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Gericht: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 15.02.2006
Aktenzeichen: 9 Sa 990/05
Rechtsgebiete: ArbGG, ZPO, BAT


Vorschriften:

ArbGG §§ 64 ff.
ArbGG § 69 Abs. 2
ZPO §§ 512 ff.
BAT § 54 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Aktenzeichen: 9 Sa 990/05

Entscheidung vom 15.02.2006

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 07.11.2005, Az. 8 Ca 1670/05 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung sowie um die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers während des Rechtsstreits.

Von einer wiederholenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes sowie des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf die Zusammenfassung im Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 07.11.2005 (dort S. 2 - 5 = Bl. 114 - 117 d. A.) Bezug genommen.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die mit Schreiben der Beklagten vom 05.07.2005 - zugegangen am gleichen Tage - ausgesprochene fristlose Kündigung hilfsweise außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund mit einer Auslauffrist zum 31.03.2006 nicht aufgelöst ist,

2. für den Fall des Obsiegens die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung dieses Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen als Schuldner- und Insolvenzberater weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht Ludwigshafen hat mit Urteil vom 07.11.2005 (Bl. 113 ff. d. A.) festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 05.07.2005 nicht aufgelöst worden ist. Des Weiteren hat es die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen als Sozialarbeiter zu beschäftigen. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden.

Zur Begründung des klagezusprechenden Teiles seiner Entscheidung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, der von der Beklagten dargelegte Sachverhalt sei an sich geeignet, eine fristlose Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses zu rechtfertigen. Es sei nämlich nicht akzeptabel, dass ein Schuldnerberater sich von einer Klientin, die sich ihm gegenüber in einem Abhängigkeitsverhältnis befinde, massieren lasse. Das Verhalten des Klägers sei hierbei, trotz seiner Passivität, eindeutig sexuell bestimmt gewesen, zumal er nach dem Beschwerdeschreiben der Klientin vom 14.06.2005 "kurz nach" dem Massieren geäußert habe: "Wenn Sie wüssten, wie viele Frauen ich hier über den Tisch ziehen könnte." Dieser Sachverhalt hätte aber erst nach Ausspruch einer Abmahnung eine Kündigung rechtfertigen können, da es nicht ausgeschlossen sei, dass die Beklagte verlorenes Vertrauen in den Kläger wiedergewinnen könne.

Zwar sei eine vorweggenommene Abmahnung in diesem Zusammenhang ausreichend gewesen, jedoch habe die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass die Vorgesetzte, Frau X., gegenüber dem Kläger im Zusammenhang mit der Beschwerde von Frau W. eine vorweggenommene Abmahnung erklärt habe. Die Zeugin X. sei nämlich bei ihrer Vernehmung erst auf Nachfrage hinsichtlich der Abmahnungserklärung gegenüber dem Kläger konkreter geworden. Dabei habe die Kammer des Arbeitsgerichtes den Eindruck gewonnen, dass sich die Zeugin weniger an dem tatsächlichen Hergang aus dem Februar 2003 orientiert habe, sondern vielmehr an der erst im Zusammenhang mit dem jetzigen Kündigungssachverhalt abgefassten Aktennotiz. Die Kammer habe sich daher nicht in der Lage gesehen, dem Erinnerungsvermögen der Zeugin zu trauen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichtes wird auf S. 5 ff. des Urteils vom 07.11.2005 (= Bl. 117 ff. d. A.) verwiesen.

Die Beklagte, der die Entscheidung des Arbeitsgerichtes vom 17.11.2005 zugestellt worden ist, hat am 14.12.2005 Berufung zum Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz unter gleichzeitiger Begründung ihres Rechtsmittels eingelegt.

Die Beklagte macht geltend, die außerordentliche Kündigung habe das Beschäftigungsverhältnis beendet, zumal es zuvor keiner Abmahnung oder einen sonstigen Hinweises bedurft habe. Die Pflichtverletzung des Klägers sei so schwer gewesen, dass die Hinnahme seines Verhaltens durch die Beklagte offensichtlich ausgeschlossen gewesen sei.

