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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschluss verkündet am 05.03.2004
Aktenzeichen: 16 TaBV 45/03
Rechtsgebiete: BetrVG


Vorschriften:

BetrVG § 95 Abs. 1 Satz 1
Die vom Arbeitgeber für konkret anzusprechende betriebsbedingte Kündigung aufgestellten Punktesysteme für die zu treffende Sozialauswahl stellen keine Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG dar.
Landesarbeitsgericht Niedersachsen IM NAMEN DES VOLKES BESCHLUSS

16 TaBV 45/03

Verkündet am: 5. März 2004

In dem Beschlussverfahren

hat die 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen aufgrund der Anhörung am 5. März 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Hannes und die ehrenamtlichen Richter Meierhoff und Klusmann

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 02.05.2003, Az. 13 BV 21/02, wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe:

I.

Der Betriebsrat verlangt im vorliegenden Verfahren die Untersagung, ohne seine Zustimmung bzw. Ersetzung seiner Zustimmung durch Entscheidung der Einigungsstelle bei Kündigungen. Systeme, nach den die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird, anzuwenden.

Der Antragsteller ist der im Betrieb der Antragsgegnerin gebildete Betriebsrat. Bei der Arbeitgeberin werden ca. 200 Arbeitnehmer vorwiegend im Verkaufsbereich beschäftigt. Die Arbeitgeberin informierte den Betriebsrat am 21. November 2002 darüber, dass sie einen Personalabbau in einem Volumen von 14,44 Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter vornehmen wolle. Sie legte in diesem Zusammenhang die Personalplanung für H. 2003 vor. Mit vorgelegt wurden Mitarbeiterlisten verschiedener Bereiche, wobei entsprechend einem vorab vorgenommenen Punkteschema Punkte für das Alter, die Beschäftigungsjahre, Schwerbehinderteneigenschaft, Familienstand und Kinder gegeben wurde. Jeder Arbeitnehmerin/jedem Arbeitnehmer war insoweit ein Punktestand zugewiesen. Hiernach wollte die Arbeitgeberin die Sozialauswahl im Rahmen der betriebsbedingten Kündigungen durchführen. Wegen des Inhalts der Personalplanung sowie der Mitarbeiterlisten wird auf diese (Bl. 4 bis 6 d. A.) verwiesen.

Die Arbeitgeberin sprach zum ersten Mal betriebsbedingte Kündigungen aus. Sie überreichte dem Betriebsrat darüber hinaus eine 27seitige Ausarbeitung bezüglich der Notwendigkeit der Betriebsbedingtheit der Kündigungen (Bl. 23 bis 49 d. A.).

Der Betriebsrat wurde seitens der Arbeitgeberin bezüglich der ordentlichen Kündigungen angehört. Dabei bediente sich die Arbeitgeberin bezüglich der Sozialauswahl des entwickelten Punktesystems (vgl. Bl. 52 bis 54 d. A.).

Die Arbeitgeberin sprach daraufhin Kündigungen aus. Sämtliche Kündigungsschutzverfahren sind zwischenzeitlich abgeschlossen.

Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, dass das von ihr ausgewählte Punktesystem eine Auswahlrichtlinie gemäß § 95 BetrVG sei, die nicht ohne seine Zustimmung angewandt werden könne.

Auswahlrichtlinien reduzierten sich nicht auf die Übernahme eines abstrakten Punkteschemas. Auswahlrichtlinien seien viel mehr dann inhaltlich gut, wenn sie die konkret bevorstehende personalplanerische Maßnahme betrachteten und konkrete situationsbezogene Kriterien entwickelten, die dann natürlich auch Geltung haben müssten für weitere personelle Veränderungen wie Kündigungen oder Versetzungen. Wenn die Arbeitgeberin einen generellen Katalog zusammenstelle, nach welchen Kriterien die Mitarbeiter im Rahmen der Sozialauswahl ermittelt werden, die gekündigt werden sollen, stelle dies eine Auswahlrichtlinie dar.

Der Betriebsrat hat beantragt,

der Arbeitgeberin zu untersagen, ohne Zustimmung des Betriebsrates bzw. Ersetzung der Zustimmung durch Entscheidung der Einigungsstelle bei Kündigungen Punktesysteme, nach denen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird, anzuwenden.

Die Arbeitgeberin hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass es sich bei der Verwendung des Punkteschemas um keine Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 BetrVG gehandelt habe. Dieses Punkteschema sei für einen konkreten Anlass, nämlich die auszusprechenden Kündigungen erstellt worden. Ein Punkteschema aus Anlass von betriebsbedingten Kündigungen stelle aber keine Auswahlrichtlinien dar, weil die Arbeitgeberin damit nur ihrer Verpflichtung zur Sozialauswahl nachkomme.

Durch Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 2. Mai 2003 wurde der Antrag des Betriebsrates zurückgewiesen.

Wegen des Inhaltes dieses Beschlusses wird auf diesen (Bl. 104 bis 106 R. d. A.) verwiesen.

