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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 20.08.2004
Aktenzeichen: 9 Sa 923/03
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 626
Nicht jede vorsätzlich oder fahrlässig begangene Körperverletzung zum Nachteil einer zu betreuenden Person führt bei bisher mehrjähriger beanstandungsfreier Tätigkeit einer Pflegekraft zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist; vielmehr ist eine Handlung im Affekt schuldmindernd zu berücksichtigen.
LANDESARBEITSGERICHT NÜRNBERG IM NAMEN DES VOLKES TEILURTEIL

9 Sa 923/03

in dem Rechtsstreit

wegen Feststellung

Die 9. Kammer des Landesarbeitsgerichts Nürnberg hat durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Roth und die ehrenamtlichen Richter Ziebarth und Reimer und aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 004

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Bamberg - Kammer Coburg - vom 17.09.2003, Az.: 5 Ca 124/03 C, abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24.01.2003 nicht zum 31.01.2003 aufgelöst worden ist

3. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der außerordentlichen Arbeitgeberkündigung vom 24.01.2003 und Vergütungsansprüche der Klägerin ab Februar 2003.

Die am 11.10.1947 geborene Klägerin ist bei der Beklagten auf der Grundlage des schriftlichen Dienstvertrages vom 14.04.1992 (Kopie Bl. 3, 4 d.A.) ab dem 01.04.1992 als Altenpflegerin beschäftigt und im C... der Beklagten in D... eingesetzt, in dem regelmäßig mehr als fünf Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden tätig sind. Bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden beläuft sich das aktuelle Monatseinkommen der Klägerin auf EUR 2.521,31 brutto.

Im Betrieb der Beklagten existiert eine Mitarbeitervertretung.

In ihrer Nachtschicht vom 20. auf den 21.01.2003 musste die Klägerin einen von ihr zu betreuenden 14 Jahre alten schwerbehinderten Jugendlichen auf die Toilette bringen. Hierbei zwickte sie den Jugendlichen, der aufgrund seiner schweren körperlichen Behinderung die Blasentätigkeit nicht voll unter Kontrolle hat, in dessen Glied, so dass er ein Hämatom davontrug. Die Klägerin meldete dies ihrer Vorgesetzten am Folgetag. Daraufhin wurde am 23.01.2003 die Mitarbeitervertretung über die Absicht der Beklagten, der Klägerin außerordentlich zu kündigen, informiert. Diese teilte der Beklagten am 24.01.2003 mit, gegen die beabsichtigte außerordentliche Kündigung keine Einwendungen zu erheben.

Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 24.01.2003 (Kopie Bl. 5 d.A.), der Klägerin zugeleitet am 25.01.2003, das Arbeitsverhältnis außerordentlich zum 31.01.2003.

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit seinem am Folgetag beim Arbeitsgericht Bamberg - Kammer Coburg - eingegangenen Schriftsatz vom 27.01.2003, Kündigungsschutzklage erhoben und diese Klage jeweils schriftsätzlich um die in der Folgezeit fällig gewordenen Vergütungsansprüche ab Februar 2003 erweitert.

Wegen der Anträge der Parteien und ihres näheren Vorbringens im erstinstanzlichen Verfahren wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Bamberg - Kammer Coburg - hat mit Urteil vom 17.09.2003 die Klage abgewiesen.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 26.11.2003 zugestellte Urteil hat dieser mit Schriftsatz vom 13.12.2003, der beim Landearbeitsgericht Nürnberg am 16.12.2003 eingegangen ist, Berufung eingelegt und sie mit weiterem Schriftsatz vom 14.01.2004, beim Landesarbeitsgericht Nürnberg eingegangen am 19.01.2004, begründet. In der Berufungsbegründung und in dem weiteren Schriftsatz vom 08.06.2004 wird die Zahlungsklage der Klägerin jeweils erweitert.

