Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 28.05.2004
Aktenzeichen: 10 Sa 2180/03
Rechtsgebiete: KSchG, BetrVG, RL 00/78/EG


Vorschriften:

KSchG § 1 Abs. 4
BetrVG § 75 Abs. 1 Satz 2
RL 00/78/EG
1. Eine Auswahlrichtlinie gemäß § 95 BetrVG, die bei der Bewertung der für die Sozialauswahl zugrunde zu legenden Kriterien bei der Betriebszugehörigkeit und beim Lebensalter Zeiten nach Vollendung des 55. Lebensjahres nicht berücksichtigt, verstößt nicht gegen § 75 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Richtline des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung und Beschäftigung und Beruf (RL 00/78/EG). Eine solche Bewertung dient dem legitimen Ziel, solchen älteren, rentennahen Arbeitnehmern ein verhältnismäßig höheres Kündigungsrisiko zuzumuten, die bei typisierender Betrachtung wegen ihrer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung von einer Kündigung wirtschaftlich weniger hart als jüngere Arbeitnehmer getroffen werden.

2. Eine solche Bewertung der sozialen Gesichtspunkte ist auch nicht völlig unausgewogen und damit nicht grob fehlerhaft i.S. von § 1 Abs. 4 KSchG.

3. Seit Einführung des § 1 Abs. 4 KSchG durch das Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25.09.1996 ist Voraussetzung für die Wirksamkeit von Auswahlrichtlinien nicht mehr, dass der Arbeitgeber Raum für eine abschließende Berücksichtigung individueller Besonderheiten haben muss. Der Arbeitgeber ist lediglich dann berechtigt und zugleich verpflichtet, eine Auswahlentscheidung vorzunehmen, wenn zwei Arbeitnehmer denselben Punktestand aufweisen oder ein krasser Ausnahmefall wie dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen eines nach der Auswahlrichtlinie zu kündigenden Arbeitnehmers vorliegt.


Landesarbeitsgericht Niedersachsen Urteil Im Namens des Volkes

10 Sa 2180/03

Verkündet am: 28. Mai 2004

In dem Rechtsstreit

hat die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 28. Mai 2004 durch die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Spelge und die ehrenamtlichen Richter Froelian und Huchthausen

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 06.11.2003 - 2 Ca 322/03 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung und um Weiterbeschäftigung des Klägers.

Der am 08.03.1960 geborene Kläger ist seit dem 12.01.1987 bei der Beklagten als Kraftfahrer beschäftigt. Die Beklagte stellt Möbel her. Ein Betriebsrat besteht. Im Juni 2003, dem Zeitpunkt der Kündigung, beschäftigte sie 173 Arbeitnehmer, darunter 13 Fahrer, mit denen sie einen eigenenFuhrpark von 10 LKW unterhielt. Anfang Juni 2003 traf die Beklagte die unternehmerische Entscheidung, nur noch die Hauptstrecken mit eigenen Fahrern auf eigenen LKWs zu betreiben und die Nebenstrecken zukünftig von Speditionen bedienen zu lassen. Deshalb sollte die Zahl der LKWs auf 5 und die der Fahrer auf 8 reduziert werden. Mit Schreiben vom 27.06.2003 kündigte sie die Arbeitsverhältnisse des Klägers sowie der weiteren Fahrer G., Sp., M. und S.. Anfang 2004 legte sie 4 Zugfahrzeuge vorübergehend still, veräußerte ein weiteres Zugfahrzeug an eine P. Möbelfirma und legte 14 Auflieger vorübergehend still.

Die Beklagte bezog alle 13 bei ihr beschäftigten Fahrer in die zu treffende Sozialauswahl ein. Sie orientierte sich dabei an einer am 01.10.1997 Abgeschlossenen Betriebsvereinbarung, auf deren Inhalt (Bl. 31 d. A.) Bezug genommen wird. Diese Betriebsvereinbarung berücksichtigt die Betriebszugehörigkeit lediglich bis zum 55. Lebensjahr, wobei pro Jahr der Betriebszugehörigkeit ab dem 15. Lebensjahr 2 Punkte, insgesamt somit maximal 80 Punkte, vergeben werden. Für jedes vollendete Lebensjahr ist 1 Punkt vorgesehen, maximal 55 Punkte. Die Beklagte wandte diese Betriebsvereinbarung modifiziert an, indem sie auch die Jahre der Betriebszugehörigkeit nach Vollendung des 55. Lebensjahres berücksichtigte, also keine Kappung mit dem 55. Lebensjahr vornahm. Unter Zugrundelegung der aus den Lohnsteuerkarten der Arbeitnehmer ersichtlichen Sozialdaten erstellte sie zum Stichtag 30.06.2003 nach diesen Maßstäben eine Rangliste der zu kündigenden Arbeitnehmer, auf die Bezug genommen wird (Bl. 32 d. A.). Die Lohnsteuerkarte des Klägers wies die Steuerklasse III und 2 Kinderfreibeträge aus. Für den Kläger errechnete die Beklagte - ausgehend von einer Betriebszugehörigkeit von 16 Jahren, einem Lebensalter von 43 Jahren und Unterhaltspflichten für seine Ehefrau und zwei Kinder - 91 Punkte. Der Arbeitnehmer W. wies - ausgehend von einer Betriebszugehörigkeit von 14 Jahren, einem Lebensalter von 60 Jahren und der Lohnsteuerklasse III - ebenfalls 91 Punkte auf. Auch der Arbeitnehmer S. hatte danach 91 Sozialpunkte. Tatsächlich war - wie in der Berufungsinstanz unstreitig geworden ist - der Kläger am 30.06.2003 vier Kindern, darunter zwei volljährigen Schülern, die noch in seinem Haushalt lebten, zum Unterhalt verpflichtet. Der Arbeitnehmer W. war - wie die Beklagte im Rahmen des nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils eingeleiteten Anhörungsverfahrens zur beabsichtigten Kündigung des Arbeitnehmers W. erfahren hat - am 30.06. 2003 ebenfalls noch einem volljährigen Kind zum Unterhalt verpflichtet.

Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 19.06.2003, auf das Bezug genommen wird (Bl. 33 f. d. A.), zur beabsichtigten Kündigung der Arbeitnehmer G., Sp., M., S. und des Klägers an.Diesem Schreiben war die Tabelle (Bl. 32 d. A.) beigefügt. Der Betriebsrat widersprach mit Schreiben vom 26.06.2003 (Bl. 7 d. A.) der beabsichtigten Kündigung des Klägers, weil zwei Kinder nicht berücksichtigt worden seien und bei verschiedenen Arbeitnehmern die Betriebszugehörigkeit zu hoch bewertet worden sei, weil keine Deckelung mit dem 55 Lebensjahr erfolgt sei. Die Beklagte teilte dem Betriebsrat noch am 26.06.2003 mit, dass es bei der Kündigungsentscheidung bleibe. Danach übersandte sie das Kündigungsschreiben vom 27.06.2003, mit dem sie das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31.10.2003 kündigte.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 06.11.2003, das der Beklagten am 20.11.2003 zugestellt worden ist, der Kündigungsschutzklage des Klägers, die am 09.07.2003 erhoben worden ist, stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer am 18.12.2003 eingelegten und zugleich begründeten Berufung. Sie meint, sie habe den Betriebsrat ordnungsgemäß informiert. Sie habe ihm durch die Übersendung der Tabelle (Bl. 32 d. A.) deutlich gemacht, welche Kriterien unter welcher Gewichtung sie ihrer Kündigungsentscheidung zugrunde gelegt habe.

Die Beklagte ist der Auffassung, die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 sei unwirksam, weil sie ältere Arbeitnehmer wegen der Kappung der anzurechnenden Betriebszugehörigkeit und des Lebensalters ab dem 55. Lebensjahr benachteilige. Anders als bei der Firma K., an deren Modell sich die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 orientiere, seien im Unternehmen der Beklagten keine Frühpensionierungen mit dem 55. Lebensjahr möglich. Sie habe deshalb die Punkte für die Betriebszugehörigkeit nicht mit Vollendung des 55. Lebensjahres gekappt. Ohnehin sei sie zu einer Einzelfallprüfung verpflichtet gewesen. Ihrer Auffassung nach werde der über 60-jährige Arbeitnehmer W. von der Kündigung besonders hart getroffen. Er müsse erhebliche Rentenabschläge hinnehmen und habe keinerlei Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz. Demgegenüber müsse der Kläger lediglich mit Arbeitslosigkeit, aber nicht mit deren Fortbestand bis zu seiner Verrentung rechnen. Er sei mit 43 Jahren nicht schwer vermittelbar. Außerdem trage sie bei der Kündigung des Arbeitnehmers W. das Risiko des § 147 a SGB III. Sie habe deshalb den ihr zustehenden Wertungsspielraum zulässig ausgenutzt. Bei Fortschreibung der Betriebsvereinbarung über das 55. Lebensjahr hinaus weise der Kläger bei einer Unterhaltspflicht für vier Kinder 99 Punkte, der Arbeitnehmer W. bei einer Unterhaltspflicht für ein Kind dagegen 100 Punkte auf und sei damit schutzwürdiger.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 06.11.2003 - 2 Ca 322/03 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Auffassung, dass die Beklagte im Anhörungsverfahren geenüber dem Betriebsrat nicht dargelegt habe, warum sie den Kläger gegenüber dem Arbeitnehmer W. für schutzwürdiger halte. Zudem habe sie durch die Mitteilung, sie halte ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrates an ihrer Kündigungsabsicht fest, ein neues Anhörungsverfahren eingeleitet, ohne vor Ausspruch der Kündigung den Ablauf der Wochenfrist des § 102 BetrVG abzuwarten.

Der Kläger ist der Auffassung, dass der Arbeitnehmer W. ungeachtet seines rentennahen Alters weniger sozial schutzwürdig als er sei. Dieser könne vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen. Aufgrund der von ihm zu erfüllenden, wesentlich höheren Unterhaltspflichten sei der Kläger schutzwürdiger als der Arbeitnehmer W..

