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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 17.01.2007
Aktenzeichen: 7 Sa 526/06
Rechtsgebiete: GG, BGB


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
BGB § 611
BGB § 1004
1. Zur rechtlichen Begründung des Anspruchs eines Arbeitnehmers auf Rücknahme und Entfernung einer ungerechtfertigten Abmahnung aus seiner Personalakte.

2. Ungerechtfertigt ist eine Abmahnung, die dem Arbeitnehmer objektiv zu Unrecht vorwirft, sich arbeitsvertragswidrig verhalten zu haben, sei es, dass die Abmahnung auf falschen Tatsachenbehauptungen beruht, oder dass sie aus zutreffenden Tatsachen objektiv falsche rechtliche Schlüsse zieht.

3. Besteht der Abmahnungsvorwurf darin, eine arbeitsvertraglich gebotene Handlung unterlassen zu haben, so umfasst die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers für die Berechtigung der Abmahnung auch den Umstand, dass die Vornahme der Handlung dem Arbeitnehmer überhaupt möglich war.


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 05.04.2006 in Sachen 8 Ca 8301/05 abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, die Abmahnung vom 23.06.2005 zurückzunehmen und ersatzlos aus der Personalakte des Klägers zu entfernen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.

Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Berechtigung einer dem Kläger erteilten Abmahnung.

Wegen des Sach- und Streitstandes erster Instanz, wegen der erstinstanzlich zur Entscheidung gestellten Sachanträge und wegen der Gründe, die die 8. Kammer des Arbeitsgerichts Köln dazu bewogen haben, die Klage abzuweisen, wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des arbeitsgerichtlichen Urteils vom 06.04.2006 Bezug genommen.

Das Urteil des ersten Rechtszuges wurde dem Klägervertreter am 25.04.06 zugestellt. Der Kläger hat gegen dieses Urteil am 04.05.06 Berufung einlegen und diese am 16.05.06 begründen lassen.

Der Kläger macht geltend, dass die streitige Abmahnung vom 23.06.2005 zu seinen Lasten unrichtige Tatsachenbehauptungen enthalte. So sei in dem Vorhalt, er habe "versuchen müssen, die Rangierabteilung durch Ziehen einer Notbremse anzuhalten," die Tatsachenbehauptung enthalten, dass es ihm an Ort und Stelle in der konkreten Situation überhaupt möglich gewesen sei, rechtzeitig zur Verhinderung des Aufpralls eine Notbremse zu erreichen und zu betätigen. Dies sei aber in Wirklichkeit nicht der Fall gewesen. Von seinem Standort an der Spitze eines sog. Salonwagens aus habe er in dem Zeitpunkt, als für ihn erkennbar geworden sei, dass der Lokführer den Zug nicht rechtzeitig abbremste, gar nicht mehr die Möglichkeit gehabt, die sich im Inneren des Salonwagens befindliche Notbremse zu erreichen. Dies folge zum einen daraus, dass sich zwischen seinem Standpunkt und dem Standort der Notbremse eine verschlossenen Zwischentür befunden habe. Zum anderen folge dies daraus, dass auch der räumliche Abstand zwischen ihm und dem Standort der Notbremse mit mehr als 5 Metern zu groß gewesen sei, um selbst bei offener Zwischentür die Notbremse noch rechtzeitig erreichen zu können.

Schon weil der Vorwurf, keinen Versuch unternommen zu haben, die Notbremse zu betätigen, unberechtigt sei, könne die streitige Abmahnung keinen Bestand haben.

Darüber hinaus vertritt der Kläger und Berufungskläger aber auch den Standpunkt, dass auch der Vorwurf unberechtigt sei, dass er die zu hohe Geschwindigkeit der Rangierabteilung deutlich früher hätte erkennen und den Lok-Rangierführer dementsprechend früher zum Anhalten hätte auffordern müssen. Der Kläger bestreitet in diesem Zusammenhang, dass die Rangierabteilung im Zeitpunkt des Aufpralles noch eine Geschwindigkeit von 20 km/h gefahren sei. Nach seiner Schätzung könne es sich allenfalls um eine Geschwindigkeit zwischen 5 und 12 km/h gehandelt haben. Er, der Kläger, habe sich korrekt verhalten, indem er ordnungsgemäß bis zu dem Kommando "zwei Wagenlängen" heruntergezählt und dann laut und mehrfach das Haltsignal gegeben habe.

