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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschluss verkündet am 20.08.2008
Aktenzeichen: 15 TaBV 145/07
Rechtsgebiete: SGB IX


Vorschriften:

SGB IX § 94 Abs. 1
SGB IX § 94 Abs. 7 S. 3
Die Schwerbehindertenvertretung geht bei dem Verlust der Organfähigkeit des Betriebs unter, also bei dem Absinken der Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Menschen unter fünf, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn in dem Betrieb nunmehr insgesamt weniger als fünf Arbeitnehmer einschließlich der beschäftigten schwerbehinderten Menschen beschäftigt werden und der Betrieb auch nicht mit einem anderen Betrieb des Unternehmens zwecks Bildung einer gemeinsamen Schwerbehindertenvertretung zusammengeschlossen werden kann.
LANDESARBEITSGERICHT NIEDERSACHSEN IM NAMEN DES VOLKES BESCHLUSS

15 TaBV 145/07

In dem Beschlussverfahren

hat die 15. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen aufgrund der Anhörung am 20. August 2008 durch

den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Löber, den ehrenamtlichen Richter Herbst, den ehrenamtlichen Richter Ihlenfeld beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 30.10.2007 - 8 BV 87/07 - wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Existenz der Antragstellerin.

Der zu 2) beteiligte Arbeitgeber betreibt einen Zeitungszustellbetrieb. Bis zum 30.06.2007 war er mit der Zustellung der B. Zeitung im Raum A-Stadt betraut. Bei ihm war ein Betriebsrat und die antragstellende Schwerbehindertenvertretung gewählt, wobei der Betriebsratsvorsitzende in das Amt der Vertrauensperson gewählt worden war (Wahlbekanntmachung vom 20.04.2006, Bl. 11 d.A.).

Seit dem 01.07.2007 wird die B. Zeitung im Raum A-Stadt von einem anderen Unternehmen zugestellt. Der Arbeitgeber ist nur noch mit der Nachlieferung betraut und beschäftigt dafür noch zwei Arbeitnehmer, nämlich den früheren Betriebsratsvorsitzenden und ein weiteres früheres Betriebsratsmitglied.

Die Schwerbehindertenvertretung ist der Ansicht, dass sie weiterhin bis zum Ablauf der regulären Amtszeit am 30.11.2010 im Amt sei. Die Überlegungen zum Erlöschen des Betriebsratsamtes bei dauerhaftem Absinken der Arbeitnehmerzahl seien auf die Schwerbehindertenvertretung nicht übertragbar.

Die Antragstellerin hat beantragt,

festzustellen, dass die Antragstellerin bis zum Ablauf des 30.11.2010 im Amt ist, es sei denn, das Amt erlischt automatisch, weil die Vertrauensperson es niederlegt, sie aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet oder in Folge strafgerichtlicher Verurteilung die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, verliert.

Der Arbeitgeber hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen,

da sein Betrieb nicht mehr schwerbehindertenvertretungsfähig sei.

Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 31.10.2007 den Antrag zurückgewiesen, weil mit dem Absinken der Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmer unter die Grenze des § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX kein Bedürfnis mehr für eine institutionalisierte Interessenvertretung gegeben sei.

Wegen der näheren Begründung wird auf II. der Gründe des Beschlusses Bezug genommen, der der Antragstellerin am 19.11.2007 zugestellt worden ist und gegen den sie am 29.11.2007 Beschwerde eingelegt hat, die sie am 04.01.2008 begründet hat.

Die Antragstellerin rügt, dass das Arbeitsgericht § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX fehlerhaft ausgelegt habe. Sie meint, dass § 94 Abs. 7 Satz 3 SGB IX die vorzeitigen Erlöschensgründe abschließend aufführe. Das Absinken der Zahl der schwerbehinderten Arbeitnehmer unter die Grenze des § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sei gerade nicht aufgeführt. Sinn und Zweck der Interessenvertretung entfalle bei einem Absinken der Zahl der schwerbehinderten Arbeitnehmer nicht. Es sei zum Beispiel weiterhin darüber zu wachen, ob der Arbeitgeber seiner Prüfpflicht nachkomme, freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Es sei auch kein Grund ersichtlich, warum die Antrags- und Unterrichtungsrechte entfallen sollten. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Beschwerdebegründungsschrift vom 04.01.2008 Bezug genommen.

Die Antragstellerin beantragt - nach gerichtlichem Hinweis in der mündlichen Anhörung vom 20.08.2008 - nunmehr noch,

in Abänderung des angefochtenen Beschlusses festzustellen, dass sie weiterhin im Amt ist.

Der Arbeitgeber beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Auf seine Beschwerdeerwiderung vom 29.01.2008 wird Bezug genommen.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Die Beschwerde ist statthaft (§ 87 Abs. 1 ArbGG) und form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2, 89 Abs. 1 ArbGG, §§ 64 Abs. 6 Satz 1, 66 Abs. 1 Sätze 1 und 2 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 3 ZPO).

Der Zulässigkeit steht nicht die Frage der Prozessfähigkeit der Antragstellerin entgegen. Die Prozessfähigkeit der Antragstellerin ist zu fingieren. Streiten nämlich die Beteiligten über die Existenz oder die Parteifähigkeit eines Verfahrensbeteiligten, so ist die Existenz beziehungsweise die Parteifähigkeit als Prozessvoraussetzung zu fingieren (BAG, Urteil vom 24.06.2004 - 2 AZR 215/03, AP Nr. 278 zu § 613 a BGB).

2. Die Beschwerde ist unbegründet.

Im Betrieb des Arbeitgebers existiert keine Schwerbehindertenvertretung mehr, weil er nicht mehr schwerbehindertenvertretungsfähig ist.

