine Entgeltsicherungsklausel. Diese hat zum Inhalt, dass der Nennbetrag der vor der ERA-Einführung gezahlten tariflichen Leistungszulage nach der ERA-Einführung bei gleichbleibender oder verbesserter Leistungsbeurteilung nicht abgesenkt werden darf.

2. Mit Neubeurteilung im Sinne von § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA ist auch die erste Beurteilung nach ERA-Einführung gemeint.


Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 06.05.2008 - 16 Ca 9279/07 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten darüber, ob die Klagepartei anlässlich der Einführung des Entgeltrahmenabkommens (ERA) der Metall- und Elektroindustrie im Betrieb der Beklagten Bestandsschutz hinsichtlich der tariflichen Leistungszulage in Anspruch nehmen kann.

Die Beklagte ist ein Betrieb der Metall- und Elektroindustrie NRW und beschäftigt insgesamt rund 200 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Beklagte ist tarifgebunden, eine Vielzahl der bei der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenfalls. Darüber hinaus finden aufgrund einzelvertraglicher Inbezugnahme in den jeweiligen Arbeitsverträgen die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie NRW auf die Arbeitsverhältnisse im Betrieb Anwendung.

Der am 18.12.2003 zwischen den Tarifvertragsparteien geschlossene ERA Tarifvertrag bezweckte die Zusammenführung und Vereinheitlichung der bisherigen Vergütungssysteme für Arbeiter und Arbeitnehmer.

Zum 01.03.2007 wurde im Betrieb der Beklagten das ERA Vergütungssystem eingeführt. Die Leistungszulage, die die Klagepartei erhielt, blieb zunächst unverändert.

In den Monaten April und Mai 2007 erfolgten sodann neue Leistungsbeurteilungen.

Durch die neue Leistungsbeurteilung verschlechterte sich das Bewertungsergebnis für die Klagepartei nicht.

Durch Email vom 25.06.2007 an alle Mitarbeiter teilte die Beklagte mit, dass sie die Gesamtsumme der Leistungszulagen reduziere von 14,68 % der tariflichen Monatsgrundentgeltsumme auf 11 %. Dazu berief sie sich auf § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA. Diese Bestimmung lautet:

"Liegt die betriebliche Gesamtsumme der ermittelten Leistungszulagen oberhalb von 11 %, so ist der Arbeitgeber berechtigt, sie durch entsprechende Reduzierung des in Abs. 1 genannten Faktors auf 11 % zu korrigieren (Dies darf bei Beschäftigten, deren Punktzahl nach der Neubeurteilung gleich geblieben oder gestiegen ist, nicht zu einer Minderung des Eurobetrags ihrer Leistungszulage führen)."

Diese Verfahrensweise führte bei der klagenden Partei wie auch bei einer Vielzahl weiterer Arbeitnehmer, deren Punktzahl gleich geblieben oder gestiegen war, zu einer Absenkung der monatlichen Leistungszulage. Die Klagepartei hält die Kürzung für tarifwidrig und beruft sich hierzu auf den in § 10 Nr. 10 Abs. 6 in Klammern befindlichen Zusatz, wonach bei Beschäftigten, deren Punktzahl nach den Neubeurteilung gleich geblieben oder gestiegen sei, eine Minderung des Eurobetrags der Leistungszulage nicht vorgenommen werden dürfe.