In grundsätzlicher Hinsicht beanstandet der Kläger, dass das Arbeitsgericht dem Anspruch auf Entfernung einer Abmahnung einen zu engen Anwendungsbereich beigemessen habe. Der Anspruch bestehe nämlich nicht nur dann, wenn in einer Abmahnung falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt würden, sondern auch dann, wenn aus zutreffenden Tatsachen den Arbeitnehmer belastende unrichtige rechtliche Bewertungen abgeleitet würden.

Der Kläger und Berufungskläger beantragt nunmehr,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 23.06.2005 zurückzunehmen, hilfsweise dem Kläger gegenüber zu widerrufen, und die Abmahnung ersatzlos aus der Personalakte zu entfernen.

Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, die Geschwindigkeit der Rangierabteilung im Zeitpunkt des Aufpralls habe noch 20 km/h betragen. Selbst wenn der Kläger bei "zwei Längen" oder auch bei "drei Längen" das Haltesignal gegeben haben sollte, wäre dies zu spät gewesen, weil selbst mit einer Schnellbremsung des Lok-Rangierführers dann angesichts des Gewichts des Zuges und der Geschwindigkeit der Waggons der Zug auf dem zur Verfügung stehenden Bremsweg nicht mehr rechtzeitig hätte angehalten werden können. Bei "zwei Längen" habe die Geschwindigkeit der Rangierabteilung immer noch etwa 25 km/h betragen.

Die Beklagte behauptet, dass das Innere des Salonwagens, in dem sich der Kläger im Unfallzeitpunkt am 03.04.2005 befunden hatte, nicht abgeschlossen gewesen sei. Sie behauptet, der Betriebsingenieur H habe dies festgestellt. Die Beklagte hält dafür, dass die Beweislast insoweit allerdings bei dem Kläger liege. Es treffe schließlich auch nicht zu, dass die Entfernung zwischen dem Standpunkt des Klägers und dem Standort der Notbremse zu groß gewesen sei, um den Versuch zu unternehmen, die Bremse zu betätigen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die in der Berufungsinstanz zu den Akten gereichten Schriftsätze, den Text der streitigen Abmahnung und die diversen erst- und zweitinstanzlich zur Akte gereichten Anlagen Bezug genommen.

Das Berufungsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen H . Wegen des Beweisthemas und wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 17.01.2007 verwiesen.

Nach durchgeführter Beweisaufnahme hat die Beklagte für die Behauptung, dass die Zwischentür zum Inneren des Salonwagens im Zeitpunkt des Unfallgeschehens nicht abgeschlossen gewesen sei, zusätzlich den Zeugen W G , Leiter der Instandhaltung der Beklagten, benannt.

Entscheidungsgründe:

I. Die Berufung des Klägers ist zulässig. Die Berufung ist gemäß § 64 Abs. 2 b) ArbGG statthaft und wurde innerhalb der in § 66 Abs. 1 ArbGG vorgeschriebenen Fristen eingelegt und begründet.

II. Die Berufung des Klägers war auch erfolgreich. Die streitige Abmahnung vom 23.06.2005 ist sachlich nicht gerechtfertigt. Der Kläger hat daher einen Anspruch darauf, dass die Beklagte die streitige Abmahnung vom 23.06.2005 zurücknimmt, indem sie sie ersatzlos aus der Personalakte des Klägers entfernt und sich zukünftig nicht mehr auf diese Abmahnung beruft.

1. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Beseitigung und Rücknahme einer ungerechtfertigten Abmahnung wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit Jahrzehnten anerkannt (z. B. BAG DB 1986, 1075; BAG DB 1988, 1702; BAG DB 1993, 1677; BAG DB 2002, 1507; BAG DB 1986, 489).