Selbst wenn man eine vorweggenommene Abmahnung oder einen sonstigen Hinweis vor Ausspruch der Kündigung für notwendig erachte, sei festzustellen, dass die Beklage dem Kläger in der Vergangenheit ausreichend Hinweise gegeben habe, wodurch der Kläger sein zuletzt gezeigtes Fehlverhalten ohne weiteres habe als Vertragswidrigkeit erkennen müssen. Aufgrund der Vorgehensweise seiner Vorgesetzten im Zusammenhang mit der schriftlichen Beschwerde von Frau W. sei dem Kläger bereits im Februar 2003 klar gemacht worden, dass die Beklagte die von Frau W. behaupteten Verfehlungen nicht dulde. Dass hierüber keine Zweifel beim Kläger vorgelegen hätten, ergebe sich auch aus seiner schriftlichen Stellungnahme zu der Beschwerde.

Im Übrigen sei die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichtes fehlerhaft, da die Zeugin X. eine vorweggenommene Abmahnung letztlich in glaubhafter Weise bestätigt habe. Ihre Aussage sei genauso ausgefallen, wie es von einem nicht gerichtserfahrenen Zeugen zu erwarten sei; erst auf Nachfrage sei die Zeugin konkreter geworden. Das Beschwerdeschreiben von Frau W. habe im Übrigen dem Kläger vorgelegen, als seine Vorgesetzte ihn mit den Vorwürfen konfrontiert habe. Das Verbotensein eines solchen Verhaltens sei ihm dabei durch die Zeugin X. mündlich bekannt gemacht worden; dies ergebe sich auch deutlich aus der vom Kläger verfassten Stellungnahme zu dem Beschwerdeschreiben von Frau W.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 13.12.2005 (Bl. 137 ff. d. A.) Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichtes Ludwigshafen vom 07.11.2005 - Az. 8 Ca 1670/05 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger führt aus, er habe nicht beabsichtigt, irgendeine Handlung zu begehen, die von Frau V. als sexuelle Belästigung habe empfunden werden können. Insbesondere habe er die Klientin nicht aufgefordert, ihm den Nacken zu massieren. Die Beklagte sei auch nicht berechtigt gewesen, die Erklärungen von Frau V. in dem Beschwerdeschreiben vom 14.03.2005 völlig undifferenziert einer außerordentlichen Kündigung zu Grunde zu legen. Die Besprechung mit der Klientin habe nämlich etwa eine Stunde gedauert, wobei es in erster Linie um die finanziellen und persönlichen Probleme von Frau V. gegangen sei. Es sei daher in keiner Weise nachvollziehbar, wenn Frau V. schriftlich ausgeführt habe, sie sei "froh" gewesen, dass sie noch ein paar Worte wegen der Papiere und des nächsten Termins mit dem Kläger habe besprechen können. Die Weiteren in dem Beschwerdeschreiben zitierten Erklärungen des Klägers seien völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Er sei als Schuldnerberater oft mit Menschen konfrontiert, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten seien, weil sie von irgendwelchen Personen "über den Tisch gezogen" würden; dies sei gerade auch bei Frauen nicht selten. Nur in diesem Zusammenhang könnten entsprechende Äußerungen, wenn sie denn in dem Gesprächen mit Frau V. gefallen sein sollten, verstanden werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Berufungserwiderung wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 27.01.2006 (Bl. 153 ff. d. A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist gem. §§ 64 ff. ArbGG, 512 ff. ZPO zwar zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis wurde nämlich durch die außerordentliche Kündigung vom 05.07.2005 nicht beendet (A.) und der Kläger ist bis zur rechtskräftigen Beendigung des Kündigungsrechtsstreites zu den bisherigen Vertragsbedingungen als Sozialarbeiter weiter zu beschäftigen (B.).