Mit der Klage hat die Klagepartei - der Höhe nach unstreitige -Differenzansprüche zwischen der bisher gezahlten Leistungszulage und der aufgrund von ERA gezahlten Leistungszulage geltend gemacht und begehrt zudem, dass der Klägerseite ab 2007 mindestens bis zur nächsten Leistungsbeurteilung die bisherige Leistungszulage zustehe und diese auch bei der Berechnung von variablen Entgeltbestandteilen, Durchschnittsvergütungen und Sonderzahlungen zu berücksichtigen sei.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Aus § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA folge eine Sicherungsklausel des Inhalts, dass der Nennbetrag der vor der ERA-Einführung gezahlten tariflichen Leistungszulage nach der erfolgten Einführung bei gleichbleibender oder verbesserter Leistung nicht vermindert werden dürfe.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA finde auf eine Erstbeurteilung im ERA-System keine Anwendung. Denn eine solche Erstbeurteilung sei keine Neubeurteilung im Sinne von § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA. Eine Neubeurteilung setze eine vorherige Altbeurteilung voraus. Eine solche vergleichbare Beurteilung habe es aber vor Einführung des ERA nicht gegeben. Die früheren Leistungsbeurteilungen, die vor Einführung des ERA durchgeführt worden seien, seien mit den ERA-Beurteilungen nicht vergleichbar. Insoweit sei die "alte Vergütungswelt" durch eine völlig neue "Vergütungswelt" abgelöst worden. Die tarifvertragliche Vorschrift in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA sei vielmehr so zu verstehen, dass erst die zweite Beurteilung innerhalb des ERA-Systems als Neubeurteilung im Sinne von § 10 Ziffer 10 Abs. 6 ERA zu verstehen sei. Die Klausel bezwecke nur eine Absicherung innerhalb des ERA-Vergütungssystems, nicht aber eine solche zwischen alter und neuer "Vergütungswelt". Ansonsten entstünden unbegründete Verzerrungen, so dass die vom ERA-System bezweckte Vereinheitlichung der Vergütungen nicht zustande kommen könne.

Bei der Auslegung von § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA sei eine teleologische Reduktion vorzunehmen dergestalt, dass die Bestimmung beschränkt werden müssen auf die Folgebeurteilungen nach der ersten Beurteilung innerhalb des ERA-Systems. Die Klägerseite könne sich auch nicht darauf berufen, dass unter Zugrundelegung des klägerischen Vortrags die Kostenneutralität gewahrt bliebe. Denn die tarifvertragliche Reduktionsmöglichkeit in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA hänge nicht von dem zusätzlichen Erfordernis ab, dass sie nur dann eingreifen könne, wenn der Arbeitgeber nur so Kostenneutralität zwischen den früheren tariflichen Vergütungssystem und dem ERA-Vergütungssystem herstellen könne.

Die Beklagte beantragt

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Köln die Klage abzuweisen.

Die klagende Partei beantragt,

die Berufung der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.

Dem Klammerzusatz in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA sei eindeutig eine Besitzstandssicherung bezüglich der zuvor im alten System bezogenen Leistungszulage zu entnehmen. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei jede Beurteilung, die einer früheren Beurteilung nachfolge, eine "Neubeurteilung". Die Beurteilungen aus dem früheren System und aus dem ERA-System seien vergleichbar. Dies ergebe sich bereits aus den Umrechnungsvorschriften bei den Punktewerten, mit deren Hilfe die in der "alten Welt" vorgenommene tarifliche Leistungsbeurteilung auf eine neue Punktzahl umgerechnet werde. Wenn die Tarifvertragsparteien beabsichtigt hätten, § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA erst ab der zweiten ERA-Leistungsbeurteilung anwenden zu wollen, so hätten sie dies mit einer entsprechenden Formulierung zum Ausdruck gebracht, was nicht geschehen sei. Der Zweck der Tarifnorm untermauere das gefundene Auslegungsergebnis. Denn Zweck sei es gewesen, dass die tariflich Beschäftigten nach dem Willen der Tarifvertragsparteien durch die Einführung von ERA nicht weniger Entgelt erhielten als zuvor. Würde man die Interpretation der Beklagten zugrunde legen, käme die Besitzstandsklausel erst bei der zweiten ERA-Leistungsbeurteilung zum Tragen. In diesem Fall würde es allerdings so gut wie nichts mehr zu sichern geben, weil die betriebliche Gesamtsumme der ermittelten Leistungszulagen bereits auf 11 % reduziert sei. Folgt man der Tarifauslegung der Beklagten, würde dies zu Einsparungen bei der Beklagten von insgesamt ca. 400.000,00 € führen. Damit liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Kostenneutralität vor.

Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die der Höhe nach nicht streitigen Leistungszulagenansprüche stehen der Klägerseite zu. Die Berufung der Beklagten hatte daher keinen Erfolg.

A. Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft gemäß § 64 ArbGG und form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Angesichts des Umstandes, dass das erstinstanzliche Urteil zwar im Termin am 06.05.2008 verkündet wurde, das Urteil in vollständig abgefasster Form seither jedoch nicht zugestellt wurde, war die Berufung der Beklagten gleichwohl gemäß § 66 Abs. 1 S. 2 ArbGG zulässig. Denn die Berufungsfrist beginnt nach dieser Bestimmung spätestens fünf Monate nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils, so dass innerhalb der dann beginnenden einmonatigen Berufungsfrist Berufung einzulegen ist (siehe BAG Urteil vom 16.06.2004 - 5 AZR 529/03 - NJOZ 2004, 3765). Innerhalb der vorgenannten Frist hat die Beklagte Berufung eingelegt und diese auch innerhalb der Berufungsbegründungsfrist begründet.

Die Berufung ist daher zulässig.

B. Die Klage ist in allen Teilen zulässig und begründet.

I. Hinsichtlich der Zulässigkeit greift der Einwand der Beklagten nicht durch, mit dem Antrag, die bisherige Leistungszulage mindestens bis zur nächsten Leistungsbeurteilung zu zahlen, werde ein gemäß § 259 ZPO unzulässiger Antrag auf eine zukünftige Leistung gestellt. Zwar fehlt es bei einer Klage auf zukünftige Vergütungsleistung im Arbeitsverhältnis regelmäßig an einem Rechtsschutzinteresse des Arbeitnehmers, weil die künftige Leistung von einer Vielzahl von Bedingungen abhängt, beispielsweise dass die geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich erbracht wird, keine längerfristige Krankheit, kein unbezahlter Urlaub und kein unentschuldigtes Fehlen vorliegt. Zudem wären all diese Bedingungen im Antrag anzugeben und in den Urteilstenor aufzunehmen (BAG Urteil vom 09.04.2008 - 4 AZR 104/07 - NZA-RR 2009, S. 79).

Im vorliegenden Fall wird jedoch keine künftige Leistung, sondern eine vergangenheitsbezogene Leistung verlangt, für die die Gegenleistung bereits erbracht ist. Denn die Klagepartei begehrt ab 2007 die bisherige Leistungszulage bis zur nächsten Leistungsbeurteilung. Die nächste Leistungsbeurteilung nach der Leistungsbeurteilung im Jahre 2007 ist aber gemäß § 10 Nr. 7 ERA bereits im Kalenderjahr 2008 durchzuführen gewesen.

§ 10 Nr. 7 ERA bestimmt insoweit, dass das Leistungsverhalten aller Beschäftigten einmal im Kalenderjahr beurteilt werden muss, spätestens aber 18 Monate nach der letzten Beurteilung. Da bei der Frage, ob eine künftige Leistung verlangt wird, hinsichtlich des Zeitpunkts auf den Tag der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist, ergibt sich hieraus, dass eine Leistung ausgehend von der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht am 22.06.2009, für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum begehrt wird, da es um die Leistungszulage für die Zeit ab der Leistungsbeurteilung 2007 bis zur Leistungsbeurteilung 2008 geht. Wie die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht am 22.06.2009 zudem ergeben haben, ist nach der Leistungsbeurteilung 2007 auch tatsächlich im Betrieb der Beklagten eine darauf folgende Leistungsbeurteilung durchgeführt worden.

Ein weitergehender Inhalt kann dem klägerischen Antrag nicht entnommen werden. Insbesondere spricht die Verwendung des Wortes "mindestens" nicht dafür, dass der Antrag so auszulegen wäre, dass ein unbeschränkter und in die Zukunft gerichteter Anspruch damit verbunden und geltend gemacht worden wäre. Dem steht schon entgegen, dass die Klägerseite sich zur Berechtigung ihrer Forderung darauf beruft, dass die Besitzstandsklausel eingreife, weil sich die Beurteilung im Jahre 2007 gegenüber der früheren Beurteilung nicht verschlechtert habe und deshalb Bestandsschutz bis zur dann folgenden Beurteilung bestehen müsse. Ob eine darauf folgende Beurteilung im Jahr 2008 ebenfalls zum Eingreifen der Sicherungsklausel führt, ist zunächst vom Ergebnis der Beurteilung selbst abhängig und wird deshalb von Klägerseite im vorliegenden Verfahren nicht geltend gemacht.

