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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 24.03.2005
Aktenzeichen: 6 Sa 1364/04
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 3 Satz 2
Die generelle Herausnahme von sog. Leistungsträger aus der Sozialwahl verstößt gegen § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG a. F., weil eine einzelfallbezogene Interessenabwägungen, stattzufinden hat: Je schwerer das soziale Interesse wiegt, um so gewichtiger müssen die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein (im Anschluss an BAG 05.12.2002 - 2 AZR 697/01).
Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das am 18.05.2004 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Köln - 13 Ca 12725/03 - wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand: Die Parteien streiten noch über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses. Der 38 Jahre alte Kläger, der im April 1993 mit Erfolg die Diplomprüfung im Ingenieurwesen - Studiengang Produktionstechnik - an der Fachhochschule Köln ablegte und damit den akademischen Grad Diplom-Ingenieur (Dipl-Ing.) erwarb, war seit dem 17.10.1994 bei der Beklagten in der Abteilung "Ausrüstung" als Gehilfe/Maschinenführer tätig. Sein Jahresbruttoeinkommen belief sich zuletzt auf ca. 27.500,00 €. Die Beklagte ist ein Unternehmen der Papierindustrie und beschäftigt regelmäßig mehr als fünf Arbeitnehmer. Aufgrund der mit Interessenausgleich und Sozialplan vom 31.08.2001 begleiteten Restrukturierung entfielen im Betriebsbereich "Ausrüstung 2 sG" im dortigen Arbeitsbereich "Rolleneinteiler" zum Ende 2003 drei Arbeitsplätze. Bei der Festlegung des Kreises der zu kündigenden Arbeitnehmer wurden neben den in diesem Bereich unmittelbar eingesetzten Arbeitnehmern weitere 252 Arbeitnehmer auf 68 vergleichbaren Arbeitsplätzen in die Sozialauswahl einbezogen, so auch der Kläger, dessen Arbeitsplatz selbst vom Wegfall nicht betroffen war. Die Beklagte nahm sodann aus der Sozialauswahl die von ihr ausgebildeten Papiermacher heraus. Hierbei handelte es sich um 37 Mitarbeiter, die auf Stellen eingesetzt sind, deren Tätigkeit derjenigen des Klägers vergleichbar ist. Weiterbeschäftigt werden auch Papiermacher, die erst im Jahre 2003 ihre Ausbildung beendeten. Mit Schreiben vom 30.10.2003 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis nach Anhörung und Zustimmung des Betriebsrats am 29.10.2003 fristgerecht zum 31.01.2004. Der Kläger hat dagegen am 05.11.2003 Kündigungsschutzklage erhoben und die Ansicht vertreten, die Kündigung sei wegen fehlerhafter Sozialauswahl und fehlerhafter Anhörung des Betriebsrats rechtsunwirksam. Die Beklagte hat die von ihr getroffene Sozialauswahl verteidigt und die Herausnahme der ausgebildeten Papiermacher mit berechtigten betrieblichen Bedürfnissen im Sinne des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG erklärt: Papiermacher seien in allen Bereichen der Produktion hochflexibel für qualifizierte Tätigkeiten einsetzbar und stellten somit auch das Potential dar, aus dem sie ihr künftiges Führungspersonal für die Produktion rekrutiere. Im übrigen sei die Sozialauswahl mit Rücksicht auf die mit dem Betriebsrat vereinbarten Auswahlrichtlinien nach § 1 Abs. 4 KSchG a. F. nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüfbar, die nicht vorliege.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage und dem Weiterbeschäftigungsantrag stattgegeben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Herausnahme der Papiermacher aus der Sozialauswahl sei grob fehlerhaft gewesen, weil eine "allgemeine Günstigkeit", diese Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, nicht ausreiche. Gegen das ihr am 26.10.2004 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte am 09.11.2004 Berufung eingelegt und nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist am 27.12.2004 begründet. Unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens trägt sie vor, die Herausnahme der in der Betriebsratsanhörung namentlich aufgeführten 37 Papiermacher sei aufgrund "sonstiger berechtigter betrieblicher Bedürfnisse" im Sinne des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. gerechtfertigt gewesen. Denn diese Mitarbeiter seien wegen ihrer spezifischen Fachqualifikation in der Papierindustrie vielseitig