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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 29.07.2004
Aktenzeichen: 5 Sa 63/04
Rechtsgebiete: BetrVG, KSchG


Vorschriften:

BetrVG § 75
KSchG § 1 Abs. 3
1. Ein Interessenausgleich, bei dem der Betriebsrat die Herausnahme von auf einer Liste aufgeführten, der Gewerkschaft ver.di angehörenden Mitarbeitern aus der Liste der zu kündigenden Arbeitnehmern zur wesentlichen Voraussetzung macht, ist nach § 75 BetrVG unwirksam.

2. Der Arbeitgeber muss die anhand der Lohnsteuerkarte für die getroffene Sozialauswahl ermittelte Zahl von Unterhaltspflichten des gekündigten Arbeitnehmers jedenfalls dann korrigieren, wenn der Arbeitnehmer innerhalb der Klagefrist gemäß § 1 KSchG geltend gemacht hat, dass weitere Unterhaltspflichten bestehen.


LANDESARBEITSGERICHT KÖLN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

5 Sa 63/04

Verkündet am 29. Juli 2004

In Sachen

hat die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln auf die mündliche Verhandlung vom 29.07.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Rietschel als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Kannmacher und Fomferek

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 05.11.2003 - 10 Ca 5654/03 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am geborene Kläger, der geschieden ist und im Kündigungszeitpunkt zwei minderjährigen Kindern Unterhalt gewährte, war bei der Beklagten am 01.08.2001 als "Installer Multimedia Products" für den Großraum N eingestellt worden und erhielt zuletzt ein Bruttomonatsverdienst von ca. 2.700,00 €. Die Beklagte hatte im Jahr 2000 das Kabelnetz in N übernommen und plante mit einem Investitionsaufwand von rund 5 Mrd. Euro den Ausbau dieses Netzes zu einem multifunktionalen Breitbandnetz. In Erwartung des damit verbundenen Wachstums wurde die Mitarbeiterzahl der Beklagten in der Zeit bis zum März 2002 von ursprünglich 650 auf 2400 erhöht. Nachdem sich die Wachstumserwartungen nicht realisierten, fanden im Jahr 2002 bei der Beklagten zwei Entlassungswellen statt, durch die insgesamt ca. 1100 Arbeitsverhältnisse wieder beendet wurden.

Eine weitere Massenkündigung fand Ende April 2003 gegenüber ca. 355 Mitarbeitern der Beklagten statt, darunter dem Kläger als einem von 145 Servicetechnikern. Nach einer im Betrieb der Beklagten geltenden Betriebsvereinbarung vom 18.12.2002 bedürfen betriebsbedingte Kündigungen der Zustimmung des Betriebsrates. Kündigungen, die durch einen Interessenausgleich/Sozialplan geregelt werden, sind hierfür nach der Fußnote 3 zu Ziffer 6 der Betriebsvereinbarung ausgenommen (vgl. Blatt 82 - 84 GA).

Die Beklagte hatte im April 2003 den Entschluss gefasst, gegenüber 70 der insgesamt 134 bei ihr in der Altersgruppe 4 (36-45 Jahre) beschäftigten Servicetechnikern - den Kläger eingeschlossen - eine Kündigung auszusprechen und hörte hierzu mit Schreiben vom 17.04.2003 den Betriebsrat (Blatt 50 - 54 GA), ebenso wie zu den insgesamt beabsichtigten 355 Kündigungen von Arbeitnehmern an. Der Betriebsrat widersprach den Kündigungen mit Schreiben vom 24.04.2003 (Blatt 17 - 19 GA). Am 25.04.2003 kam zwischen den Betriebsparteien aus Anlass einer in einer anderen Angelegenheit gebildeten Einigungsstelle ein von beiden Betriebsparteien unterzeichneter Interessenausgleich (Blatt 39, 40 GA) zustande. Nach Ziffer 1 dieses Interessenausgleichs wird der Personalbestand von ca. 1290 um ca. 355 auf ca. 935 Mitarbeiter reduziert, in Ziffer 3 heißt es, dass der Betriebsrat zu den beabsichtigten Kündigungen gemäß § 102 BetrVG am 17.04.2003 angehört worden ist. In einer weiteren Erklärung der Geschäftsleitung der Beklagten vom 25.04.2003 heißt es:

Im Zusammenhang mit dem am heutigen Tage abgeschlossenen Interessenausgleich nimmt die Geschäftsleitung der Firma ish GmbH & Co. KG die Anhörung zur Kündigung der in der Anlage aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurück ...

