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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht München
Urteil verkündet am 15.06.2005
Aktenzeichen: 6 Sa 602/05
Rechtsgebiete: BGB, GG, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823
GG Art. 9 Abs. 3
ZPO § 940
Einzelfallentscheidung - Rechtsschutz gegen gewerkschaftliche Aufrufe zu Solidaritätsstreiks.
LANDESARBEITSGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

6 Sa 602/05

Verkündet am: 15. Juni 2005

In dem Rechtsstreit

hat die Sechste Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Staudacher sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Haidacher und Leicht für Recht erkannt:

Tenor: Die Berufung der Klägerinnen vom 10. Juni 2005 gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 9. Juni 2005 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten im Verfügungsverfahren über Rechtsschutz gegen Aufrufe zu Solidaritätsstreiks.

Die Klägerinnen sind Töchter des tarifgebundenen ...Verlags, selbst aber nicht tarifgebunden. Auf der Grundlage von § 613 a BGB und der diesen umsetzenden Betriebsvereinbarung vom 21. März 2003 (Blatt 19 bis 24 der Akte) bzw. vom 6. Dezember 2004 (Blatt 7 bis 18 der Akte) erfolgte aber eine individualvertragliche statische Übernahme der zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Tarifverträge. Des weiteren hatten sich die Klägerinnen gegenüber den übergehenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verpflichtet, deren Gehälter auf einzelvertraglicher Basis bis zum Jahre 2009 bzw. 2011 zeitgleich mit den jeweiligen Gehaltstariferhöhungen entsprechend ebenfalls zu erhöhen.

Die Tarifverträge über Lohn und Gehalt für das Zeitungsgewerbe in Bayern waren zum 30. April 2003 fristgerecht gekündigt worden. Verhandlungen der Tarifvertragsparteien über den Abschluss neuer Tarifverträge sind seitdem ergebnislos geblieben.

Während laufender Verhandlungen um den Gehaltstarifvertrag für die Angestellten in den Zeitungsverlagen in Bayern erfolgte am Vormittag des 19. Mai 2005 ein "Aufruf zum Warnstreik" (Blatt 25/26 der Akte) der Verfügungsbeklagten zu 1). Der entsprechende Handzettel wurde auf Veranlassung der Antragsgegnerin zu 2) den Mitarbeitern/innen der Antragsteller übergeben; außerdem wurden die Mitarbeiter/innen der Antragstellerin zu 2) über das Intranet (Verteiler des Betriebsrats) aufgefordert, sich an den Streikmaßnahmen zu beteiligen.

Trotz entsprechender Hinweise der arbeitgeberseitigen Geschäftsleitungen sehen die Verfügungsbeklagten die Mitarbeiter/innen der Verfügungsklägerinnen weiterhin als berechtigt an, sich an einem sog. Solidaritätsstreik zu beteiligen. Streikforderungen hinsichtlich des Manteltarifvertrages haben die Verfügungsbeklagten, solange diesbezüglich noch die Friedenspflicht besteht, im Termin vom 9. Juni 2005 vor dem Erstgericht fallen lassen.

Mit anwaltschaftlichem Schriftsatz vom 31. Mai 2005 haben die Arbeitgeberinnen dieses Verfügungsverfahren einleiten lassen mit den Anträgen:

1. Den Antragsgegnern zu untersagen, die Arbeiter und Angestellten der Antragsteller zum Solidaritätsstreik zur Durchsetzung der Forderungen im Zusammenhang mit den laufenden Tarifvertragsverhandlungen um den Gehaltstarifvertrag für die Angestellten in den Zeitungsverlagen in Bayern aufzurufen.

2. Den Antragsgegnerinnen für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld von € 250.000,-- anzudrohen, ersatzweise Ordnungshaft.

Diese Anträge sind vor dem angerufenen Arbeitsgericht München aber erfolglos geblieben. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Endurteils vom 9. Juni 2005 wird Bezug genommen.

Mit der am 10. Juni 2005 beim Landesarbeitsgericht München eingegangenen und zugleich begründeten Berufung gegen diese Entscheidung verfolgen die Klägerinnen ihre Anträge weiter. Dem Erstgericht lassen sie vorhalten, von falschen Voraussetzungen ausgegangen zu sein. Unter Hinweis auf das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 19. Dezember 1979 - 9 Sa 1015/79 (NJW 1980, Seite 957 ff.) wird die Ansicht vertreten, es komme nicht darauf an, dass der Arbeitskampf "offensichtlich rechtswidrig" sei, ob die Beantwortung seiner Rechtswidrigkeit schwierig falle und ob "erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen" bestehen.