Ebenso wenig wie für die Betriebsverfassung ist für die Schwerbehindertenverfassung geregelt, welche Folge das Absinken der Zahl der von den jeweiligen Organen repräsentierten Beschäftigten unter die Grenzen der Organfähigkeit des Betriebs hat. Für die Betriebsverfassung ist jedoch seit jeher anerkannt, dass der Betriebsrat bei dem Absinken der Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer unter die Grenze des § 1 Abs. 1 BetrVG als Organ erlischt (Fitting u.a., BetrVG, 24. Auflage, § 21, Rdnr. 31; Richardi/Thüsing, BetrVG, 11. Auflage, § 21, Rdnr. 23; GK-Kreutz, BetrVG, 8. Auflage, § 21, Rdnr. 37). Da der Gesetzgeber die Organfähigkeit an eine bestimmte Betriebsgröße geknüpft hat, entfällt die Organfähigkeit des Betriebs mit dem dauerhaften Absinken der Arbeitnehmerzahl unter die vom Gesetz für erforderlich gehaltene Größe.

Auch die Organfähigkeit des Betriebs für die Schwerbehindertenvertretung ist von Gesetzes wegen in § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX an eine bestimmte Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Menschen geknüpft, so dass dieselben Gründen dafür streiten, dass das Absinken der Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Menschen unter die in § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX genannte Zahl von fünf zu einem Verlust der Organfähigkeit führt; der Raum, wie das Arbeitsgericht ausgeführt hat, für eine institutionalisierte Interessenvertretung der beschäftigten schwerbehinderten Menschen also nicht mehr gegeben ist.

Dem steht nicht entgegen, dass § 94 Abs. 7 Satz 3 SGB IX ausdrücklich nur drei Tatbestände des Verlusts des Amts der Vertrauensperson regelt, denn dort ist nur der Amtsverlust des Inhabers des Wahlamtes geregelt, nicht aber der Untergang des Organs. Dieses ist für die Schwerbehindertenvertretung in den §§ 93 ff. SGB IX ebenso wenig geregelt, wie für den Betriebsrat im Betriebsverfassungsgesetz. Gleichwohl ist der Untergang des betrieblichen Organs selbstverständlich, wenn zum Beispiel der Betrieb durch Stilllegung untergeht (Masuch in Hauck/Noftz, SGB IX, § 94, Rdnr. 39; GK-Schimanski, SGB IX, § 94, Rdnr. 162). § 94 Abs. 7 Satz 3 SGB IX streitet also nicht gegen den Untergang der Schwerbehindertenvertretung bei dem Verlust der Organfähigkeit des Betriebs.

Dass die kollektivrechtlichen Beteiligungsrechte auch bei einem Absinken der Beschäftigtenzahl unter die Grenzen der Organfähigkeit des Betriebs weiterhin sinnvoll ausgeübt werden könnten, unterscheidet die Betriebsverfassung und die Schwerbehindertenverfassung nicht, streitet also nicht für eine andere Bewertung des Absinkens der Beschäftigtenzahl unter die Grenzen der Organfähigkeit des Betriebs für die Wahl des Betriebsrats und für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung.

Einzig die Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung zum Zwecke der Einstellung schwerbehinderter Menschen (§§ 71, 81 Abs. 1, 95 Abs. 1 SGB IX) könnten dafür ins Feld geführt werden, dass die Schwerbehindertenvertretung trotz Absinkens der Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Menschen unter die Zahl von fünf weiterhin bis zur regelmäßigen Neuwahl im Amt bleibt. Diese in der Kommentarenliteratur (Palen in Neumann u.a., SGB IX, 11. Auflage, § 94, Rdnr. 43; Knittel, SGB IX, § 94, Rdnr. 176) ohne nähere Begründung vertretene Auffassung erscheint jedoch nur insoweit gerechtfertigt, als in Betrieben mit einer Beschäftigungszahl von mehr als vier Arbeitnehmern bei einem Absinken der Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen unter die Zahl von fünf nicht ohne weiteres dauerhaft von einem Absinken der Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Menschen unter fünf ausgegangen werden kann, weil der Arbeitgeber zum Beispiel bei Ersatzeinstellungen im Rahmen der §§ 71, 81 Abs. 1 SGB IX gehalten ist, wieder schwerbehinderte Menschen einzustellen.

Ist jedoch, wie vorliegend, die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer bereits selbst unter die Zahl von fünf gesunken, ist auch die Zahl der regelmäßig beschäftigten schwerbehinderten Menschen auf Dauer unter die in § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX normierte Zahl gesunken, so dass Ersatzeinstellungen von schwerbehinderten Menschen nicht mehr zu einer Organfähigkeit des Betriebs gemäß § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB IX führen können.

Selbst wenn im Hinblick auf die Möglichkeit, dass gemäß § 94 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB IX nichtorganfähige Betriebe mit anderen Betrieben eines Unternehmens zum Zweck der Bildung einer gemeinsamen Schwerbehindertenvertretung zusammengeschlossen werden können, angenommen würde, dass die Schwerbehindertenvertretung eines Betriebs, dessen regelmäßige Beschäftigtenzahl einschließlich der beschäftigten schwerbehinderten Menschen unter fünf gesunken ist, solange im Amt bliebe, bis eine gemeinsame Schwerbehindertenvertretung gebildet wäre, führte das vorliegend nicht dazu, dass die Antragstellerin weiter im Amt wäre, weil die Bildung einer gemeinsamen Schwerbehindertenvertretung deshalb ausscheidet, weil der zu 2) beteiligte Arbeitgeber nur den einen Betrieb betreibt.

Nach allem unterliegt die Beschwerde der Zurückweisung.

Die Zulassung der Rechtsbeschwerde beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 2 ArbGG i.V.m. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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