Dieser Beschluss wurde dem Betriebsrat am 17. Juni 2003 zugestellt. Hiergegen legte er am 16. Juni 2003 Beschwerde ein und begründete diese gleichzeitig.

Zur Begründung der Beschwerde trägt der Betriebsrat vor, es sei für die Definition von Auswahlrichtlinien nicht erforderlich, dass sich diese auch auf alle zukünftigen Kündigungen beziehen würden. Das Gesetz differenziere nicht danach, ob eine Auswahlrichtlinie nur im Einzelfall angewandt werde oder auf Dauer angelegt sei. Bei einer mitbestimmten Auswahlrichtlinie handele es sich um eine Betriebsvereinbarung, die unter Einhaltung der Kündigungsfristen gemäß § 77 BetrVG gekündigt werden könne, also auch nicht für alle zukünftigen Kündigungen gelten müsse.

Mit der Auswahlrichtlinie würden auch lediglich die Kriterien festgelegt, nach denen die Sozialauswahl durchzuführen sei wie auch ihre Gewichtung. Mit der Auswahlrichtlinie werde nicht die konkrete Sozialauswahl betroffen.

Die Arbeitgeberin verbessere auch ihre Situation im Kündigungsschutzverfahren, wenn sie Auswahlrichtlinien nutze. Sie sei nicht auf die auf den Einzelfall bezogene Darlegung der Anwendung der Auswahlkriterien beschränkt. Wenn die Arbeitgeberin jedoch diesen Vorteil nutzen wolle, müsse sie zuvor die Zustimmung des Betriebsrates einholen.

Der Betriebsrat beantragt,

unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichtes Hannover vom 02.05.2003, Az. 13 BV 21/02,

1.

der Arbeitgeberin zu untersagen, ohne Zustimmung des Betriebsrates bzw. Ersetzung der Zustimmung durch Entscheidung der Einigungsstelle bei Kündigungen Punktesysteme, nach denen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird, anzuwenden,

2.

hilfsweise festzustellen, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei der Anwendung eines Punktesystems, nachdem die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird, bei betriebsbedingten Kündigungen besteht.

Die Arbeitgeberin beantragt,

die Beschwerde des Betriebsrates zurückzuweisen.

Sie verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 18. August 2003. Hierauf wird verwiesen (Bl. 114/115 d. A.).

Sie trägt im Übrigen vor, dass dem Begehren des Antragstellers schon das Rechtsschutzinteresse fehle. Die Arbeitgeberin habe mehrfach ausdrücklich erklärt, dass das streitgegenständliche Punkteschema für die Zukunft nicht gelten solle und nicht mehr verwendet werde. Darüber hinaus seien sämtliche Kündigungsschutzverfahren erledigt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Das von der Arbeitgeberin verwendete Punkteschema stellt keine Auswahlrichtlinien im Sinne von § 95 Abs. 1 S. 1 BetrVG dar. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates besteht deshalb nicht. Aus diesem Grunde hat der Betriebsrat keinen Unterlassungsanspruch.

Nach Auffassung der Kammer besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für den Hauptantrag des Beschlussverfahrens.

Der Betriebsrat reklamiert ein Mitbestimmungsrecht bei der Verwendung von Punktesystemen, nach denen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird. Die Arbeitgeberin bestreitet ein solches Mitbestimmungsrecht, so dass tatsächlich ein Streit zwischen den Beteiligten über künftige Verfahrensweisen im Betrieb der Arbeitgeberin besteht. Die Arbeitgeberin hat insoweit lediglich erklärt, dass das streitgegenständliche Punkteschema für die Zukunft nicht gelten solle und nicht mehr verwendet werde. Sie hat jedoch nicht erklärt, dass bei künftigen betriebsbedingten Kündigungen ein vergleichbares Punkteschemas nicht mehr verwandt werden wird.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch in absehbarer Zeit erneut betriebsbedingte Kündigungen seitens der Arbeitgeberin ausgesprochen werden und sie sich insoweit vorbehält, auch insoweit Punkteschemata zu verwenden, wenn auch möglicherweise mit anderem Inhalt, so besteht Streit zwischen den Beteiligten genereller Art über die Beteiligungsrechte des Betriebsrates.

Der Betriebsrat hat deshalb das Recht, für die von ihm konkret genannten Fälle ein Verfahren einzuleiten und sein Mitbestimmungsrecht zu sichern, auch im Wege eines Unterlassungsanspruches.

Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Auswahlrichtlinien sind Grundsätze, die zu berücksichtigen sind, wenn bei beabsichtigten personellen Einzelmaßnahmen, für die mehrere Arbeitnehmer oder Bewerber in Frage kommen, zu entscheiden ist, welchem gegenüber sie vorgenommen werden sollen. Sinn und Zweck von Auswahlrichtlinien ist es festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die betreffenden personellen Einzelmaßnahmen erfolgen sollen, um die jeweilige Personalentscheidung zu versachlichen und für die Betroffenen durchschaubar zu machen. Der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er und nicht ein anderer von einer ihn belastenden Personalmaßnahme betroffen wird oder warum eine günstige Maßnahme nicht ihn, sondern einen anderen trifft. Die Auswahl selbst ist dabei Sache des Arbeitgebers. Die Richtlinien sollen lediglich seinen Ermessenspielraum durch die Aufstellung von Entscheidungskriterien einschränken, ohne dass sie ihn praktisch gänzlich beseitigen dürfen (so Beschl. des BAG v. 31.05.1983, Az. 1 ABR 6/80 in NZA 1984, 49 bis 51, BAG, Beschl. v. 10.12.2002, Az. 1 ABR 27/01 in AP Nr. 42 zu § 95 BetrVG 1972).

Aus dieser Definition des Bundesarbeitsgerichtes ist nicht eindeutig ersichtlich, inwieweit Auswahlrichtlinien nur dann gegeben sind, wenn sie nicht nur für einen betrieblichen Anlass, sondern für alle zukünftigen Fälle gelten sollen (so Beschl. des LAG Nds. v. 18.10.1994, Az. 11 TaBV 90/94 in LAGE § 95 Nr. 15).

Zur Überzeugung der Kammer müssen sich Auswahlrichtlinien jedoch nicht nur auf konkret auszusprechende Kündigungen beziehen, haben vielmehr Normencharakter und bestimmen insbesondere für eine Vielzahl von Fällen genereller Art, inwieweit Anforderungen fachlicher, persönlicher oder sonstiger Art allein oder neben sonstigen Umständen bei der Entscheidung über eine personelle Einzelmaßnahme, auch bei Kündigungen, zu berücksichtigen sind. Auswahlrichtlinien werden deshalb im Rahmen einer Betriebsvereinbarung fixiert und gelten deshalb bis zu einer Kündigung, einverständlicher Aufhebung oder Ersetzung durch die Betriebsparteien generell in Betrieb (so Beschl. d. BAG v. 31.01.1984, Az. 1 ABR 63/81 in NZA 1984, 51 bis 52).

Dieser Normcharakter ergibt sich aus dem Begriff der Richtlinie. Eine Richtlinie ist allgemein ein Grundsatz oder eine Anweisung für ein bestimmtes Verhalten. Sie stellt grundlegende Gestaltungsentscheidungen dar und ist deshalb darauf ausgerichtet, auch für die Zukunft zu wirken.

Aus diesem Grunde sind unter Auswahlrichtlinien abstrakt generelle Grundsätze zu verstehen, die der Arbeitgeber einer unbestimmten Zahl zukünftiger personeller Einzelmaßnahmen im Sinne einer einheitlichen Praxis zu Grunde legen will. Hierzu gehören die materiellen Merkmale der Personalauswahl und des Verfahrens, nach dem diese Auswahlkriterien festzustellen sind (vgl. hierzu Hess.VerwG, Az. 1 TZ 2186/97, Beschl. v. 12.08.1997 in DÖD 1998, 163 bis 165 u. Beschl. v. 22.09.1994, Az. TK 1846/93 in ArbuR 1995, 197, zitiert nach Juris).

Bei der Festlegung einer Punktetabelle zur Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer handelt es sich demgegenüber um eine mitbestimmungsfreie Regelungsbefugnis der Arbeitgeberin. Diese Punktetabelle soll dazu dienen, für die einzelnen Bereiche auszuweisen, welche Sozialdaten und zu welchem Verhältnis zueinander Arbeitnehmer zugeteilt bekommen, um bestimmte Kündigungen auszusprechen. Damit handelt es sich nur um die Festlegung der Kriterien der Sozialauswahl für konkret vorliegende Kündigungen und nicht um generelle für alle künftigen Kündigungen maßgebliche Kriterien für die Sozialauswahl. Die Arbeitgeberin ist deshalb berechtigt, vorab zur eigenen Bestimmung der durchzuführenden Sozialauswahl Kriterien zu entwickeln, die aus ihrer Sicht für die konkret auszusprechenden Kündigungen zutreffend sind. Dass es sich insoweit auch nur um eine Einzelfallentscheidung handelt, wird bestätigt dadurch, dass das Gewicht der verschiedenen Sozialdaten nicht unveränderlich feststeht, sondern zukünftig auch abhängen kann von der arbeitsmarktpolitischen, wirtschaftlichen oder sozialpolitischen Entwicklung (vgl. BAG v. 24.03.1983, Az. 2 AZR 21/82 in AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 betriebsbedingte Kündigung).

Nach alledem ist die Beschwerde des Betriebsrates zurückzuweisen.

Aus denselben Gründen steht dem Betriebsrat auch nicht die Feststellung zu, dass ein Mitbestimmungsrecht besteht. Auf das oben Gesagte kann verwiesen werden (vgl. insgesamt hierzu Däubler/Klebe, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 8. Aufl., § 95 Rn. 4 sowie Hess/Schlochauer, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 5. Aufl., § 95 Rn. 4 u. 9).

Ende der Entscheidung

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