Keine Bedenken bestehen ferner hinsichtlich der Zulässigkeit des bestellten Feststellungsantrags. Im Hinblick auf die entgegenstehende Praxis der Beklagten besteht ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO. Da die Beklagte diesbezüglich keine Bedenken erhoben hat, zudem davon auszugehen ist, dass das rechtskräftige Ergebnis der Feststellungsklage zu einer endgültigen Klärung der Streitfrage führt und damit der Prozessökonomie dient (siehe BAG Urteil vom 28.05.1997 - 4 AZR 663/95 -, NZA 1997, § 1066), ist die Feststellungsklage zulässig.

II. Die geltend gemachten Ansprüche auf die ursprüngliche Leistungszulage sind begründet. Eine ausreichende Rechtsgrundlage zur Reduzierung der Leistungszulage liegt nicht vor. Zudem greift im vorliegenden Fall die Besitzstandsklausel in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA ein.

1. Für eine Absenkung der Leistungszulage, wie sie die Beklagte praktiziert hat, bedarf es einer Rechtsgrundlage. Die bisherige Leistungszulage beruhte auf dem zuvor im Arbeitsverhältnis der Parteien geltenden Tarifvertrag. Eine Absenkung bedurfte daher in jedem Fall einer tarifvertraglichen Ermächtigungsgrundlage. Davon geht im Grundsatz auch die Beklagte aus. Sie beruft sich auf § 10 Nr. 10 Abs. 6 S. 1 ERA, in dem es heißt, dass dann, wenn die Gesamtsumme der ermittelten Leistungszulagen oberhalb von 11 % liegt, der Arbeitgeber berechtigt sei, eine entsprechende Reduzierung vorzunehmen.

Indes ist zweifelhaft, ob diese Reduzierungsermächtigung auf den vorliegenden Fall überhaupt anwendbar ist. Gerade wenn die Argumentation der Beklagten richtig wäre, dass ERA nur die "neue Vergütungswelt" regele und ohnehin, schon aus systematischen Gründen, keine Überleitungsvorschriften enthalte, diese vielmehr in den Übergangsvorschriften, insbesondere im ERA-Einführungstarifvertrag (ERA-ETV) enthalten seien, müsste sich eine Reduzierungsermächtigung, die das Verhältnis von früheren Tarifverträgen und ERA betrifft, dort wiederfinden, nicht aber im ERA selbst. Im ERA-Einführungstarifvertrag ist eine Reduzierungsvorschrift jedoch nicht enthalten. Vielmehr bestimmt die Ergänzungsvereinbarung zum ERA-Einführungstarifvertrag (E-ERA-ETV) in Nr. 1 Abs. 4 ausdrücklich:

"Die Anwendung von Korrekturfaktoren gemäß § 10 Nr. 10 Abs. 5 bis 7 ERA findet dementsprechend bei der Überführung nicht statt."

Legt man dies zugrunde, scheitert die von der Beklagtenseite vorgenommene Kürzung bereits an der fehlenden Rechtsgrundlage für eine Reduzierung.

2. Unabhängig hiervon greift jedenfalls die Sicherungsklausel gemäß § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA ein. Sie führt dazu, dass der Eurobetrag der bisherigen Leistungszulage dann, wenn die Beurteilung nicht zu einem schlechteren Ergebnis geführt hat, weiterhin beansprucht werden kann.

a) Dies folgt aus der Auslegung des Tarifvertrages (ERA). Bei der Auslegung ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung des BAG, zuletzt BAG Urteil vom 20.02.2008 - 10 AZR 126/07 -; BAG 19.01.2000 - 4 AZR 814/98 -, BAGE 93, 229).