A.

Die außerordentliche Kündigung hat das Beschäftigungsverhältnis weder fristlos noch mit der hilfsweis erklärten Auslauffrist zum 31.03.2006 aufgelöst, da die rechtlichen Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nach § 54 Abs. 1 des, kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung, anwendbaren Bundesangestellten-Tarifvertrages (BAT) nicht erfüllt sind. Hiernach ist der Arbeitgeber berechtigt, das Arbeitsverhältnis aus einem wichtigen Grunde fristlos zu kündigen, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigendem unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

Einem tariflich unkündbaren Arbeitnehmer kann nur dann fristlos gekündigt werden, wenn dem Arbeitgeber bei einem vergleichbaren kündbaren Arbeitnehmer dessen Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der einschlägigen ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar wäre. Ist danach eine fristlose Kündigung gegenüber einem tariflich unkündbaren Arbeitnehmer ausgeschlossen, so ist in den Fällen, in denen bei einem kündbaren Arbeitnehmer nur eine ordentliche Kündigung in Betracht käme, bei dem tariflich unkündbaren Arbeitnehmer nur eine außerordentliche Kündigung unter Gewährung einer Auslauffrist, die der fiktiven ordentlichen Kündigungsfirst entspricht, möglich (vgl. BAG, Urteil vom 21.06.2001 - 2 AZR 30/00 = EzA § 626 BGB Unkündbarkeit Nr. 7).

Bei der Prüfung, ob eine außerordentliche Kündigung den rechtlichen Anforderungen des § 54 Abs. 1 BAT entspricht ist zunächst einmal zu klären, ob ein Sachverhalt gegeben ist, der ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles an sich überhaupt geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Darüber hinaus muss der wichtige Grund im Rahmen einer Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere auch des Verhältnismäßigkeitsprinzips, zum Überwiegen der berechtigten Interessen des Kündigenden an der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen (vgl. DLW/Dörner, 3. Auflage, D Randziffer 662 m. w. N.).

Im Falle sexueller Belästigungen hat der Arbeitgeber die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Reicht eine Abmahnung nicht aus, um die Fortsetzung sexueller Belästigungen zu unterbinden, kann eine Kündigung notwendig werden. Eine außerordentliche Kündigung ist allerdings nur angemessen, wenn der Umfang und die Intensität der sexuellen Belästigungen sowie die Abwägung der beiderseitigen Interessen diese Maßnahme rechtfertigen (vgl. LAG Ham, Urteil vom 22.10.1996 = NZA 1997, 769). Diese für den Fall der sexuellen Belästigung von Mitarbeitern geltenden Rechtsgrundsätze (vgl. DLW/Dörner, 3. Auflage, D Randziffer 741) sind auch auf den Fall der sexuellen Belästigung von Kunden oder Leistungsempfängern des Arbeitgebers übertragbar.

Im vorliegenden Fall ist unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze eine außerordentliche Kündigung ausgeschlossen. Dies gilt selbst dann, wenn - wie nachfolgend - unterstellt wird, der Sachvortrag der Beklagten zu dem Fehlverhalten des Klägers gegenüber Frau V. sei voll umfänglich zutreffend. Dann wäre zwar - entsprechend dem Beschwerdeschreiben der Frau V. vom 14.06.2005 (Bl. 29 d. A.) - von einem Fehlverhalten in zweierlei Hinsicht auszugehen: Zum einem hätte der Kläger Frau V. dadurch sexuell belästigt, dass er sie aufforderte, ihm den Nacken zu massieren und nach Durchführung der Massage geäußert hätte: "Wenn Sie wüssten, wie viel Frauen ich hier über den Tisch ziehen könnte". Zum anderen hätte der Kläger Frau V. indirekt aufgefordert, ihm Kekse, Kuchen, Tee usw. mitzubringen und in diesem Zusammenhang geäußert, das Leben sei ein Geben und Nehmen; er hasse Leute, die nur nehmen würden.