Im Übrigen bestehe seit dem 01.01.2004 wegen der Weiterbeschäftigung des Klägers ein unbefristetes Arbeitsverhältnisses.

Nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils wird der Kläger von der Beklagten über den 01.01.2004 hinaus weiterbeschäftigt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

I.

Allerdings ist zwischen den Parteien nicht etwa eine mangels Wahrung der Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG unwirksame Befristung durch die Weiterbeschäftigung des Klägers über den 01.01.2004 hinaus geschlossen worden, die dazu führen würde, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung beendet worden wäre. Zwar findet das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG auch Anwendung auf vertragliche Vereinbarungen über befristete Weiterbeschäftigungen während des Kündigungsschutzprozesses. Entbehren solche Vereinbarungen der Schriftform, ist die Befristung unwirksam, so dass das Arbeitsverhältnis unabhängig von der Wirksamkeit der Kündigung (unbefristet) fortbesteht. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Arbeitnehmer die Verurteilung des Arbeitgebers zur Weiterbeschäftigung erstritten hat und die Weiterbeschäftigung nur zur Abwendung der Zwangsvollstreckung erfolgt (vgl. BAG, 22.10.2003, 7 AZR 113/03, AP Nr. 6 zu § 14 TzBfG <II 1 c bb der Gründe>). Hier ist die Weiterbeschäftigung des Klägers nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils, durch das die Beklagte verurteilt wurde, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens unverändert weiterzubeschäftigen, und damit lediglich in Erfüllung des arbeitsgerichtlichen Urteils und zur Abwendung der Zwangsvollstreckung erfolgt.

II.

Die Kündigung ist jedoch unwirksam, weil die Kündigung der Beklagten vom 27.06.2003 gegen die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 verstößt und der Betriebsrat deswegen der Kündigung innerhalb der Wochenfrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG schriftlich widersprochen hat (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 lit. a KSchG). Es kann daher dahinstehen, ob der Kündigung dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG zugrunde lagen und ob die Beklagte den Betriebsrat ausreichend informiert hat.

1.

Ist in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG festgelegt, welche sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zu berücksichtigen und wie diese Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer vom Arbeitsgericht nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden (§ 1 Abs. 4 KSchG). Eine solche Auswahlrichtlinie haben die Betriebspartner hier durch die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 erlassen. Sie haben eine förmliche, von beiden Seiten unterschriebene Betriebsvereinbarung geschlossen. Diese Vereinbarung ist entgegen der Auffassung der Beklagten wirksam. Sie verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Die Entscheidung, welche sozialen Gesichtspunkte bei der Sozialauswahl zu berücksichtigen sind und wie diese Kriterien im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, ist auch nicht grob fehlerhaft Die Beklagte war daher an die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 gebunden. Bei Anwendung dieser Betriebsvereinbarung wies der Kläger 99, der Arbeitnehmer W. dagegen nur 83 Sozialpunkte auf. Daher war kein Raum für ein individuelle Abschlussprüfung durch die Beklagte. Vielmehr war sie verpflichtet, dem Arbeitnehmer W., der im Vergleich zum Kläger weniger sozial schutzwürdig ist, zu kündigen.

a)

Die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 verletzt nicht höherrangiges Recht.

aa)

Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 BetrVG müssen sich - wie jede Betriebsvereinbarung - an höherrangigem Recht messen lassen. Sie dürfen nicht gegen zwingendes staatliches Recht verstoßen. Maßgeblich ist insoweit § 75 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Danach haben die Betriebspartner darauf zu achten, dass Arbeitnehmer nicht wegen Überschreitung bestimmter Altersstufen benachteiligt werden. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift ist auch die Richtlinie des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (OO/78/EG) zu beachten, die bis zum 03.12.2003 umgesetzt werden musste. Die nationalen Gerichte sind bei der Anwendung nationalen Rechts verpflichtet, dieses im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der europäischen Richtlinien auszulegen (EuGH, stRspr seit Urteil vom 10.04.1984, Rs. 14/83, AP Nr. 1 zu § 611 a BGB - von Colson und Kamann). Die Auslegung des nationalen Rechts ist daher unabhängig davon, ob dieses vor oder nach der Richtlinie erlassen worden ist, so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, um das in der jeweiligen Richtlinie genannte Ziel zu erreichen und so der Verpflichtung aus Art. 249 Abs. 3 EGV nachzukommen (vgl. EuGH, 14.07.1994, Rs. C - 91/92 - faccini dori, Slg. 1994, Seite 3325).

bb)