verwendbar und daher optimal einsetzbar. Aus dieser Gruppe rekrutiere sich auch das künftige Führungspersonal für die Produktion. Die Beklagte beantragt, unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage insgesamt kostenpflichtig abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Er behauptet, seine Qualifikation zur Durchführung der von ihm zu verrichtenden Tätigkeiten sei sogar besser als die der neben ihm arbeitenden Papiermacher. Aufgrund seiner fachlichen Qualifikation sei er - unstreitig - auch mit Wirkung vom 01.10.2001 zum Werksangestellten ernannt worden. Im übrigen verteidigt der Kläger die angefochtene Entscheidung aus Rechtsgründen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes haben die Parteien auf die von ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Entscheidungsgründe: I. Die Berufung der Beklagten ist zwar zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist. II. In der Sache hat das Rechtsmittel jedoch keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die an sich betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Beklagte vom 30.10.2003 nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG sozial ungerechtfertigt ist, weil eine fehlerhafte Sozialauswahl zugrunde lag. Die pauschal begründete Herausnahme von 37 ausgebildeten Papiermachern als sog. betriebliche Leistungsträger nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG in der zur Zeit der Kündigung geltenden Fassung (im folgenden: a. F.) ist nicht gerechtfertigt und stellt einen zugunsten des Klägers durchschlagenden Auswahlfehler dar. Im einzelnen gilt folgendes: Der Kläger macht zu Recht geltend, dass er im Vergleich zu jüngeren Papiermachern, die auch eine geringere Betriebszugehörigkeit aufweisen, sozial schutzwürdiger ist. Unter den 37 von der Beklagten bei der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. ausgenommenen ausgebildeten Papiermachern sind unstreitig auch Arbeitnehmer, die erst im Jahre 2003 ihre Ausbildung beendeten, also sozial weniger schutzwürdig als der Käger sind. Die von der Beklagten auch gegenüber dem Betriebsrat in der Anhörung vom 20.10.2003 gegebene Begründung reicht zur Herausnahme dieser 37 "Leistungsträger" aus dem Kreis der an sich in die soziale Auswahl einzubeziehenden Mitarbeiter nicht aus: Danach handele es sich um selbstausgebildete Nachwuchskräfte, aus denen die Beklagte ihren zukünftigen Fach- und Führungskräftebedarf rekrutiere. Diese Fach- und Führungskräfte seien vom externen regionalen Arbeitsmarkt nicht zu beziehen, weshalb die Weiterbeschäftigung der ausgelernten Papiermacher von existentieller Bedeutung sei. Im übrigen seien die ausgebildeten Papiermacher aufgrund ihrer Fachqualifikation in der Papierproduktion flexibel einsetzbar, was auch aufgrund der immer weiter fortschreitenden Technisierung für die Beklagte von großer Wichtigkeit sei. Zwar kommen alle genannten Aspekte als "sonstige berechtigte betriebliche Bedürfnisse" im Sinne des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. in Betracht (vgl. nur KR-Etzel, 6. Aufl., § 1 KSchG Rn. 677 m. w. N.). Die generelle Ausklammerung der auf vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigten Papiermacher ist aber nicht gerechtfertigt, weil stets auch bei der Herausnahme von sog. Leistungsträgern eine einzelfallbezogene Interessenabwägung stattzufinden hat. Die Anzahl der Arbeitnehmer, die nicht in die soziale Auswahl einbezogen werden sollen, muss nämlich unter Berücksichtigung der Belange der sozial schwächeren Arbeitnehmer bestimmt werden, die ohne Berufung des Arbeitnehmers auf § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. ihren Arbeitsplatz nicht verlieren würden. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der das Landesarbeitsgericht folgt, ist das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers im Rahmen des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. gegen das berechtigte Interesse des Arbeitgebers an der Herausnahme bestimmter Arbeitnehmer abzuwägen. Je schwerer dabei das soziale Interesse wiegt, umso gewichtiger müssen die Gründe für die Ausklammerung des "Leistungsträgers" sein (BAG v. 05.12.2002 - 2 AZR 697/01 - NZA 2003, 849 m. w. N.; vgl. ferner KR-Etzel, § 1 KSchG Rn. 674; APS-Kiel, 2. Aufl., § 1 KSchG Rn. 555 f.; HWK/Quecke, § 1 KSchG Rn. 405). Die Beklagte hat auch mit der Berufung eine hinreichende einzelfallbezogene Interessenabwägung nicht vorgetragen. Durch die generelle Herausnahme der Papiermacher, die auf vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigt werden, hat sie insoweit allein das betriebliche Interesse für maßgeblich gehalten. Damit hat sie § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. verletzt. Auch wenn die Beklagte nicht nur eine "allgemeine Günstigkeit" der Weiterbeschäftigung von Papiermachern dargelegt hat, sondern konkrete Aspekte wie etwa deren vielseitige und flexible Einsetzbarkeit und deren Eignung für künftige Führungsaufgaben aufgezeigt hat, so muss sie doch einräumen, dass diese Argumente grundsätzlich auf die gesamte Gruppe der ausgebildeten Papiermacher zutreffen. Der Vortrag bleibt insoweit abstrakt, als nicht näher dargelegt wird, dass tatsächlich die Weiterbeschäftigung aller 37 Papiermacher auf den vergleichbaren Arbeitsplätzen gegenüber dem schutzwürdigen sozialen Interesse des Klägers im vorrangigen betrieblichen Interesse liegt. Die pauschale Höherbewertung des betrieblichen Interesses durch die Beklagte wird den gesetzlichen Anforderungen des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a. F. nicht gerecht. Auch angesichts der unstreitigen Qualifikation des Klägers und der ihm noch im Zwischenzeugnis vom 24.10.2002 bescheinigten Fähigkeiten hätte es näherer Darlegung bedurft, dass ihm auch der betriebsjüngste Papiermacher aus betrieblichen Gründen im Hinblick auf eine Weiterbeschäftigung vorzuziehen war. Gerade unter Berücksichtigung des Umstands, dass es bei der gerichtlichen Kontrolle darum geht, zu verhindern, dass unter Berufung auf § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG zielgerichtete Kündigungen bestimmter Arbeitnehmer vorgenommen werden, bedarf es einer näheren, plausiblen Begründung des Arbeitgebers zu den auszutauschenden Mitarbeitern (vgl. BAG v. 05.12.2002 - 2 AZR 697/01 - NZA 2003, 849 ff.). Dass es im berechtigten betrieblichen Interesse liegt, künftig nur noch ausgebildete Papiermacher zu beschäftigen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich. Schließlich kann auch der Hinweis der Beklagten auf die mit dem Betriebsrat vereinbarten Auswahlrichtlinien im Sinne des § 1 Abs. 4 KSchG a. F. der Berufung nicht zum Erfolg verhelfen. Regeln die Richtlinien, welche sozialen Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind und wie diese Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so können diese Festlegungen nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Dies gilt indessen nicht für die Festlegung des Kreises der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer und die Festlegung der berechtigten betrieblichen Bedürfnisse zur Weiterbeschäftigung bestimmter Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG. Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 4 KSchG kann zwar "die soziale Auswahl" nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden; dieser Halbsatz knüpft aber an die vorhergehende Regelung zu den Auswahlrichtlinien an, nämlich auf die Festlegung und Bewertung der sozialen Gesichtspunkte, so dass der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit auch nur auf diese Regelung zu beziehen ist (vgl. KR-Etzel § 1 KSchG Rn. 698; APS-Kiel, § 1 KSchG Rn. 759; beide m. w. N.). Schon mit Rücksicht darauf scheidet vorliegend eine Beschränkung der Überprüfung aus. Der vorgelegten Betriebsvereinbarung Nr. 1/2002 mit der Auswahlrichtlinie für betriebsbedingte Kündigungen (Kopie Bl. 39 f. d. A.) lässt sich überdies nicht entnehmen, dass auch Kriterien für die Herausnahme von Leistungsträgern festgelegt wurden. Nach alledem kann dahinstehen, ob der festgestellte Auswahlfehler auch "grob fehlerhaft" im Sinne des § 1 Abs. 4 KSchG ist. Infolge der Unwirksamkeit der streitbefangenen Kündigung ist auch der Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers begründet, wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. IV. Die Revision war nicht gem. § 72 Abs. 2 ArbGG zuzulassen. Insbesondere hatte die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, weil die Entscheidung auf den besonderen Umständen des Einzelfalles beruht.

Ende der Entscheidung

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