a. Bei der Abmahnung handelt es sich um ein im Arbeitsrecht etabliertes Rechtsinstitut, welches den Arbeitnehmer in seiner arbeitsrechtlichen Stellung in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt: So stellt die Abmahnung zum einen die notwendige Vorstufe zu einer ganzen Reihe von Kündigungsarten dar, ist also generell geeignet, den Bestand eines Arbeitsvertragsverhältnisses zu gefährden. Darüber hinaus dokumentiert eine Abmahnung für geraume Zeit eine vom Arbeitnehmer ausgehende Störung des Arbeitvertragsverhältnisses, welche geeignet ist, sich negativ auf Leistungsbeurteilungen (z. B. in Arbeitszeugnissen oder als Grundlage für die Gewährung von Prämien oder anderen geldwerten Zuwendungen), Beförderungschancen u. ä. auszuwirken. Nicht zuletzt enthält eine in die Personalakte des Arbeitnehmers aufgenommene Abmahnung auch ein sich auf lange Zeit perpetuierendes rechtliches Unwerturteil, in dem sie dokumentiert, dass sich der Arbeitnehmer arbeitsvertragswidrig und damit rechtswidrig verhalten haben soll.

b. Eine ungerechtfertigte Abmahnung, d. h. eine Abmahnung, die dem Arbeitnehmer objektiv zu Unrecht vorwirft, sich arbeitsvertragswidrig verhalten zu haben, verletzt somit nicht nur ihrerseits die arbeitsvertragliche Rechtsstellung des Arbeitnehmers, sondern tangiert auch dessen durch Art. 2 Abs. 1 GG geschütztes Persönlichkeitsrecht (ErfK/Dietrich, Art. 2 GG, Rdnr. 102 mit Nachweisen auch aus der Rechtsprechung des BAG). Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Rücknahme und Entfernung einer ungerechtfertigten Abmahnung aus der Personalakte ist somit bereits in Art. 2 Abs. 1 GG angelegt und zivilrechtlich aus dem in § 1004 BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken herzuleiten, dass jedermann die Verpflichtung trifft, Störungen der Rechtsstellung Dritter zu unterlassen (BAG DB 1986, 1975). Ebenso wenig ist es mit der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers vereinbar, eine sachlich ungerechtfertigte Abmahnung zu erteilen und aufrecht zu erhalten.

c. Die Auffassung des Arbeitsgerichts, wonach ein Anspruch auf Entfernung einer Abmahnung nur anzuerkennen sei, wenn in der Abmahnung unrichtige Tatsachenbehauptungen aufgestellt würden, wird der o. a. angesprochenen Bedeutung einer Abmahnung nicht gerecht und greift wesentlich zu kurz. Der Anspruch auf Rücknahme und Entfernung einer Abmahnung besteht vielmehr u. a. auch dann, wenn diese darauf beruht, dass der Arbeitgeber aus unstreitigen Tatsachen objektiv falsche rechtliche Schlüsse zieht und Verhaltensweisen des Arbeitnehmers als Arbeitsvertragsverstoß rügt, obwohl ein solcher Verstoß objektiv nicht vorliegt (vgl. zum Ganzen BAG DB 1997, 233; BAG DB 2002, 1502; Küttner/Eisemann, Personalbuch 2005, Stichwort Abmahnung, Rdnr. 39; instruktiv besonders auch HWK/Quecke, § 1 KSchG, Rdnr. 205).

2. Nach den vorgenannten Grundsätzen kann der Kläger verlangen, dass die Beklagte die Abmahnung vom 23.06.2005 zurücknimmt und aus der Personalakte des Klägers ersatzlos entfernt. Die streitige Abmahnung enthält zumindest einen Vorwurf einer Arbeitsvertragsverletzung, dessen Berechtigung die Beklagte nicht nachweisen konnte und der daher nicht aufrechterhalten bleiben kann. Wird eine Abmahnung auf mehrere Vertragsverstöße gestützt, ist sie schon dann insgesamt ungerechtfertigt, wenn nur eine der Pflichtverletzungen nicht zutrifft oder vor Gericht nicht nachgewiesen werden kann (z. B. BAG DB 1991, 1527; Küttner/Eisemann, Personalbuch 2005, Stichwort Abmahnung, Rdnr. 40).

a. Die streitige Abmahnung vom 23.06.2005 enthält zwei selbständig zu würdigende Vorwürfe, die die Beklagte auf Seite 2 Mitte der streitigen Abmahnung wie folgt zusammengefasst hat.