Die Betriebspartner haben in der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 sowohl bei der Bewertung des Lebensalters als auch bei der der Betriebszugehörigkeit Jahre, die nach der Vollendung des 55. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt. Für die Zeit nach Vollendung des 55. Lebensjahres werden also weder Punkte für das Lebensalter noch für die Betriebszugehörigkeit vergeben. Dies führt, wie sich aus dem von der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht vom 28.05. 2004 zur Akte gereichten Beispiel (Bl. 130 d. A.) ergibt, dazu, dass ein Arbeitnehmer, der mit 45 Jahren in den Betrieb eintritt, nach einer Betriebszugehörigkeit von 15 Jahren bei Unterhaltspflichten für eine Ehefrau und ein Kind lediglich 87 Punkte aufweist, während ein Arbeitnehmer, der mit 40 Jahren in den Betrieb eingetreten ist, bei ansonsten identischen persönlichen Daten 97 Punkte erhält, so dass der 60-jährige Arbeitnehmer als weniger sozial schutzwürdig anzusehen ist. Demgegenüber würde der im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung 60-jährige Arbeitnehmer ohne die Deckelung der Sozialpunkte auf das 55 Lebensjahr 102 Sozialpunkte aufweisen, während der im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung 55-jährige Arbeitnehmer nach wie vor 97 Sozialpunkte hätte, also als weniger sozial schutzwürdig anzusehen wäre. Durch die Kappung der nach der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 zu vergebenden Sozialpunkte nach dem 55. Lebensjahr sinkt für ältere Arbeitnehmer also die Anzahl der zu erreichenden Sozialpunkte, so dass umgekehrt ihr Risiko steigt, im Rahmen der bei einer betriebsbedingten Kündigung zu treffenden Auswahlentscheidung gegenüber jüngeren Arbeitnehmern als weniger sozial schutzwürdig anzusehen zu sein. Letztlich steigt dadurch das Risiko älterer Arbeitnehmer, bei betrieblichen Umstrukturierungen gekündigt zu werden.

§ 75 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verbietet aber nicht jegliche unterschiedliche Behandlung von älteren und jüngeren Arbeitnehmern. Vielmehr ist eine Differenzierung aufgrund tatsächlicher und für die jeweilige Regelung erheblicher Gesichtpunkte zulässig (BAG, stRspr, vgl. nur Urteil vom 19.10. 1999, 1 AZR 838/98, AP Nr. 135 zu § 112 BetrVG 1972 <I 1 der Gründe> m. w. N.). Auch die Richtlinie 00/78/EG steht Differenzierungen nicht schlechthin entgegen. Vielmehr kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das u. a. mit dem Alter zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt (Erwägung Nr. 23 sowie Art. 4 der RL 00/78/EG). Auch ist zwischen einer Ungleichbehandlung, die insbesondere durch rechtmäßige Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der beruflichen Bildung gerechtfertigt ist und einer Diskriminierung, die zu verbieten ist, zu unterscheiden. Ungleichbehandlungen wegen des Alters können daher unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein (Erwägung Nr. 25 zur Richtlinie sowie Art. 6 und 7 der RL 00/78/EG).

Ob altersbedingte Differenzierungen in einer Betriebsvereinbarung danach sachlich gerechtfertigt sind, kann nur an einem abstraktgenerellen Maßstab gemessen werden (vgl. BAG, a.a.O.). Die Betriebspartner können bei der Erstellung einer Auswahlrichtlinie nicht jede denkbare Kombination der danach zu berücksichtigen Kriterien voraussehen. Es reicht für eine sachlich gerechtfertigte Differenzierung daher aus, wenn bei typisierender Betrachtung der Grund für die Differenzierung nicht das Alter der Arbeitnehmer schlechthin ist, sondern die Bewertung der in der Auswahlrichtlinie aufgeführten Kriterien durch rechtmäßige Ziele gerechtfertigt ist.

cc)

An diesem Maßstab gemessen, ist die Entscheidung der Betriebspartner, Lebensalter und Betriebszugehörigkeit nur bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres zu berücksichtigen, sachlich gerechtfertigt.

Die Betriebspartner durften bei der Bewertung der für die Sozialauswahl zugrunde zu legenden Kriterien berücksichtigen, dass rentennahe Jahrgänge bei Verlust des Arbeitsplatzes typischerweise wirtschaftlich erheblich besser abgesichert sind als Arbeitnehmer mittleren Lebensalters, d. h. im Alter zwischen 40 und 55. Während Arbeitnehmer mittleren Lebenalters unter den gegenwärtigen beschäftigungspolitischen Bedingungen bereits ebenso weitgehend unvermittelbar auf dem Arbeitsmarkt sind wie rentennahe Jahrgänge, befinden sie sich vielfach noch im Aufbau oder am Anfang ihrer wirtschaftlichen und familiären Existenz (vgl. BAG, AP Nr. 135 zu § 112 BetrVG 1972 <I 1 b cc der Gründe> und BAG, 18.01.1990, 2 AZR 357/89, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 -Soziale Auswahl <II 4 b dd der Gründe>). Sie haben typischerweise höhere Unterhaltspflichten, insbesondere gegenüber Kindern, zum Teil aber auch gegenüber ihren Eltern, zu erfüllen als ältere Arbeitnehmer. Sofern sie sich Immobilienbesitz geschaffen haben, ist dieser typischerweise noch nicht abgezahlt. Verlieren sie ihren Arbeitsplatz, so müssen sie nach der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage regelmäßig mit dauernder Arbeitslosigkeit rechnen. Ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld ist jedoch erheblich kürzer als der von Arbeitnehmern jenseits des 55. Lebensjahres. Nach Ablauf des Anspruches auf Arbeitslosengeld müssen sie damit rechnen, auf Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe dauerhaft angewiesen zu sein. Zudem führt eine längere Arbeitslosigkeit auch zu erheblichen Rentennachteilen.