Dieser Arbeitgebererklärung zum Interessenausgleich war beigefügt, eine Namensliste von ca. 117 Mitarbeitern, die der Betriebsrat erstellt und der Geschäftsleitung übergeben hatte. Zugleich hatte der Betriebsrat unter dem 25.04.2003 gegenüber der Geschäftsleitung folgende Erklärung abgegeben (Blatt 232 GA):

Im Zusammenhang des Abschlusses des Interessenausgleichs vom heutigen Tage und im Hinblick auf die Erklärung der Geschäftsleitung zur Rücknahme der Anhörung zu Kündigungen erklärt der Betriebsrat, dass er sämtliche Stellungnahmen zu allen beabsichtigten Kündigungen zurücknimmt und für gegenstandslos erklärt.

Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 27.04.2003 das Arbeitsverhältnis gegenüber dem Kläger zum 31.05.2003. Mit einem weiteren Schreiben vom 28.04.2003 erklärte die Beklagte gegenüber dem Betriebsrat, dass es sich bei den auf der vom Betriebsrat vorgegebenen Arbeitnehmern in der von ihm überreichten Namensliste um "Mitarbeiter handelt, bei denen eine Herausnahme aus dem Geltungsbereich des am 25.04.2003 geschlossenen Interessenausgleichs sachlich weder geboten noch gerechtfertigt ist". Des Weiteren erklärt die Beklagte, dass sie die Erklärung der Geschäftsleitung, die sie vorsorglich anfechte, nach näherer Prüfung für unzulässig halte und deshalb Kündigungen entsprechend der Sozialauswahl aussprechen werde.

Der Kläger hat die Kündigung der Beklagten vom 27.04.2003 beim Arbeitsgericht mit seiner am 14.05.2003 eingegangenen Klage angegriffen und zunächst vorgetragen, dass er die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats und das Vorliegen von Kündigungsgründen bestreitet. Konkrete Gründe für den Wegfall des Arbeitsplatzes und Einzelheiten der Sozialauswahl seien dem Kläger sowie dem Betriebsrat nicht mitgeteilt worden. Zudem sei der Interessenausgleich unwirksam. Die Beklagte verstoße mit der Kündigung ferner gegen die Betriebsvereinbarung über Fremdvergabe vom 26.04.2002. Des Weiteren bestehe eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für den Kläger unter anderem gemäß der vom Betriebsrat im Widerspruchsschreiben genannten, am 10.04.2003 ausgeschriebenen Stelle . Ferner könne der Kläger auch nach Ausspruch der Kündigung ausgeschriebene Arbeitsplätze ausfüllen. Die Grundsätze der Sozialauswahl seien von der Beklagten nicht beachtet worden.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27.04.2003 nicht beendet worden ist;

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens als Installer Multimedia Products in K zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, der Beschäftigungsbedarf für ca. die Hälfte aller im Technikbereich beschäftigten Arbeitnehmer sei entfallen. Dies beruhe auf der Einstellung des Verkaufs der Internettelefonie sowie der High - Speed -Internet-Anschlüsse. Der tägliche Durchschnitt der Installationsaufträge im Bereich Netzwerktechnik sei in der Zeit zwischen Januar 2003 und Mai 2003 um über 80 %, nämlich von ca. 100 Aufträgen je Arbeitstag auf ca. 20 Aufträge je Arbeitstag zurückgegangen. Dadurch sei der Beschäftigungsbedarf für mehr als die Hälfte aller Techniker "Installateure und Servicetechniker" entfallen, weshalb die Beklagte sich entschieden habe, den Personalbestand in diesem Bereich auf Dauer zu reduzieren. Gegenüber den insgesamt beschäftigten 265 Technikern seien deswegen 139 betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgesprochen worden einschließlich der des Klägers. Zur Sozialauswahl hat die Beklagte vorgetragen, dass auf Grund der bereits im Jahr 2002 durchgeführten Entlassungswellen die Altersstruktur sich zu Lasten der jüngeren Mitarbeiter verschoben habe, weshalb die Beklagte insgesamt sechs Altersgruppen gebildet habe, innerhalb deren sie die Sozialauswahl durchgeführt habe. Von den 134 Arbeitnehmern der Altersgruppe des Klägers (36 - 45 Jahre) seien insgesamt 93 Arbeitnehmer (mit denen der Zeilennummer des Klägers 89 folgenden Nummern 90 bis 182) schutzwürdiger als der Kläger.