Die Klägerin und Berufungsklägerin behauptet, die Kündigung der Beklagten vom 24.01.2003 habe als außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht rechtswirksam zum 31.01.2003 beendet, denn bei angemessener Abwägung der gesamten Umstände des Einzelfalles sei es der Beklagten nicht unzumutbar, das Arbeitsverhältnis über diesen Termin hinaus fortzusetzen. Zu ihren Gunsten sprechende Umstände seien vom Erstgericht nicht ausreichend gewürdigt worden. Die betreffende Nachtschicht habe sie alleine verrichten müssen und da sie alleine gewesen sei, habe sie keine Pause machen können. Bei dem Toilettenbesuch mit dem schwerbehinderten Jugendlichen habe sie dieser vor dem Wechsel der Windel anuriniert, so dass ihre Hose nass geworden sei. Als Augenblicksreaktion hierauf habe sie dessen Glied gefasst und zugedrückt, um weiteres anurinieren zu unterbinden. Hierbei habe sie aufgrund der momentanen Stresssituation zu fest zugedrückt und dadurch das Hämatom verursacht. Da sie in der Vergangenheit stets beanstandungsfrei gearbeitet habe, wäre ihre einmalige Affekthandlung allenfalls geeignet, eine Abmahnung zu rechtfertigen. Eine solche Konsequenz sei ihr nach der sofortigen Information der Vorgesetzten von dem Vorfall von dieser auch in Aussicht gestellt worden. Aufgrund ihrer bisherigen beanstandungsfreien Tätigkeit sei die Vermutung nicht gerechtfertigt, sie werde weiterhin gleichgelagerte Taten begehen. Im Übrigen sei auch die Mitarbeitervertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Wegen des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses über dem 31.01.2003 hinaus sei die Beklagte verpflichtet, die vertraglich geschuldete Vergütung weiterhin zu leisten.

Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Bamberg - Kammer Coburg - vom 25.07.03, Az: 5 Ca 124/03 C wird abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 24.01.03 zum 31.01.03 nicht beendet worden ist.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 45.383,58 brutto zu bezahlen.

4. Die Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und im Übrigen die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt sie vor, die von der Klägerin begangene Körperverletzung zu Lasten eines schutzbefohlenen schwerbehinderten Jugendlichen rechtfertige den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung. Die Straftat müsse als schwerwiegend klassifiziert werden, da der Jugendliche aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage gewesen sei, sich gegen den Angriff der Klägerin zur Wehr zu setzen, und ihm auch erhebliche Schmerzen zugefügt worden seien. Die latente Wiederholungsgefahr mache es ihr unzumutbar, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fortzuführen. In der Nachtschicht vom 20. auf den 21.01.2003 sei die Klägerin keinen extremen Ausnahme- oder Stresssituationen ausgesetzt gewesen. Aufgrund ihrer mehrjährigern Tätigkeit habe die Klägerin auch die besonderen Probleme beim Toilettengang mit dem behinderten Jugendlichen E... gekannt und hätte die behauptete Verunreinigung ihrer Kleidung durch geeignete Vorkehrungen vermeiden können. Sie könne im Interesse der Schutzbefohlenen nicht hinnehmen, dass diese vom Pflegepersonal misshandelt würden. Ein derartiges Verhalten schädige ihren guten Ruf und richte sich gegen ihre christliche Grundausrichtung. Die Beteiligung der Mitarbeitervertretung sei aufgrund der damals geltenden Regelungen der MAVO ordnungsgemäß erfolgt. Wegen der wirksamen Beendigung des Vertragsverhältnisses zum 31.03.2003 stehe der Klägerin für die Folgezeit kein Vergütungsanspruch mehr zu.

Hinsichtlich der näheren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Von einer weitergehenden Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung ist zulässig.

Sie ist statthaft, § 64 Abs. 1, 2c ArbGG und auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO.

In zulässiger Weise hat die Klagepartei im Berufungsverfahren die Zahlungsklage um weitere Bruttomonatsbezüge erweitert, denn die Beklagte hat durch ihre rügelose Einlassung und die entsprechende Antragsstellung hierzu konkludent eingewilligt, §§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 263, 267 ZPO (vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 4. Aufl., § 67 Rz. 9).