Demgegenüber sind rentennahe Jahrgänge - jedenfalls bis zur Einführung des Arbeitslosengeldes II und des Ablaufs des für ältere Jahrgänge vorgesehenen Übergangsfristen - zum Teil wirtschaftlich abgesichert, auch wenn ihr Besitzstand nicht in vollem Umfang gewahrt ist, sondern auch sie mit Nachteilen durch den langjährigen Bezug von Arbeitslosengeld und dem anschließenden, mit Rentennachteilen verbundenen Bezug von Ruhegeld rechnen müssen. Diese wirtschaftlichen Nachteile treffen sie jedoch erheblich geringer als die Arbeitnehmer mittleren Alters. Zum einen sind diese wirtschaftlichen Nachteile absolut gesehen - wie ausgeführt - geringer als die mittlerer Jahrgänge. Zum anderen haben ältere Arbeitnehmer typischerweise geringere Unterhaltspflichten zu erfüllen (vgl. BAG, 31.07.1996, 10 AZR 45/96, AP Nr. 103 zu § 112 BetrVG 1972 <II 2 b der Gründe>). Es besteht also ein innerer Zusammenhang zwischen der Arbeitsmarktsituation und der sozialen Absicherung der älteren Arbeitnehmer auf der einen und der Benachteiligung älterer Arbeitnehmer auf der anderen Seite, der die Benachteiligung rechtfertigt (vgl. BAG, 18.11.2003, 9 AZR 122/03, DGB 2004, S. 1106 <B I 2 c bb der Gründe>).

Die Betriebspartner haben damit durch die Entscheidung, bei der Sozialauswahl nur die Zeit bis zum 55. Lebensjahr zu berücksichtigen, ein legitimes Ziel unter Berücksichtigung der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt verfolgt. Sie haben sich zudem darauf beschränkt, in die Rechte älterer Arbeitnehmer durch die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzugreifen. Die Entscheidung der Betriebspartner, Zeiten nach Vollendung des 55. Lebensjahres bei der Sozialauswahl nicht mehr zu berücksichtigen, wirkt sich nämlich nur im Verhältnis zu Arbeitnehmern mittleren Lebensalters, d. h. zwischen 40 und 55, die im Übrigen weitgehend vergleichbare Sozialdaten aufweisen, für die älteren Arbeitnehmer nachteilig aus. Jüngere Arbeitnehmer erreichen trotz der Nichtberücksichtigung von Lebensalter und Betriebszugehörigkeit jenseits des 55. Lebensjahres bei im Übrigen vergleichbaren Sozialdaten weniger Sozialpunkte als ältere Arbeitnehmer. Dies ergibt sich aus einer Gegenüberstellung der Berechnung für die Arbeitnehmer G. und W.. Beide weisen eine vergleichbare Betriebszugehörigkeit auf. Der Arbeitnehmer G. war im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung 37 Jahre, der Arbeitnehmer W. 60 Jahre alt. Beide waren einem Kind zum Unterhalt verpflichtet, der W. zusätzlich noch seiner Ehefrau. Bei Anwendung der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 standen dem Arbeitnehmer G. damit 67, dem Arbeitnehmer W. 83 Punkte zu. Auch nach der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 ist damit der Arbeitnehmer W. selbst dann noch wesentlich schutzwürdiger als der Arbeitnehmer G., wenn auch dieser einer Ehefrau zum Unterhalt verpflichtet wäre. Auch Arbeitnehmer mittleren Lebensalters sind bei Anwendung der Betriebsvereinbarung vom 01.10. 1997 weniger sozial schutzwürdig als ältere Arbeitnehmer, wenn sie nicht mindestens ebenso lang beschäftigt sind und identische Unterhaltspflichten aufweisen. Dies ergibt folgende Beispielsrechnung: Ein 60-jähriger Arbeitnehmer, der vor 25 Jahren in den Betrieb eingetreten und einer Ehefrau zum Unterhalt verpflichtet ist, erhält 55 Punkte für sein Lebensalter, 40 Punkte für 20 Jahre Betriebszugehörigkeit und 8 Punkte für die Unterhaltspflicht gegenüber der Ehefrau, insgesamt somit 105 Punkte. Ein 49-jähriger Arbeitnehmer, der 20 Jahre im Betrieb und ebenfalls einer Ehefrau zum Unterhalt verpflichtet ist, erhält 49 Punkte für das Lebensalter, 40 Punkte für die Betriebszugehörigkeit sowie 8 Punkte für die Unterhaltspflicht, insgesamt somit 97 Punkte und damit weniger als der ältere Arbeitnehmer. Erst dann, wenn auch der 49-jährige Arbeitnehmer 25 Jahre im Betrieb ist, hat er mit 107 Punkten 2 Sozialpunkte mehr als der ältere Arbeitnehmer.