"Damit steht zweifelsfrei fest, dass die Rangierbewegung mit einer zu hohen Geschwindigkeit durchgeführt wurde. Dies hätten Sie als Rangierbegleiter deutlich früher erkennen und den Lok-Rangierführer zum Anhalten auffordern müssen." [erster Vorwurf]

"Weiterhin hätten Sie nach dem Erkennen der zu hohen Geschwindigkeit versuchen müssen, die Rangierabteilung durch Ziehen einer Notbremse anzuhalten, wie in der KoRiL 408.0821 (Gespräche über analogen Rangierfunk führen) im Abschnitt 3 Absatz 7 vorgeschrieben." [zweiter Vorwurf]

Die Beklagte resümiert sodann: "Mit Ihrem Verhalten haben Sie gegen die grundsätzlichen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verstoßen und der D B einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden zugefügt."

b. Im Gegensatz zur Auffassung des Klägers wertet das Berufungsgericht die am Ende des zweiten Absatzes auf Seite 1 enthaltene Formulierung "Zu diesem Zeitpunkt waren im Gleis 82 bereits 3 Wagen abgestellt. Bei Ihrem Auftrag an den Lok-Rangierführer gaben Sie nicht an, dass in ein besetztes Gleis gefahren würde" nicht als weiteren Abmahnungsvorwurf. Diese - im Übrigen inhaltlich unstreitige - Tatsache findet sich vielmehr im Zusammenhang der Sachverhaltsfeststellung, die die Beklagte im Eingangsteil des Abmahnungstextes getroffen hat und eine Art "Tatbestandsfunktion" erfüllen soll. Diese Formulierung wird in dem ab Seite 2 Mitte beginnenden "Bewertungsteil" der Abmahnung nicht nochmals aufgegriffen und kann daher vom unbefangenen Leser auch nicht als einer der tragenden Abmahnungsvorwürfe verstanden werden.

c. Die von der Beklagten in den Bewertungsteil der Abmahnung aufgenommenen Vorwürfe, zum einen den Lokführer zu spät zum Anhalten aufgefordert zu haben, zum anderen keinen Versuch unternommen zu haben, den Zug durch Ziehen einer Notbremse anzuhalten, stehen dagegen selbständig nebeneinander, vergleichbar etwa mit dem Vorwurf an einen Pkw-Fahrer, nicht nur den Sicherheitsabstand nicht eingehalten zu haben, sondern auch zu schnell gefahren zu sein. Die Eigenständigkeit des Vorwurfs, den Versuch unterlassen zu haben, die Notbremse zu ziehen, wird in der Abmahnung noch dadurch hervorgehoben, dass die Beklagte an dieser Stelle die interne Richtlinie zitiert, aus der sich die Verpflichtung zum Ziehen der Notbremse ergeben soll.

d. Ob der in der Abmahnung an erster Stelle aufgeführte Vorwurf berechtigt ist, der Kläger habe "deutlich früher erkennen" müssen, "dass die Rangierbewegung mit einer zu hohen Geschwindigkeit durchgeführt wurde" und dementsprechend den Lok-Rangierführer deutlich früher zum Anhalten auffordern müssen, konnte vom Berufungsgericht (noch) nicht beurteilt werden. Insofern hätte es noch einer weiteren aufwändigen Beweisaufnahme (ggf. letztendlich durch Einholung eines Sachverständigengutachtens) bedurft.

e. Die Berechtigung dieses Vorwurfs kann aber dahinstehen; denn jedenfalls der zweite Vorwurf, keinen Versuch unternommen zu haben, die Notbremse zu ziehen, konnte in seiner Tatsachengrundlage von der Beklagten nicht nachgewiesen werden. Er hat daher als unberechtigt zu gelten und kann demnach nicht aufrecht erhalten werden, was dazu führen muss, dass die Abmahnung in Gänze zurückzunehmen und aus der Personalakte zu entfernen ist.

aa. Selbst auf der Grundlage der zu engen Auffassung des Arbeitsgerichts, wonach ein Anspruch auf Rücknahme und Entfernung einer Abmahnung nur dann bestehen soll, wenn in ihr unrichtige Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden, wäre der klägerische Rücknahme- und Entfernungsanspruch zu bejahen gewesen; denn, wie das Arbeitsgericht übersehen hat, impliziert der Vorwurf der Beklagten, der Kläger habe den Versuch unterlassen, die Rangierabteilung durch Ziehen einer Notbremse anzuhalten, die Tatsachenbehauptung, dass dem Kläger das von der Beklagten geforderte Verhalten - Ziehen einer Notbremse - in der damals gegebenen Situation unmittelbar vor dem Unfall überhaupt möglich gewesen wäre. Die Berechtigung des Vorwurfs, eine bestimmte Handlung unterlassen zu haben, setzt denknotwendig voraus, dass die Durchführung der Handlung möglich gewesen wäre. Zwar spricht die Abmahnung nur von dem unterlassenen Versuch, die Notbremse zu ziehen. Es kann der Beklagten aber nicht unterstellt werden, von dem Kläger bei Sanktion einer Abmahnung den Versuch einer Handlung verlangen zu wollen, von der feststeht und seinerzeit auch für den Kläger erkennbar war, dass sie unmöglich ist.