Die Antragstellerinnen seien eigenständige juristische Personen und nicht tarifgebunden, Personalunion zwischen den Antragstellerinnen und anderen tarifgebundenen Konzernunternehmen bestehe nur in ganz begrenztem Umfang. Der die Antragstellerinnen betreffende Streikaufruf wird damit als rechtswidrig angesehen. Die Antragstellerin zu 2) nehme als Kundenservicecenter im Rahmen eines Dienstleistungs­vertrages die Zeitungsanzeigen für die in der ...Zeitung GmbH erscheinende ...Zeitung entgegen. Dabei würden pro Werktag durchschnittlich circa 4.600 Anzeigen im Gegenwert von circa € 250.000,-- angenommen.

Sollten die in der kommenden Woche (vom 13. bis 17. Juni 2005) geplanten umfassenden Streikmaßnahmen umgesetzt werden, drohten allein in dieser einen Woche Schäden in Höhe von circa € 1.250.000,--.

Gegen einen rechtswidrigen Streik bestehe anerkanntermaßen ein Unterlassungsanspruch des Arbeitgebers, Sympathiestreiks seien nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts regelmäßig rechtswidrig.

Damit lauten die Berufungsanträge:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts München, Az. 23 Ga 119/05, wird geändert.

2. Den Antragsgegnern zu untersagen, die Arbeiter und Angestellten der Antragsteller zu Solidaritätsstreiks zur Durchsetzung der Forderungen im Zusammenhang mit den laufenden Tarifvertragsverhandlungen um den Gehaltstarifvertrag für die Angestellten in den Zeitungsverlagen in Bayern aufzurufen.

3. Den Antragsgegnern für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld von € 250.000,-- anzudrohen, ersatzweise Ordnungshaft.

Die Beklagten/Antragsgegnerinnen lassen beantragen:

Die Berufung zurückzuweisen.

Den Überlegungen des Erstgerichts in der angefochtenen Entscheidung pflichten sie bei, den Ausführungen in der Berufungsbegründung treten sie entgegen. Wille der Beteiligten bei Errichtung der Antragstellerinnen sei gewesen, die bei den Unternehmen kollektivrechtlich geltenden Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen auch nach dem Übergang weitergelten zu lassen. Dies entspreche auch der engen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen ...Verlag bzw. ...Zeitung und ihren Tochtergesellschaften. So habe die Klägerin zu 2) als einzigen Kunden die ...Zeitung; ihr Geschäftsführer sei gleichzeitig der Leiter des Kundenmanagements Vertrieb/Abo der ...Zeitung GmbH. Der Personalleiter der ...Zeitung sei zuständig auch für die Klägerin zu 2). Das Bundesarbeitsgericht habe in seiner Entscheidung vom 12. Januar 1988 die angedachten Ausnahmefälle von zulässigen Sympathie- bzw. Solidaritätsstreiks nicht abschließend aufgezählt; weitere Ausnahmefälle erschienen dem Senat möglich. Und so ist aus Sicht beider Beklagten auch ihr Warnstreikaufruf vom 19. Mai 2005, bezogen auf den Lohn- und Gehaltstarifvertrag, rechtmäßig gewesen.

Zur Ergänzung des Parteivorbringens im Berufungsverfahren wird Bezug genommen auf den Berufungsschriftsatz vom 10. Juni 2005 (Blatt 97 bis 109 der Akte) mit Anlagen, auf die Berufungsbeantwortung vom 13. Juni 2005 (Blatt 118 bis 126 der Akte) mit Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 14. Juni 2005 (Blatt 143/144 der Akte).

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§ 64 Abs. 2 ArbGG) und auch sonst zulässige Berufung (§ 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO, § 11 Abs. 2 ArbGG) mit dem Ziel, den Antragsgegnerinnen in einem Verfügungsverfahren untersagen zu lassen, die Arbeiter und Angestellten der Antragstellerinnen zum Solidaritätsstreik zur Durchsetzung der Forderungen im Zusammenhang mit den laufenden Tarifvertragsverhandlungen um den Gehaltstarifvertrag für die Angestellten in den Zeitungsverlagen in Bayern aufzurufen, muss erfolglos bleiben. Das Erstgericht hat die beantragte Untersagungsverfügung zu Recht nicht erlassen. Der von ihm dazu gegebenen Begründung schließt sich die Berufungskammer zunächst einmal an (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