Beide Pflichtverletzungen sind an sich geeignet, eine außerordentliche Beendigung des Arbeitsverhältnisse zu rechtfertigen.

Allerdings ist im Rahmen einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände festzustellen, dass sowohl der Vorwurf der sexuellen Belästigung als auch der Vorwurf, eine materielle Gegenleistung für die Beratung indirekt abgefordert zu haben, erst nach einer vorausgegangenen einschlägigen Abmahnung eine außerordentliche Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses rechtfertigen könnte. Die Interessen der Beklagten ergeben sich dabei insbesondere daraus, dass die sexuelle Belästigung gegenüber einer Klientin der Beklagten erfolgte, die als ratsuchende Person in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Kläger als Berater stand. Darüber hinaus ist es naturgemäß für die Beklagte schwierig, das dienstliche Verhalten des Klägers zu kontrollieren, da die Beratungsgespräche unter vier Augen durchgeführt werden. Mithin bedarf es einer Vertrauensgrundlage zwischen den Arbeitsvertragsparteien, welche durch sexuelle Belästigungen von Ratsuchenden beschädigt wird. Darüber hinaus haben sich zwei Frauen, welche von dem Kläger als Schuldner- und Insolvenzberater beraten wurden, innerhalb von zwei Jahren schriftlich gegenüber der Beklagten über sexuellen Belästigungen beschwert. Des weiteren ist es für die Beklagte von großer Bedeutung, dass die Ratsuchenden, welche zu ihr kommen, in der Regel in schlechten finanziellen Verhältnissen leben und daher die Beratungsleistung nicht von der Gewährung materieller Vorteile abhängig gemacht werden darf.

Das Interesse des Klägers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass er zum Kündigungszeitpunkt bereits 46 Jahre alt war und mithin keine besonders guten Aussichten bei der Suche eines neuen Arbeitsplatzes hätte. Darüber hinaus wäre von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht nur der Kläger betroffen, sondern darüber hinaus seine Ehefrau und zwei unterhaltsberechtigte Kinder. Zudem bestand das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien bereits über 15 Jahre hinweg, ohne dass während dieser Zeit eine Abmahnung im Rechtssinne gegenüber dem Kläger erfolgt wäre. Soweit der Vorwurf erhoben wurde, er habe Tee, Kekse und Kuchen usw. als Gegenleistung für Beratungsleistungen verlangt, ist zu beachten, dass ein entsprechendes Verlangen von der Beschwerdeführerin nicht als direkte Aufforderung geschildert wurde, sondern, dass sie nach ihrem subjektiven Empfinden indirekt den Eindruck hatte, der Kläger habe ihr Entsprechendes zu verstehen gegeben. Der bloße Inhalt des Beschwerdebriefes ist daher nicht geeignet, objektiv einen entsprechend konkreten Vorwurf ohne weiteres gegenüber dem Kläger zu erheben.

Der Vorwurf der sexuellen Belästigung ist insgesamt zu geringfügig und zu wenig intensiv, als dass hiermit die Auflösung eines bereits 15 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses ohne vorausgegangene Abmahnung begründet werden könnte.

An einer Abmahnung im Rechtssinne fehlt es vorliegend. Insbesondere hat die Vorgesetzte des Klägers Frau X. den Kläger im Februar 2003 nicht mündlich abgemahnt. Eine Abmahnung im Rechtssinne hat nicht nur eine Rüge- und Warn-, sondern auch eine Dokumentationsfunktion. Durch die Abmahnung soll klargestellt werden, dass ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers vorliegt und worin dieses Fehlverhalten besteht. Von der Feststellung eines entsprechendes Fehlverhaltens hat die Beklagte aber im Zusammenhang mit dem Beschwerdeschreiben von Frau W. aus dem Jahr 2003 ausdrücklich abgesehen, zumal sie mit Schreiben vom 11.02.2003 (Bl. 31 f. d. A.) Frau W. mitteilte, sie bezweifele stark, dass sich der Kläger eines Dienstvergehens schuldig gemacht habe. Sollte Frau W. die Behauptungen aufrecht erhalten, müsse sie fundierte Beweise vorlegen. Von dieser schriftlichen Stellungnahme der Beklagten hat auch der Kläger Kenntnis erhalten. Frau W. hat aber in der Folgezeit keine weiteren Beweise für ihre Beschuldigungen beigebracht. Mithin lag zum Kündigungszeitpunkt eine gegenüber dem Kläger ausgesprochene Abmahnung im Rechtssinne nicht vor.