bb. Dass die vom Kläger verlangte Handlung, die Notbremse zu ziehen, überhaupt möglich war, setzt zum einen voraus, dass in dem Wagen, in welchem der Kläger sich aufhielt, eine Notbremse überhaupt vorhanden war - dies ist zwischen den Parteien unstreitig -, zum anderen, dass die vorhandene Notbremse für den Kläger von seinem Standort aus auch zugänglich war.

aaa. Die Beweislast für diejenigen Tatsachen, aus denen die abgemahnte Vertragspflichtverletzung des Arbeitnehmers folgen soll, trägt im Abmahnungsprozess der Arbeitgeber (BAG DB 1987, 1495; BAG AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; LAG Bremen, LAGE § 611 BGB Abmahnung Nr. 31; HWK/Quecke, § 1 KSchG, Rdnr. 207; Küttner/Eisemann, Personalbuch 2005, Stichwort Abmahnung, Rdnr. 42). Wird dem Arbeitnehmer in einer Abmahnung ein Unterlassen zum Vorwurf gemacht, so gehört die Möglichkeit, die unterlassene Handlung überhaupt vornehmen zu können, von vorneherein zu dem vorwurfsbegründenden Sachverhalt. Von daher kann nicht zweifelhaft sein, dass es Sache der Beklagten war, nachzuweisen, dass die sich in dem Salonwagen, in welchem sich der Kläger im Unfallzeitpunkt aufhielt, befindliche Notbremse für den Kläger auch zugänglich war, d. h. im konkreten Fall, dass die sich zwischen dem Standort des Klägers und der Notbremse befindliche Zwischentür nicht abgeschlossen war.

bbb. Nichts anderes ergäbe sich aber selbst dann, wenn man die Auffassung vertreten wollte, bei dem Einwand des Klägers, die Zwischentür sei abgeschlossen gewesen, handele es sich lediglich um ein Rechtfertigungsvorbringen. Wendet der Arbeitnehmer gegen einen Abmahnungsvorwurf Rechtfertigungsgründe ein, so muss er sie im Einzelnen konkret darlegen. Dies ist seitens des Klägers im Bezug auf die abgeschlossene Tür geschehen. Sodann hat aber wiederum der Arbeitgeber zu beweisen, dass der Rechtfertigungsgrund in Wahrheit nicht bestanden hat (LAG Bremen, LAGE § 611 BGB Abmahnung Nr. 31; HWK/Quecke, § 1 KSchG, Rdnr. 207).

cc. Nach dem Ergebnis der vom Berufungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme hat die Beklagte den ihr obliegenden Beweis, dass die Notbremse dem Kläger zugänglich war, weil die Zwischentür in Wirklichkeit nicht abgeschlossen war, nicht erbringen können.

aaa. Der von der Beklagten für die Behauptung, die Zwischentür zum Inneren des Salonwagens sei nicht abgeschlossen gewesen, benannte Zeuge H konnte hierzu aus eigener Anschauung keine Angaben machen. Der Zeuge konnte sich erklärtermaßen nicht mehr daran erinnern, ob er selber im Inneren des Wagens gewesen ist oder nicht. Selbst unter dem Gesichtspunkt der Üblichkeit ergab sich für den Zeugen kein Anhaltspunkt in der einen oder anderen Richtung.

bbb. Vielmehr hat der Zeuge in aller Deutlichkeit geschildert, dass der von ihm in seinem Ermittlungsbericht aufgeführte und von der Beklagten sodann in die streitige Abmahnung übernommene Gesichtspunkt der nicht gezogenen Notbremse nur auf reinen Schlussfolgerungen des Zeugen beruhte, insbesondere auf der Schlussfolgerung, dass die Zwischentür zum Inneren des Salonwagens nicht abgeschlossen war.