Eine Streikmaßnahme kann im einstweiligen Verfügungsverfahren nur dann untersagt werden, wenn sie rechtswidrig und dies glaubhaft gemacht ist (Hess. LAG Urteil vom 2. Mai 2003 - 9 SaGa 638/03 - BB 2003,1229 = NZA 2003,679; LAG Hamm Urteil vom 31. Mai 2000 - 18 Sa 858/00 - AP Nr. 158 zu Art 9 GG Arbeitskampf; LAG Schleswig-Holstein Urteil vom 25. November 1999 - 4 Sa 584/99 - LAGE Art 9 GG Arbeitskampf Nr. 68 a; Hess. LAG Urteil vom 22. Juli 2004 - Az: 9 SaGa 593/04 - AP Nr. 168 zu Art 9 GG Arbeitskampf). Die beantragte Untersagungsverfügung muss zum Schutz des Rechtes am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs. 1 BGB) und zur Abwendung drohender wesentlicher Nachteile geboten und erforderlich sein. Besteht ein Verfügungsanspruch, hat zur Prüfung, ob eine auf Unterlassung eines Arbeitskampfes gerichtete einstweilige Verfügung im Sinne des § 940 ZPO zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, eine Interessenabwägung stattzufinden, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell-rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind (LAG Köln, Urteil vom 14. Juni 1996 - 4 Sa 177/96 - LAGE Art 9 GG Arbeitskampf Nr. 63).

Ein Sympathie- oder Solidaritätsstreik ist zwar im Regelfall unzulässig, er kann aber unter besonderen Umständen als Kampfmittel den Gewerkschaften zur Verfügung stehen. Davon ausgehend lässt sich in diesem einstweiligen Verfügungsverfahren zwar nicht abschließend beurteilen, ob der streitbefangene "Aufruf zum Warnstreik" vom 19. Mai 2005 rechtswidrig war und bevorstehende weitere Streiks rechtswidrig sein werden. Hat das Bundesarbeitsgericht in seinen grundlegenden Entscheidungen zur Zulässigkeit von Solidaritätsstreiks (Urteile vom 12. Januar 1988, Az: 1 AZR 219/86 - AP Nr. 90 zu Art 9 GG Arbeitskampf und vom 5. März 1985, Az: 1 AZR 468/83 - AP Nr. 85 zu Art 9 GG Arbeitskampf) doch stets darauf hingewiesen, dass Fallgestaltungen denkbar sind, die einen Sympathiestreik rechtfertigen könnten und dass die Aufzählung von Fallgestaltungen in diesen Entscheidungen nicht abschließend gemeint sei.

Im Streitfall haben die Beklagten den Streikaufruf vom 19. Mai 2005 mit einer aus ihrer Sicht bestehenden engen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen ...Verlag bzw. ...Zeitung und den Klägerinnen begründet. Die dazu vorgetragenen Einzelheiten (personelle Verflechtung auf Leitungsebene; wirtschaftliche Abhängigkeit der Beklagten zu 2) von der ...Zeitung GmbH) sind auch durchaus von Gewicht. Wesentlich erscheint der Berufungskammer in diesem Zusammenhang aber die in den Betriebsvereinbarungen vom 21. März 2003 und vom 6. Dezember 2004 niedergeschriebene Verpflichtung beider Klägerinnen, die Gehälter der übernommenen Mitarbeiter/innen bis 2009 bzw. 2011 zeitgleich mit den jeweiligen Gehaltstariferhöhungen der maßgeblichen Gehaltstarifverträge entsprechend zu erhöhen. Damit sind dann aber auch die Arbeitnehmer/innen der Klägerinnen vom Ausgang der Tarifverhandlungen über den Abschluss eines neuen Gehaltstarifvertrages in einer Weise erfasst, dass der an sie gerichtete Streikaufruf vom 19. Mai 2005, zumindest seitdem die Beklagten ihre eindeutig rechtswidrigen Streikforderungen hinsichtlich des Manteltarifvertrages vor dem Erstgericht haben fallen lassen, in diesem summarischen Verfahren als rechtmäßig anzusehen ist.

Und da auch die gebotene Interessenabwägung zu Gunsten der Beklagten ausgehen müsste, hat doch bereits das Erstgericht darauf hingewiesen, dass bei halbtägigen Sympathiestreiks (am 19. Mai 2005 ab 11:30 Uhr bis Arbeitsende) erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf die Verfügungsklägerinnen nicht erkennbar sind. An dieser Sicht vermag auch das Berufungsvorbringen nichts zu ändern, wird darin doch die Anzeigenannahme pro Werktag angegeben und im Übrigen eine Befürchtung für die kommende Woche (vom 13. bis 17. Juni 2005) geäußert, die sich so - und sei es auch nur wegen der anstehenden Berufungsverhandlung - nicht verwirklicht hat. Unabhängig davon könnte bei dieser Interessenabwägung aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass für den 17. Juni 2005 die nächsten und wohl entscheidenden Tarifverhandlungen über den Abschluss eines Gehaltstarifvertrages geplant waren. In den Tagen davor durch eine strafbewehrte Untersagungsverfügung in die Parität der Tarifvertragsparteien einzugreifen, erfordert zumindest einen gesicherten Verfügungsanspruch, woran es hier gerade fehlt.

Mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO verbleibt es damit bei der angefochtenen Entscheidung.

Ein weiteres Rechtsmittel ist nicht eröffnet (§ 72 Abs. 4 ArbGG).

Ende der Entscheidung

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