II.

Die Berufung ist zumindest teilweise sachlich begründet.

Die Kündigung der Beklagten vom 24.01.2003 hat das Arbeitsverhältnis nicht rechtswirksam zum 31.01.2003 beendet, denn der Beklagten ist nicht unzumutbar das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen, vgl. § 626 Abs. 1 BGB.

1. Hierüber ist gesondert durch Teilurteil zu entscheiden, vgl. § 301 Abs. 1 Satz 1 ZPO, denn zur Problematik einer eventuellen Umdeutung der Kündigung in eine ordentliche Kündigung gemäß § 140 BGB, die diesbezügliche Beteiligung der Mitarbeitervertretung und die konkrete Berechnung des Annahmeverzugslohnes unter Berücksichtigung eventueller Leistungen Dritter ist den Parteien noch Gelegenheit zur weiteren Stellungnahme einzuräumen.

2. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann der Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer ihm auch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitnehmer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Kündigungsgrund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB ist der Sachverhalt, der objektiv das Arbeitsverhältnis mit dem Gewicht eines wichtigen Grundes belastet. Dies können Störungen im Leistungsbereich sein, insbesondere die Verletzung der Arbeitspflicht durch den Arbeitnehmer, oder auch die Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten. Eine außerordentliche Kündigung kann nur auf solche Gründe gestützt werden, die sich konkret nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirken. Da es um den künftigen Bestand des Arbeitsverhältnisses geht, muss dessen Fortsetzung durch objektive Umstände oder die Einstellung oder das Verhalten des Gekündigten im Leistungsbereich, im Bereich der betrieblichen Verbundenheiten aller Mitarbeiter, im persönlichen Vertrauensbereich der Vertragspartner oder im Unternehmensbereich beeinträchtigt seien (vgl. hierzu KR-Fischermeier, 7. Aufl., § 626 BGB Rz. 105, 166, jeweils m.w.N.).

Als wichtiger Grund für den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers kommt eine schwere Vertragsverletzung oder strafbare Handlung des Arbeitnehmers in Betracht.

Bei der Verletzung der körperlichen Integrität eines schutzbefohlenen behinderten Jugendlichen durch eine Pflegekraft handelt es sich um eine schwerwiegende Vertragsverletzung, die geeignet ist, einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben, unabhängig davon, ob es sich gleichzeitig um eine vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung im Sinne des Strafgesetzbuches handelt.

Ob bereits eine einmalige Handlungsweise der Vertragsverletzung das erforderliche besondere Gewicht zu geben vermag oder dieses der Handlungsweise erst nach wiederholter Begehung nach einer eventuell erforderlichen Abmahnung zukommt, kann hier dahingestellt bleiben. Insoweit braucht nicht abschließend geprüft zu werden, ob der Sachvortrag der diesbezüglich darlegungspflichtigen Arbeitgeberin ausreicht, um von einer vorsätzlichen schweren Vertragsverletzung/Straftat auszugehen.

Der Griff nach dem Glied eines schutzbefohlenen behinderten Jugendlichen um durch ein kurzzeitiges maßvolles Abdrücken der Harnröhre einen weiteren Urinaustritt kurzzeitig zu unterbrechen, wäre alleine noch kein so schwerwiegende Vertragsverletzung. Dadurch würde die körperliche Unversehrtheit nur geringfügig beeinträchtigt und würden weder organische Veränderungen auch nur für eine gewisse Zeit (Hautrötung, Hämatom o.ä.) oder merkbare Schmerzen verursacht.

Ob die Klägerin im konkreten Fall beabsichtigte, oder zumindest billigend in Kauf nahm, den Zugriff so fest vorzunehmen, dass dadurch Blutgefäße verletzt, Hautveränderungen hervorgerufen und dem behinderten Jugendlichen erhebliche Schmerzen zugefügt werden, braucht an dieser Stelle nicht geprüft und bejaht zu werden.