ccc. Die Schlussfolgerungen des Zeugen H erscheinen jedoch nach Lage der Dinge alles andere als zwingend, ja nicht einmal als überwiegend wahrscheinlich. Der Zeuge H hat angegeben, dass er seine Schlussfolgerung der offenen Tür auf zwei Anhaltspunkte gestützt habe:

Zum einen stützte sich der Zeuge H für seine Schlussfolgerung darauf, dass der Kläger in seiner Befragung zu dem Unfall ausweislich des Protokoll vom 05.04.2005 (Bl. 33 d. A.) zum Thema "Notbremse" lediglich geäußert hatte: "Für das Ziehen der Notbremse im Wagen blieb mir keine Zeit". Eine verschlossene Tür erwähnte er ausweislich des Anhörungsprotokolls dagegen nicht. Der Kläger führt jedoch zur Verteidigung gegen den Vorwurf, die Notbremse nicht gezogen zu haben, zweierlei Gründe an: Zum einen beruft er sich auf die verschlossene Zwischentür. Zum anderen macht er geltend, dass selbst bei geöffneter Zwischentür die räumliche Entfernung zwischen seinem Standort an der Spitze des Wagens und der Position der Notbremse in dessen Inneren zu groß gewesen wäre, um die Notbremse noch rechtzeitig erreichen zu können. Wenn der Kläger sodann in seiner Anhörung nur einen dieser beiden Gründe erwähnt, so stellt dies nur ein sehr wenig aussagekräftiges Indiz dafür dar, dass der andere Grund in Wirklichkeit nicht vorgelegen hätte. Dies gilt um so mehr, als einerseits das Thema "Notbremse" ersichtlich nicht im Vordergrund der Befragung stand und andererseits die Formulierung " es blieb mir keine Zeit" streng genommen sprachlich sogar als Oberbegriff für beide der vom Kläger jetzt angeführten Verteidigungspunkte verstanden werden könnte.

Der zweite Anhaltspunkt, auf den der Zeuge H seine Schlussfolgerung der nicht geschlossenen Zwischentür stützen will, lag darin, dass ihm der lange vor ihm vor Ort im Einsatz befindliche Mitarbeiter G berichtet hatte, dass er "im Inneren der Fahrzeuge nur leichte Schäden festgestellt habe". Daraus hat der Zeuge H geschlossen, dass sich der Zeuge G im Inneren der Fahrzeuge aufgehalten hatte, und daraus wiederum leitet er ab, dass die Zwischentür geöffnet gewesen sein muss.

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es sich bei der Tür, um die es hier geht, nicht um diejenige Tür handelt, die man betätigen muss, um von außen in das Fahrzeug hineinzugelangen, sondern um die Zwischentür, die passiert werden muss, wenn man sich bereits im Inneren des Wagens befindet (!) und in den eigentlichen Salonbereich gelangen will. Bei dieser Zwischentür handelt es sich ausweislich des Fotos, welches der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 17.01.2007 vorgelegt hat, um eine Glastür, durch die man ohne Weiteres hindurchsehen kann. Um die Schäden im Inneren des Fahrzeuges grob einschätzen zu können, hätte der Zeuge G somit nicht unbedingt die Zwischentür passieren müssen, sondern es hätte genügt, durch die Zwischentür in das Innere des Wagens hineinzusehen. Der Zeuge H hat ausdrücklich ausgeführt, dass der Zeuge G nur die Aufgabe hatte, sich einen groben Überblick zu verschaffen, nicht aber eine genaue Feststellung der Schäden vorzunehmen.

Abgesehen davon geht aus der Aussage des Zeugen H in keiner Weise hervor, dass der Zeuge G nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich auch bei ursprünglich verschlossener Zwischentür mithilfe des Schlüssels oder mithilfe sonstiger Werkzeuge Zugang zum Salonbereich des Wagens zu verschaffen. Selbst die Möglichkeit von außen, etwa mit Hilfe einer Leiter, durch das Fenster zu sehen, ist nicht völlig abwegig.