Insgesamt haben die Betriebspartner in der Betriebsvereinbarung vom 01.10. 1997 eine Bewertung von Alter und Betriebszugehörigkeit vorgenommen, die dem legitimen Ziel dient, solchen älteren, rentennahen Arbeitnehmern ein verhältnismäßig größeres Kündigungsrisiko als jüngeren Arbeitnehmern zuzumuten, die bei typisierender Betrachtung wegen ihrer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung von einer Kündigung wirtschaftlich weniger hart getroffen werden. Sie haben mit ihrer Bewertung der Funktion der Sozialauswahl, bei der Festlegung der konkret von den betrieblichen Erfordernissen betroffenen Arbeitnehmer Gerechtigkeit beim Arbeitsplatzverlust zu wahren (ErfK/Ascheid, 4. Auflage, 2004, § 1 KSchG, Rz. 463), Rechnung tragen wollen. Die Betriebsvereinbarung ist zur Erreichung dieses Ziels auch geeignet, ohne unverhältnismäßig in die erworbenen Besitzstände älterer Arbeitnehmer einzugreifen. Sie verletzt daher § 75 Abs. 1 Satz 2 BetrVG auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 00/78/EG nicht (vgl. auch Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, Seite 1234 <1240>).

b)

Die Bewertung der sozialen Gesichtspunkte in der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 ist auch nicht grob fehlerhaft.

aa)

Die Gewichtung der Auswahlkriterien ist nur grob fehlerhaft, wenn die Bewertung der tragenden Gesichtspunkte der sozialen Auswahl, d. h. der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflichten, gar nicht oder völlig unausgewogen, also eindeutig unzureichend oder eindeutig überproportional, erfolgt. Nur dann ist die Sozialauswahl mit einem schweren, ins Auge springenden Fehler belastet, der nicht mehr hingenommen werden kann (vgl. BAG, 05.12.2002, 2 AZR 697/01, AP Nr. 60 zu § 1 KSchG 1969 - Soziale Auswahl <B I 3 c aa (1) der Gründe>; LAG Niedersachsen, 16.08. 2002, 10 Sa 409/02, LAGE Nr. 40 zu § 1 KSchG -Soziale Auswahl <A I 2 a der Gründe>). § 1 Abs. 4 KSchG räumt damit den Betriebspartnern einen weiten Ermessensspielraum ein (vgl. Fischermeier, NZA 1997, Seite 1089 <1096>).

bb)

Die Gewichtung der sozialen Kriterien in der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 lässt nicht jede Ausgewogenheit vermissen.

In der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 haben die Betriebspartner dem Kriterium der Betriebszugehörigkeit einen hohen Stellenwert eingeräumt. Maximal sind 80 Punkte für die Betriebszugehörigkeit und damit deutlich mehr als für das Lebensalter erreichbar. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Eintrittsalter 15 den realen Gegebenheiten im Betrieb der Beklagten nicht entspricht. So ist von den 13 in die Sozialauswahl einbezogenen Kraftfahrern der Arbeitnehmer D. mit 22 Jahren und damit als jüngster der zur Auswahl anstehenden Kraftfahrer in dem Betriebder Beklagten eingetreten. Realistisch sind somit maximal 70 Punkte für die Betriebszugehörigkeit. Eine derartige Gewichtung ist nicht völlig unausgewogen (vgl. BAG, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG - Soziale Auswahl <II 4 b cc der Gründe>). Ohnehin ist für das Gewicht eines Kriteriums im Verhältnis zu den anderen Kriterien nicht die erreichbare absolute Punktzahl, sondern die Differenz der Punktzahlen, die sich aus einem Vergleich der Arbeitnehmer für das einzelnen Kriterium ergibt, maßgeblich (vgl. BAG, 05.12.2002, 2 AZR 549/01, AP Nr. 59 zu § 1 KSchG 1969 - Soziale Auswahl <B III 5 der Gründe>). Bis zum 55. Lebensjahr erhalten alle Arbeitnehmer für ihre Betriebszugehörigkeit dieselbe Punktzahl. Eine Deckelung tritt allerdings ab dem 55. Lebensjahr ein. Die Begrenzung der Berücksichtigung sowohl des Lebensalters als auch der Betriebszugehörigkeit auf das 55. Lebensjahr ist jedoch sachlich gerechtfertigt. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen unter II. 1. a) der Gründe verwiesen (vgl.auch Schiefer/Worzalla, NZA 2004, S. 345 <352>).

Die Gewichtung der Unterhaltspflicht für die Ehefrau mit 8 Punkten ist ebenso wenig unausgewogen wie die Nichtberücksichtigung eines etwaigen Doppelverdienstes. Die Arbeitsgerichte haben bei der Überprüfung einer Betriebsvereinbarung anhand der in § 75 Abs. 1 BetrVG geregelten Grundsätze von Recht und Billigkeit als unbestimmten Rechtsbegriff auch Art. 6 GG zu beachten (vgl. BAG, 12.11.2002, 1 AZR 58/02, AP Nr. 159 zu § 112 BetrVG 1972 <III 3 b aa der Gründe>). Im Hinblick darauf, dass Art. 6 Abs. 1 GG die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, sind die Betriebspartner nicht verpflichtet, einen etwaigen Doppelverdienst der Ehefrau zu Lasten der Arbeitnehmer zu berücksichtigen (vgl. BAG, AP Nr. 59 zu § 1 KSchG 1969 - Soziale Auswahl <B III 4 der Gründe>). Im Hinblick auf diese verfassungsrechtliche Wertung ist es auch vertretbar, die Ehe mit 8 Punkten zu bewerten (vgl. BAG, a.a.O. <B III 5 der Gründe>).