3. Ist ein bestimmter Sachverhalt an sich geeignet, einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben, bedarf es weiterhin der Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile dem Kündigenden noch zumutbar ist oder nicht. Wirksam ist die Kündigung nur dann, wenn das Interesse des Kündigenden an der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Gekündigten an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überwiegt (vgl. KR-Fischermeier, a.a.O., Rz. 235 ff).

Unter Berücksichtigung des gesamten Sachverhaltes ist der Klägerin kein derart massiver Vorwurf einer schwerwiegenden Vertragsverletzung oder begangenen Straftat zu machen, der es der Beklagten unter Abwägung der Interesse beider Vertragsteile unzumutbar gemacht hätte, das Arbeitsverhältnis wenigstens bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen.

Nach § 14 Abs. 2 der hier einzelvertraglich in Bezug genommenen Richtlinien für Arbeitsverträge in Einrichtungen des deutschen Caritasverbandes (AVR) beträgt die Kündigungsfrist aufgrund der Beschäftigungsdauer der Klägerin fünf Monate zum Quartalsende. Das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin bis zum 30.06.2003 fortzusetzen, wäre aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles für die Beklagte zumutbar.

Der Beklagten ist zuzugeben, dass jegliche Misshandlung und Körperverletzung eines schutzbefohlenen behinderten Pfleglings tunlichst zu unterbinden ist. Insbesondere dann, wenn es sich um einen derart behinderten Menschen handelt, dass dieser sich gegen den Angriff nicht zur Wehr setzen und sich diesbezüglich nicht artikulieren kann. Dies gebietet die Fürsorge für die in Obhut gegebenen Pflegepersonen, die christlich religiöse Grundausrichtung der Beklagten und ihr Ansehen bei den Familienangehörigen und in der Öffentlichkeit. Insoweit wiegt auch besonders schwer, dass die Eltern des betroffenen Jugendlichen, nachdem sie von dem Vorfall Kenntnis erlangt hatten, diesbezüglich Strafanzeige erstattet haben.

Zugunsten der Klägerin ist ihr relativ hohes Alter zu werten, das ihre Lage auf dem Arbeitsmarkt erschwert sowie ihre mehr als zehnjährige Betriebszugehörigkeit, die eine erhöhte Rücksichtnahme der Arbeitgeberin gebietet. Vor allem auch der bisherige beanstandungsfreie Verlauf des Arbeitsverhältnisses, der darauf schließen lässt, dass die aufgrund ihres Alters lebenserfahrene Klägerin ihre Aufgaben im Interesse der zu pflegenden Personen zu meistern im Stande ist. Dies auch bei alleiniger Verantwortung und in Ausnahme- und Stresssituationen, wie sie im Rahmen einer mehr als zehnjährigen Beschäftigungszeit auch bei der Klägerin angefallen sind und auch künftig anfallen werden.