Das Arbeitsgericht hat durch ein am 05.11.2003 verkündetes Urteil der Feststellungs- und Weiterbeschäftigungsklage stattgegeben im Wesentlichen mit der Begründung, dass die Betriebsratsanhörung als unzulässige Vorratsanhörung, ohne dass bereits ein ernsthafter Kündigungsentschluss der Beklagten bestanden habe, wegen § 102 BetrVG zur Unwirksamkeit der Kündigung führe.

Gegen das am 30.12.2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19.01.2004 Berufung eingelegt, die sie nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist innerhalb der verlängerten Frist am 30.03.2004 begründet hat:

Die Auffassung des Arbeitsgerichts, es handele sich um eine unzulässige Vorratsanhörung, treffe nicht zu, der Kündigungsgrund - insbesondere die Entscheidung der Beklagten, den Umfang der bisher angebotenen Produktpalette zu verringern und Tätigkeitsfelder umzustrukturieren und daraus abgeleitet ca. der Hälfte der bei ihr beschäftigten 139 Netzwerktechniker zu kündigen - sei bereits zum Zeitpunkt der Einleitung des Anhörungsverfahrens am 17.04.2003 gegeben gewesen. Der Umstand, dass zu diesem Zeitpunkt ein Interessenausgleich noch nicht mit dem Betriebsrat zustande gekommen sei und daher ein rechtliches Hindernis für den Ausspruch der Kündigung bestanden habe, mache die Anhörung nicht im Hinblick auf § 102 BetrVG unzulässig.

Im Übrigen trägt die Beklagte unter Vertiefung und Wiederholung ihren erstinstanzlichen Sachvortrags im Einzelnen vor, wie sie die Sozialauswahl gegenüber den von ihr gebildeten Altersgruppen durchgeführt hat.

Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 05.11.2003 (Aktenzeichen: 10 Ca 5654/03) abzuändern und nach den Schlussanträgen erster Instanz zu erkennen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze sowie auf den sonstigen Akteninhalt ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach dem Beschwerdewert an sich statthafte Berufung der Beklagten ist in gesetzlicher Form und Frist eingelegt und begründet worden, sie ist somit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung ist jedenfalls im Ergebnis zutreffend. Die Kündigung der Beklagten ist schon deshalb sozial ungerechtfertigt, weil die Beklagte die Grundsätze der Sozialauswahl nicht beachtet hat, § 1 Abs. 3 KSchG. Darüber hinaus fehlt es an einem wesentlichen Wirksamkeitserfordernis der Kündigung, nämlich einem wirksamen Interessenausgleich. Ob die Kündigung auch noch aus weiteren Gründen unwirksam ist, kann dahingestellt bleiben.

1. Die Kündigung ist wegen fehlerhafter Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt und unwirksem, § 1 Abs. 3 KSchG.