An der Ausgewogenheit des von den Betriebspartnern in der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 festgelegten Punkteschemas ändert sich auch nichts dadurch, dass einer Kontrolle am Maßstab des § 1 Abs. 4 KSchG auch Punkteschemata standhielten, die das Alter und die Betriebszugehörigkeit bis zum 65. Lebensjahr berücksichtigen, die Möglichkeit des Rentenbezugs also nicht zu Lasten der Arbeitnehmer berücksichtigen (vgl. LAG Düsseldorf, 21.01.2004, 12 Sa 1188/03, juris). Im Hinblick auf den dem Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 3 KSchG und damit auch den Betriebspartnern bei Erstellen einer Auswahlrichtlinie zukommenden Wertungsspielraum ist eine Vielzahl von Punkteschemata denkbar, die jeweils einer gerichtlichen Angemessenheitskontrolle standhalten.

c)

Die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 ist auch nicht etwa deshalb unwirksam, weil sie keine zwingende, vom Arbeitgeber vorzunehmende individuelle Abschlussbewertung vorsieht. Allerdings forderte die Rechtsprechung (vgl. nur BAG, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG - Soziale Auswahl), dass Punkteschemata, die von den Betriebspartnern im Rahmen von Auswahlrichtlinien oder in einem Interessenausgleich/Sozialplan getroffen worden waren, für eine abschließende Berücksichtigung individueller Besonderheiten des Einzelfalles Raum ließen. Diese Rechtsprechung ist jedoch durch die Einfügung des 1 Abs. 4 KSchG durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz § vom 25.09.1996 (BGBl. I, Seite 1476) mit Wirkung zum 01.10.1996 obsolet. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Anwendung einer Auswahlrichtlinie im Interesse einer besseren Berechenbarkeit der Zulässigkeit einer Kündigung nicht nur eine bloße Vorauswahl darstellen, sondern Vorrang vor der Einzelfallbeurteilung haben (BT-Drs 13/4612, Seite 9). Die Auswahlrichtlinie muss daher nicht die Möglichkeit zu einer Einzelfallprüfung des Arbeitgebers vorsehen (ebenso Fischermeier, NZA 1997, Seite 1089 <1096>; APS/Kiel, 2. Auflage, 2004, § 1 KSchG, Rz. 769 n. w. N.). Der Gesetzgeber wollte gerade für alle vom Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen betroffene, d. h. für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Betriebsrat, durch die Einfügung des § 1 Abs. 4 KSchG größere Rechtssicherheit schaffen. Dieses gesetzgeberische Ziel würde konterkariert, wenn der Arbeitgeber zwingend eine Abschlussprüfung unter Berücksichtigung individueller Besonderheiten vornehmen müsste, die wieder Anlass zu Unwägbarkeiten gäbe.

d)

Bei Anwendung der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 wies der Kläger 99, der Arbeitnehmer W. dagegen lediglich 83 Sozialpunkte auf.

aa)

Für die nach der Betriebsvereinbarung zu berücksichtigenden Unterhaltspflichten ist ausschlaggebend, wie viel Personen der Arbeitnehmer W. und der Kläger im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung tatsächlich zum Unterhalt verpflichtet waren. Die Beklagte durfte sich dagegen nicht auf die in den Lohnsteuerkarten ausgewiesenen Unterhaltspflichten verlassen. Die Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 sieht eine derartige Einschränkung der berücksichtigungsfähigen Unterhaltspflichten nicht vor. Es kann daher dahinstehen, ob die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach die Betriebspartner aus Gründen der praktikabelen Durchführung eines Sozialplans befugt sind, die Zahlung eines Abfindungszuschlags für unterhaltsberechtigte Kinder davon abhängig zu machen, dass diese auf der Lohnsteuerkarteeingetragen sind (vgl. BAG, 12.03.1997, 10 AZR 648/96, AP Nr. 111 zu § 112 BetrVG 1972), auf die Ermittlung der Unterhaltsverpflichtungen im Rahmen einer Sozialauswahl übertragbar ist (ablehnend Gaul/Lunk, NZA 2004, Seite 184 <187>).