b) Bereits der Wortlaut der tarifvertraglichen Bestimmung spricht für ein Eingreifen der Bestandsschutzklausel im vorliegenden Fall. Nach dem Wortlaut in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA darf bei Beschäftigten, deren Punktzahl nach der Neubeurteilung gleich geblieben oder gestiegen ist, eine Minderung des Eurobetrages der bisherigen Leistungszulage nicht erfolgen. Die Beklagte versteht unter "Neubeurteilung" nicht die erste Beurteilung im neuen ERA-System, sondern frühestens die zweite Beurteilung im ERA-System. Sie vertritt dazu die Auffassung, dass der Begriff Neubeurteilung voraussetze, dass bereits einmal zuvor eine Erstbeurteilung im ERA-System stattgefunden hat.

Diese Ansicht überzeugt nicht. Vom Wortlaut her erfasst der Begriff "Neubeurteilung" jede Beurteilung, die einer vorangegangenen folgt. Kein Gegenargument bildet in diesem Zusammenhang, dass die Beurteilung nach dem früheren System nicht voll inhaltlich vergleichbar mit der Beurteilung nach ERA ist. Denn durch die Umrechnungs- und Überführungsvorschriften werden eine rechnerische Ableitung und damit eine Vergleichbarkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade hergestellt. Die Beurteilungen werden damit vom alten in das neue System transferiert, um beurteilen zu können, ob sich in der Beurteilung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter positive oder negative Veränderungen ergeben haben.

Der Sprachgebrauch der Tarifvertragsparteien, die zwischen "alter Welt" und "neuer Welt" unterscheiden spricht zusätzlich dafür, den Wortlaut "Neubeurteilung" so zu verstehen, dass damit die erste Beurteilung in der neuen Welt gemeint sein soll, da jeweils der Wortbestandteil "neu" verwendet wird.

Soweit die Beklagte zusätzlich geltend macht, es müsse hinsichtlich § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA eine teleologische Reduktion vorgenommen werden, unterstreicht dies, dass vom Wortlaut her die erste Beurteilung im ERA-System eine Neubeurteilung im Sinne dieser tariflichen Bestimmung ist und eine den Wortlaut einschränkende Interpretation für notwendig gehalten wird.

Für die gegenteilige Auffassung der Beklagten, unter Neubeurteilungen sei erst die zweite Beurteilung innerhalb des ERA-Systems zu verstehen, findet sich im Wortlaut des ERA hingegen keine Stütze.

c) Die Systematik des Tarifvertrages spricht ebenfalls nicht für die Auslegung der Beklagten. Soweit die Beklagte geltend macht, die Besitzstandsklausel in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA könne aus systematischen Gründen schon deshalb nicht eingreifen, weil in ERA nur Regelungen innerhalb des neuen Systems enthalten seien, während alles, was den Übergang von der alten zur neuen Welt betreffe, im Einführungsvertrag oder ergänzenden Bestimmungen enthalten sein müsse, steht dem entgegen, dass dann die Reduktionsvorschrift des § 10 Nr. 10 Abs. 6 S. 1 ERA schon nicht anwendbar wäre, so dass schon aus diesem Grund die ursprüngliche Leistungszulage ungeschmälert erhalten bleiben müsste.

d) Sinn und Zweck der tarifvertraglichen Vorschrift sprechen schließlich ebenfalls für ein Eingreifen der Sicherungsklausel. Bei Übergang von einem alten Tarifwerk zu einem neuen Tarifwerk besteht der übliche Normalfall darin, dass der bisherige Vergütungsstatus der Arbeitnehmer abgesichert wird. Diesem Ziel dienen üblicherweise Besitzstandsklauseln. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass anlässlich des Inkrafttretens eines neuen Tarifwerks auch Eingriffe in Besitzstände oder Absenkungen vorgenommen werden. Dies betrifft insbesondere Sanierungstarifverträge. Der Regelfall besteht jedoch darin, dass durch einen neuen Tarifvertrag oder ein neues Tarifwerk nicht in den bereits erreichten Vergütungsstatus eingegriffen wird.