Der Kläger verfügte nach dem von der Beklagten angewandten Punkteschema nicht über lediglich 15,5 Sozialpunkte - wie in der Anlage B 9 zum Schriftsatz der Beklagten vom 21.06.2004 vorgetragen - sondern über 19,5 Punkte. Damit verfügte er im Zeitpunkt der Kündigung über mehr Punkte als diejenigen Arbeitnehmer, die in der erwähnten Anlage unter Ziffern 71 bis 87 von der Beklagten aufgeführt werden, beginnend mit dem Arbeitnehmer J S und endend mit dem Arbeitnehmer T S (19,13 Punkte). Die Beklagte hat beim Kläger fehlerhaft lediglich vier Punkte für ein Kind, dem der Kläger Unterhalt gewährt, berücksichtigt. Tatsächlich hätten dem Kläger für zwei Kinder acht Punkte und damit insgesamt 4 Punkte mehr als 15,5 nach dem vom der Beklagten angewandten Punktesystem gewährt werden müssen. Der Umstand, dass der Kläger über weitere vier Sozialpunkte auf Grund der weiteren Unterhaltspflicht verfügt, ist zwischen den Parteien jedenfalls in der letzten Berufungsverhandlung unstreitig geworden. Soweit die Beklagte geltend macht, sie habe die Zahl der Unterhaltspflichten lediglich nach dem in der Lohnsteuerkarte des Klägers eingetragenen (einen) Kinderfreibetrag ermittelt, ändert an der objektiven Fehlerhaftigkeit der getroffenen Sozialauswahl - gemessen an dem von der Beklagten zu Grunde gelegten Punktesystem - nichts. Die Kriterien für die Sozialauswahl können nur anhand der objektiven Umstände im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung ermittelt werden. Dabei sind die in der Lohnsteuerkarte eingetragenen Unterhaltspflichten unergiebig, weil die Steuerkarte allenfalls Auskunft über die Zahl der unterhaltsberechtigten Personen gibt, es jedoch entscheidend auf die tatsächlich bestehenden Belastungen des Arbeitnehmers ankommt (vgl. KR-Etzel, 6. Auflage, § 1 KSchG, Rdnr. 663, vgl. ebenso 5. Auflage Rdnr. 691). Selbst wenn man den Arbeitgeber nicht für verpflichtet halten sollte, insbesondere bei Massentatbeständen wie im vorliegenden Fall die Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung nach ihren Unterhaltspflichten zu befragen, so muss doch dem Arbeitnehmer jedenfalls die Möglichkeit gegeben werden, innerhalb der Klagefrist einen hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtungen bestehenden Irrtum des Arbeitgebers aufzuklären und weitere Unterhaltsverpflichtungen mitzuteilen, die alsdann vom Arbeitgeber zu berücksichtigen sind. Dies erscheint für den Arbeitgeber nicht unzumutbar, weil in diesem Fall gewährleistet ist, dass in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Ausspruch der Kündigung die Sozialauswahlentscheidung korrigiert werden kann.

Vorliegend hat der Kläger die Unterhaltspflichten bereits in der Klageschrift detailliert genannt, ohne dass die Beklagte dies zum Anlass genommen hätte, die Sozialauswahl anhand der von ihr vorgegebenen Punktewertung zur Überprüfung und die objektiv unzutreffende Auswahl in Bezug auf den Kläger zu korrigieren.

Die Kündigung ist daher bereits gemäß § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt.

2. Die Kündigung ist auch deshalb unwirksam, weil es an der gemäß § 102 Abs. 6 fehlenden Zustimmung des Betriebsrats bzw. einem die Zustimmung ersetzenden Interessenausgleich in Bezug auf den Kläger fehlt. Nach Ziffer 6 der im Betrieb der Beklagten geltenden Betriebsvereinbarung vom 18.12.2003 bedürfen betriebsbedingte Kündigungen gemäß § 102 Abs. 6 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrates, nach der Fußnote zu Ziffer 3 sind betriebsbedingte Kündigungen hiervon ausgenommen, welche durch einen Interessenausgleich/Sozialplan geregelt werden. Vorliegend werden zwar sämtliche insgesamt 355 betriebsbedingte Kündigungen durch den Interessenausgleich geregelt, zu denen der Betriebsrat gemäß Ziffer 3 dieses Interessenausgleichs angehört worden war. Zugleich hat der Arbeitgeber aber auch mit Schreiben vom 25.04.2003 in Bezug auf eine Liste mit 117 Arbeitnehmern, die vom Betriebsrat erstellt worden war, schriftlich erklärt, dass die Anhörung zurückgezogen wird. Hintergrund der Erstellung der Liste durch den Betriebsrat war, wie sich aus der von der Beklagten mit Schriftsatz vom 16.07.2004 vorgelegten Zeugenaussage des Betriebsratsmitgliedes K beim Arbeitsgericht Essen vom 04.02.2004 ergibt, dass auf dieser Liste einerseits Vertrauensleute und andererseits überwiegend Ver.di-Mitglieder gestanden haben. Dies hat - völlig zu Recht - die Beklagte auch veranlasst, am 28.04.2003 festzustellen, dass eine Herausnahme dieser Mitarbeiter aus dem Geltungsbereich des am 25.04.2003 geschlossenen Interessenausgleich sachlich weder geboten noch gerechtfertigt ist. Tatsächlich handelt es sich bei der durch das beschriebene Verfahren beabsichtigten Herausnahme dieser Mitarbeiter aus dem Interessenausgleich und damit aus der Zahl der zu kündigenden Arbeitnehmer, um eine nach § 75 BetrVG ungerechtfertigte Bevorzugung von einzelnen Arbeitnehmern unter anderem wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft. Diese Bevorzugung bzw. die Benachteiligung der nicht diese Voraussetzung erfüllenden Arbeitnehmer führt nach Auffassung des Berufungsgerichts zur Unwirksamkeit der gesamten Interessenausgleichsregelung. Denn die Erklärung über die Herausnahme der 117 Mitarbeiter wurde, wie es auch im Schreiben der Beklagten vom 28.04.2003 heißt, vom Betriebsrat "als Voraussetzung für den Abschluss des beabsichtigten und notwendigen Interessenausgleichs" gemacht und war damit wesentlicher Bestandteil und Kernpunkt der Vereinbarungen der Betriebsparteien über den Abschluss eines Interessenausgleichs. Dieser wäre ohne die vom Arbeitgeber akzeptierte Namensliste mit Gewerkschaftsmitgliedern nicht zustande gekommen. Dass es sich bei § 75 BetrVG, der im vorliegenden Fall verletzt worden ist, um ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB handelt, entspricht höchstrichterlicher Rechtsprechung (BAG EzA § 87 BetrVG 1972 Betriebliche Ordnung Nr. 25).

Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung steht der gesamten Nichtigkeit des Interessenausgleichs nicht die Rechtsprechung entgegen, wonach bei Verstoß gegen die in einem Gesetz enthaltene Schutzvorschrift jedenfalls der nicht gegen das Gesetz verstoßende Teil der Gesamtregelung entgegen § 139 BGB aufrechtzuerhalten ist (vgl. Palandt-Heinrichs, 62. Auflage, § 139 BGB, Rn. 18). Es handelt sich vorliegend gerade darum, dass die einen Teil der Arbeitnehmer begünstigende Regelung die übrigen Arbeitnehmer, die von einer Kündigung und dem für eine Kündigung erforderlichen Interessenausgleich betroffen sind, benachteiligt. Die Regelung im Interessenausgleich enthält insoweit einen Vertrag zu Lasten Dritter, weil sie keine der Betriebsparteien begünstigt oder benachteiligt, sondern ausschließlich die von der Regelung im Interessenausgleich betroffenen Arbeitnehmer. Dem Schutzgedanken des § 75 BetrVG kann nur in der Weise Rechnung getragen werden, dass die durch Einbeziehung in den Interessenausgleich benachteiligten Arbeitnehmer - einschließlich des Klägers - nicht schlechter gestellt werden als diejenigen Arbeitnehmer, die entsprechend der ursprünglichen Intention der Betriebsparteien bei Abschluss des Interessenausgleichs gemäß der Namensliste des Betriebsrats von einer Kündigung verschont bleiben sollten.

Ob der Interessenausgleich auch wegen des Schriftformerfordernisses, § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, 127 BGB, deshalb unwirksam ist, weil nicht sämtliche zum wesentlichen Geschäftsinhalt gehörenden Regelungen in einer von beiden Betriebsparteien unterzeichneten Urkunde enthalten sind - insbesondere die jeweils nur vom Betriebsrat bzw. der Geschäftsleitung unterschriebenen wechselseitigen Erklärungen zur Herausnahme der auf der Namensliste des Betriebsrats aufgeführten Arbeitnehmer aus dem Interessenausgleich - kann dahingestellt bleiben.

3. Es kann ebenso dahingestellt bleiben, ob die Kündigung wegen § 1 Abs. 3 KSchG auch schon deshalb unwirksam ist, weil weder die Bildung von Altersgruppen noch das vom Arbeitgeber aufgestellte Punkteschema Gegenstand einer Vereinbarung mit dem Betriebsrat gewesen ist, obwohl eine solche Bildung von Kriterien für die Sozialauswahl dann, wenn mehrere Kündigungen anstehen, als Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 BetrVG anzusehen sind, die grundsätzlich der Zustimmung des Betriebsrates bedürfen. Auch die Frage, ob die Beklagte zum Vorliegen betriebsbedingter Kündigungsgründe ausreichend vorgetragen hat, kann letztlich dahingestellt bleiben.

Schließlich kann es offen bleiben, ob die Beklagte zur Vermeidung des Kündigung des Klägers verpflichtet gewesen wäre, diesen auf der kurz vor der Kündigung ausgeschriebenen Stelle CS 0022/03 weiter zu beschäftigen.

Die Berufung der Beklagten musste nach alle dem mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückgewiesen werden.

Ende der Entscheidung

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