Seit dem 01.01.1990 wird die Kinderzahl nicht mehr auf der Lohnsteuerkarte eingetragen, sondern lediglich noch die Anzahl der Kinderfreibeträge (§ 39 EStG i. d. F. des Gesetzes vom 25.07.1988 <BGBl. I, Seite 1093>). Die Kinderfreibeträge stimmen jedoch nicht stets mit den tatsächlichen Unterhaltspflichten überein. So können Freibeträge auch für Kinder mit eigenem Einkommen oder für Pflegekinder eingetragen werden. Außerdem steht jedem Ehegatten der Zähler von 0,5 für jedes gemeinsame Kind zu, wobei der Freibetrag übertragbar ist. Der Zähler 1 kann also - wie im Fall des Klägers - auch den anteiligen Freibetrag für zwei Kinder bedeuten. Volljährige Kinder werden bei Arbeitslosigkeit bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, bei Berufsausbildung, Übergangszeiten, mangelndem Ausbildungsplatz und freiwilligem sozialen Jahr auch bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres auf Antrag anerkannt. Damit sind aus der Lohnsteuerkarte allein keine sicheren Rückschlüsse auf das Bestehen und den Umfang von Unterhaltspflichten für Kinder mehr möglich, zumal die Lohnsteuerkarte ohnehin nur die Verhältnisse wiederspiegelt, die zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung vorlagen und die sich im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung verändert haben können (Liese, DB 1990, Seite 2065 <2066> unter III; Küttner/Huber, Personalbuch 2004, Lohnsteuerkarte Rz. 6, 7). Der Arbeitgeber muss sich daher vor Ausspruch der Kündigung die notwendige Kenntnis über die tatsächlichen Unterhaltspflichten verschaffen (Gaul/ Lunk, NZA 2004, Seite 184 <187>).

bb)

Im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung war der Kläger neben seiner Ehefrau vier Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Zwar waren die Kinder Sven und Sebastian, die am 11.03.1982 bzw. am 09.09.1984 geboren sind, im Mai 2003 bereits volljährig. Gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB bestand jedoch auch gegenüber diesen volljährigen, unverheirateten Kindern Unterhaltspflicht, weil sie im Haushalt des Klägers lebten und sich noch in der Schulausbildung befanden. Der Arbeitnehmer W. war neben seiner Ehefrau einem Kind zum Unterhalt verpflichtet.

Nach der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 standen dem Kläger somit 99 Sozialpunkte zu, nämlich 43 für das Lebensalter, 32 für 16 Jahre Betriebszugehörigkeit, 8 Punkte für die Ehefrau und 16 Punkte für die Kinder. Dem Arbeitnehmer W. standen demgegenüber 55 Punkte für das Lebensalter, 16 Punkte für die Betriebszugehörigkeit, die lediglich bis zum 55. Lebensjahr zu berücksichtigen war, weitere 8 Punkte für die Unterhaltspflicht gegenüber der Ehefrau und schließlich 4 Punkte für die Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind, somit insgesamt 83 Punkte zu. Bei Beachtung der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 ergaben sich für die übrigen Kraftfahrer folgende Punktzahlen: G. 67 Punkte, Sp. 74 Punkte, M. 86 Punkte, S. und K. jeweils 91 Punkte.

Unter Zugrundelegung der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 waren am wenigsten schutzwürdig somit die Arbeitnehmer G., Sp., W., M. und S. oder K., wobei zwischen letzteren wegen Punktegleichheit eine Auswahl zu treffen war.

e)

Die Beklagte ist bei ihrer Auswahlentscheidung zu Lasten des Klägers von der sich nach der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 ergebenden Reihenfolge der am wenigsten schutzwürdigen und damit zu kündigenden Arbeitnehmern abgewichen. Der Arbeitgeber ist jedoch - abgesehen vom hier nicht vorliegenden Punktegleichstand zwischen zwei oder mehreren Arbeitnehmern - nur in krassen Ausnahmefällen berechtigt, von der sich unter Anwendung einer Auswahlrichtlinie ergebenden Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer abzuweichen. Solche krassen Ausnahmefälle können z. B. bei dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder einer Schwerbehinderung infolge eines Arbeitsunfalles vorliegen. Auch wenn die Betriebsvereinbarung eine solche Härtefallregelung nicht vorsieht, ist der Arbeitgeber unter Verfassungsgesichtspunkten zu einer solchen Auswahlentscheidung berechtigt (vgl. APS/Kiel, a.a.O., Rz. 769). Ein solcher Härtefall liegt vorliegend jedoch nicht vor. Die Beklagte war daher nicht berechtigt, von dem sich unter Anwendung der Betriebsvereinbarung vom 01.10.1997 ergebenden Auswahlergebnis abzuweichen, sondern bei der von ihr zu treffenden Sozialauswahl an die Richtlinie gebunden (vgl. Schiefer/Worzalla, NZA 2004, S. 345 <351>).

2.

Der Betriebsrat hat am 26.06.2003 der Kündigung des Klägers unter Ziffer 2) u. a. deshalb widersprochen, weil die Betriebszugehörigkeit bei anderen Arbeitnehmern zu hoch bewertet worden ist. Der Betriebsrat hat damit eindeutig gerügt, dass die Beklagte entgegen der Betriebsvereinbarung vom 01. 10.1997 die Betriebszugehörigkeit auch über das 55. Lebensjahr hinaus berücksichtigt hat. Er hat damit hinreichend eindeutig den Widerspruch darauf gestützt, dass die Kündigung gegen die Betriebsvereinbarung vom 01. 10.1997 als Auswahlrichtlinie gemäß § 95 BetrVG verstößt.

Die Kündigung ist daher gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 lit. a KSchG unwirksam.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 72 Abs. 2 ArbGG), bestanden nicht. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG wird hingewiesen.



Ende der Entscheidung

Zurück