Wie der Zeuge H selbst ausgeführt hat, hätte er aufgrund der Aufgabenstellung und Funktion des Mitarbeiters G nicht erwartet, dass dieser den Umstand einer abgeschlossenen Zwischentür in jedem Fall ausdrücklich erwähnt haben würde.

ddd. Die Schlussfolgerungen, die der Zeuge H im Hinblick auf die Frage, ob die Zwischentür abgeschlossen war oder nicht, gezogen hat, sind somit in keiner Weise geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür zu begründen, dass die zwischen der Position des Klägers an der Spitze des Zuges und der Position der Notbremse im Inneren des Salonwagens gelegene Zwischentür im Zeitpunkt des Unfallgeschehens nicht verschlossen war.

dd. Dem nachfolgenden Beweisantritt der Beklagten, zum Thema der verschlossenen Zwischentür auch noch den Zeugen G zu vernehmen, war aus verschiedenen prozessrechtlichen Gründen nicht nachzukommen.

aaa. Zum einen ist der Beklagten vorzuwerfen, dass der fragliche Beweisantritt entgegen § 67 Abs. 4 ArbGG verspätet erfolgte. Nach dieser Vorschrift sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel, die nicht bereits aus anderen Gründen als verspätet zurückzuweisen sind, vom Berufungsbeklagten in der Berufungsbeantwortung vorzubringen. Hierzu gehören auch Beweisantritte. Werden sie später als in der Berufungsbeantwortung vorgebracht, sind sie nur zuzulassen, wenn sie erst nach der Berufungsbeantwortung entstanden sind oder wenn das verspätete Vorbringen nach der freien Überzeugung des LAG die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder nicht auf dem Verschulden der Partei beruht.

Die Möglichkeit, den Mitarbeiter G als Zeugen zu benennen, ist keineswegs erst nach der Berufungsbeantwortung entstanden. Keineswegs war der Mitarbeiter G nur zufällig am Unfallort. Er hat vielmehr sich aufgrund seiner dienstlichen Aufgaben und Funktionen dorthin begeben. Bei sorgfältiger Ermittlung der eigenen Beweismöglichkeiten hätte die Beklagte somit alsbald und nicht erst durch die Zeugenaussage des Zeugen H vor dem Berufungsgericht von der potentiellen Zeugenrolle des Zeugen G erfahren können. Da die Beklagte es offenbar unterlassen hat, im Zuge der Vorbereitung ihrer Prozessführung festzustellen, welche ihrer Mitarbeiter zeitnah vor Ort die Unfallstelle untersucht hatten, ist ihr im Hinblick auf den verspäteten Beweisantritt fahrlässiges und somit schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen.

Die Zulassung des Beweisantrittes hätte die Erledigung des Rechtsstreits offensichtlich auch verzögert, da der Zeuge G nicht an Gerichtsstelle anwesend war und der Rechtsstreit somit hätte vertagt werden müssen.

bbb. Zum anderen konnte dem Beweisangebot des Zeugen G aber auch deshalb nicht nachgekommen werden, weil es sich um einen zivilprozessual verbotenen Ausforschungsbeweis gehandelt hätte.

Der Zeuge H hat keineswegs angegeben, dass der Zeuge G ihm definitiv gesagt hätte, die Zwischentüre sei geöffnet gewesen. Auch die Beklagte, deren Prozessvertreter der Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen H beigewohnt haben, kann somit allenfalls die - wie aufgezeigt alles andere als zwingenden oder auch nur überwiegend wahrscheinlichen - Schlussfolgerungen des Zeugen H teilen, jedoch ebenfalls nicht wissen, ob sich der Zeuge G überhaupt im Inneren des Salonwagens, d. h. in dem Bereich hinter der fraglichen Zwischentür, aufgehalten hat und, falls ja, wie er dort hineingekommen ist. Die Beklagte kann somit allenfalls hoffen, dass der Mitarbeiter G weiterführende Angaben zu der Frage machen könnte, ob die Zwischentür geöffnet oder abgeschlossen war. Damit handelt es sich jedoch um das klassische Beispiel eines sog. Ausforschungsbeweises.

f. Da die Beklagte somit für einen von zwei Abmahnungsvorwürfen die Tatsachengrundlage der Berechtigung des Vorwurfs nicht nachgewiesen hat, war dem Hauptantrag des Klägers stattzugeben.

III. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Ein gesetzlicher Grund für die Zulassung der Revision liegt bei dem vorliegend zu beurteilenden Einzelfallgeschehen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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