Diesbezüglich vermag ein einmaliger Vorfall, wie er sich im Nachtdienst vom 20. auf den 21.01.2003 ereignet hat, die weitere Eignung der Klägerin als Pflegekraft nicht ernsthaft zu erschüttern und die Prognose zu rechtfertigen, künftig käme es innerhalb kurzer Frist zu ähnlichen Wiederholungsfällen. Von der Beklagten war der Sachvortrag der Klägerin nicht zu widerlegen, diese habe zwar absichtlich nach dem Glied des Jugendlichen gegriffen, um durch Zudrücken der Harnröhre den weiteren Ausfluss restlichen Urins zu unterbinden; jedoch nur im Affekt so fest zugegriffen, dass es hierdurch zur Ausbildung eines Hämatoms und damit zusammenhängender Schmerzen bei dem jugendlichen Behinderten gekommen ist. Insoweit war der Klägerin eine verwerfliche Vorgehensweise dahingehend, sie habe den Jugendlichen damit abstrafen, ihm etwa einen Denkzettel verpassen und ihm Schmerzen zufügen wollen, nicht nachzuweisen. Das Vorliegen einer Affektsituation erscheint nachvollziehbar, denn nach Angaben der Klägerin kam es bei dem behinderten Jugendlichen nach dem Toilettengang und vor dem Anlegen der Windel zu einem nochmaligen Urinaustritt. Dieses Phänomen war auch der Beklagten bekannt. Der Klägerin wird bei dem konkreten Vorfall zwar eine unsachgemäße Vorgehensweise vorgeworfen, jedoch nicht exakt angegeben, welch fehlerhaftes Vorgehen oder welche unterlassene Maßnahmen zu der von der Klägerin geschilderten Affektsituation geführt haben. Insoweit kann nicht ausgeschlossen werden, obwohl dies die Beklagte bestreitet, dass es zu einer Benetzung der Kleidung der Klägerin gekommen ist oder sie dies zumindest befürchten musste und sie aus diesem Grunde erschrocken überreagiert hat. Die erkennende Kammer schließt sich in diesem Zusammenhang der Rechtsansicht des LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 14.01.2004 - 3 Sa 302/03 - LAGE Nr. 3 zu § 626 BGB 2002) an, wonach bei Vorliegen einer Affektsituation das Verschuldensmaß reduziert ist und dies im Rahmen der Interessenabwägung im Einzelfall zu berücksichtigen ist.

Es ist nicht zu befürchten, dass sich solche Affektsituationen, in denen die Klägerin überreagiert, häufen, denn hiergegen spricht die lange beanstandungsfreie Tätigkeit der Klägerin. Bei in etwa gleichem Kreis von Schutzbefohlenen und etwa gleichem Aufgabengebiet werden auch die in Zukunft auftretenden Situationen, denen ähneln, die bereits in der Vergangenheit eingetreten sind, und sind diesbezüglich keine dramatischen Veränderungen zu befürchten. Dass die Klägerin fähig ist, aufgetretene Situationen angemessen zu meistern, hat sie im Laufe ihrer langen Betriebszugehörigkeit nachhaltig unter Beweis gestellt. Davon darf auch bei zeitlich begrenzter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis 30.06.2003 ausgegangen werden.

Zugunsten der Klägerin ist auch zu berücksichtigen, dass sie nicht versucht hat, den Vorfall zu vertuschen, sondern sich in diesem Zusammenhang kooperativ gezeigt hat. Dies lässt darauf schließen, dass sie die Unrechtmäßigkeit ihrer Vorgehensweise erkannt hat und aufgrund ihrer Berufserfahrung und Belastbarkeit davon ausgegangen werden darf, dass sie in einer vergleichbaren Situation besonnener und abgeklärter reagieren wird.

Dies ist in einem persönlichen Gespräch sicher auch den betroffenen Eltern vermittelbar, wenn ihnen die vom Pflegepersonal zu tragenden besonderen Belastungen erläutert und diese verständig gewürdigt werden.

Aus all den Gründen ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles hier nicht das arbeitsrechtlich härteste Mittel geboten und angemessen und es der Beklagten zumutbar, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zumindest bis 30.06.2003 fortzusetzen.

4. Auf das Vorliegen sonstiger Unwirksamkeitsgründe braucht nicht abgestellt zu werden. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte nach der im Zeitpunkt der Durchführung des Kündigungsverfahren geltenden Fassung der MAVO die bei ihr bestehende Mitarbeitervertretung ordnungsgemäß schriftlich und mündlich von ihrem Kündigungsentschluss und den die Kündigung tragenden Umständen informiert hat.

III.

1. Wegen der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung bleibt diese dem Schlussurteil vorbehalten.

2. Die Revision wird zugelassen, da der Rechtssache über den Einzelfall hinaus in Bezug auf die Bewertung einer Affekthandlung im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung gemäß § 626 Abs. 1 BGB grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird, § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG.



Ende der Entscheidung

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