Vor diesem Hintergrund hätte der atypische Fall einer nicht gewollten Sicherung seinen Niederschlag im Wortlaut des Tarifvertrages finden müssen. Dies ist dem Tarifvertrag jedoch an keiner Stelle zu entnehmen.

e) Nicht zuletzt spricht die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages entscheidend gegen die von der Beklagten vertretene Auslegung. Wie aus den ausführlichen Beiträgen von Nicolai (Recht der Arbeit 2005, S. 56 ff.) und Schaub (RdA 2006, S. 374 ff.) folgt, bestand das zentrale Anliegen der Tarifvertragsparteien bei Inkraftsetzen des ERA-Projekts darin, sicherzustellen, dass die sog. betriebliche Kostenneutralität erreicht werden sollte. Da den Tarifvertragsparteien bewusst war, dass die Einführung von ERA zu Lohnkostenerhöhungen führen könne, bestand das Anliegen darin, die Kostenerhöhung zu begrenzen. Zu diesem Zweck wurde in einem ersten Schritt aufgrund einer Vereinbarung der Tarifparteien eine Modellberechnung durchgeführt, mittels derer ermittelt wurde, welche zusätzlichen Kosten die Einführung von ERA im Tarifgebiet verursachen werde. Dabei gelangte man zu dem Ergebnis, dass die sog. systembedingten Kosten der ERA-Einführung mit einer Erhöhung des bisherigen Volumens um 2,79 % anzusetzen seien. Vor diesem Hintergrund wurde in § 5 des ERA-Einführungstarifvertrages (ERA-ETV) festgelegt, dass durch ERA keine betrieblichen Mehrkosten entstehen sollten, die die von den Tarifvertragsparteien im Durchschnitt des Tarifgebiets ermittelten 2,79 % überstiegen. Daraus ist ersichtlich, dass es den Tarifvertragsparteien darum ging, Kostensteigerungen über das im ERA-ETV genannte Maß hinaus zu vermeiden. Dass die Tarifvertragsparteien dem gegenüber eine Reduzierung der betrieblichen Entgeltkosten in Erwägung gezogen und gewollt hätten, ist an keiner Stelle ersichtlich. Nach dem insoweit unbestritten gebliebenen Vortrag der Klägerseite würde die Vorgehensweise der Beklagten dazu führen, dass die Beklagte Entgeltzahlungen im Umfang von rund 400.000,00 € einspart. Angesichts der Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages spricht nichts dafür, dass die Tarifvertragsparteien von dem typischen Fall der Aufrechterhaltung des status quo abweichen und statt dessen Einsparvolumina dieses Umfangs ermöglichen wollten.

3. Nach allem kann sich die Klägerseite jedenfalls auf die Besitzstandsklausel in § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA berufen. Da sich die Beurteilung nicht verschlechtert hat, ist der Anspruch auf den feststehenden Eurobetrag der bisherigen Leistungszulage begründet. Die Beklagte kann schließlich nicht mit dem Argument gehört werden, dieses führe dazu, dass die bisherige Leistungszulage zementiert werde und es damit dauerhaft bei Verzerrungen bleibe, die der Intention des ERA entgegenstünden. Denn die Besitzstandssicherung bezieht sich nach dem eindeutigen Wortlaut des § 10 Nr. 10 Abs. 6 ERA allein auf den Eurobetrag der bisher gewährten Leistungszulage, mit der Folge, dass eine Dynamisierung dieser Besitzstandssicherung nicht stattfindet, so dass die statisch fixierte alte Leistungszulage in ihrem Verhältnis zu den übrigen tariflichen Gehaltsbestandteilen bereits dadurch Veränderungen unterliegt, dass sie an tariflichen Dynamisierungen nicht teil hat und demzufolge einem prozentualen Abschmelzungprozess durch Tariferhöhungen der Monatsentgelte und sonstiger Tarifbestandteile unterworfen ist.

C. Insgesamt hatte die Berufung der Beklagten daher keinen Erfolg und musste mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückgewiesen werden.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, die sich auch in einer Vielzahl von Betroffenen ausdrückt, hat die Kammer die Revision zugelassen.

Ende der Entscheidung

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