Eine einschlägige Abmahnung war aber im vorliegenden Zusammenhang notwendig, um anschließend eine rechtswirksame Kündigung erklären zu können. Auch bei Störungen im Vertrauensbereich ist vor der Kündigung eine Abmahnung nämlich erforderlich, wenn es um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers geht und eine Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 04.06.1997 = EzA § 626 BGB n. S. Nr. 168, Urteil vom 10.02.1999 = EzA § 15 KSchG n. F. Nr. 47). Entbehrlich ist eine Abmahnung ausnahmsweise dann, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, aufgrund derer eine Abmahnung als nicht Erfolg versprechend angesehen werden darf (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.11.2005 - 5 Sa 301/05 = JURIS).

Im vorliegenden Fall konnte davon ausgegangen werden, dass eine Abmahnung Erfolg versprechend ist und hierdurch das Vertrauen zwischen den Arbeitsvertragsparteien wiederhergestellt werden kann. Durch eine Abmahnung kann nämlich in aller Deutlichkeit und einschränkungslos dem Kläger vor Augen geführt werden, dass die Beklagte nicht gewillt ist, das in dem Beschwerdebrief von Frau V. geschilderte Fehlverhalten des Klägers hinzunehmen. Andererseits müsste dies hinreichend Anlass für den Kläger sein, sein zukünftiges Verhalten im Umgang mit Klienten der Beklagten hieran auszurichten. Das in dem Beschwerdebrief geschilderte Fehlverhalten ist jedenfalls nicht so schwerwiegend, dass - trotz 15-jähriger Arbeitstätigkeit - allein hierdurch das Vertrauensverhältnis irreparabel zerstört sein könnte.

Ob die Vorgesetze des Klägers Frau X. diesem gegenüber im Februar 2003 mündlich erklärte, dass körperliche Belästigungen sowie anzügliche Bemerkungen zu Ratsuchenden strikt untersagt seien und eine Kündigung zur Folge hätten, kann nach Auffassung der Berufungskammer dahingestellt bleiben. Selbst wenn eine solche Erklärung tatsächlich erfolgt wäre, kann hierbei - zumindest zum maßgeblichen Kündigungszeitpunkt - von einer Abmahnung im Rechtssinne, insbesondere aufgrund der schriftlichen Stellungnahme der Beklagten zu der Beschwerde von Frau W., nicht ausgegangen werden. Darüber hinaus konnte eine solche Erklärung aber auch keine sogenannte vorweggenommene Abmahnung verkörpern, welche eine Abmahnung im Rechtssinne überflüssig machen könnte. Nach der bisher vorliegenden Rechtssprechung (vgl. BAG, Urteil vom 05.04.2001 - 2 AZR 580/99 = AP Nr. 32 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung; LAG Ham, Urteil vom 12.09.1996 - 4 Sa 486/96 = LAGE § 626 BGB Nr. 105) kommt eine vorweggenommene Abmahnung im Falle einer Arbeitsverweigerung in Frage. In den Fällen, welche den zitierten Urteilen zugrunde lagen, wurden Arbeitnehmer, die grundlos nicht zur Arbeit erschienen, vom Arbeitgeber aufgefordert, an einem zukünftigen bestimmten Tag zu erscheinen, da sie ansonsten mit einer Kündigung rechnen müssten. Nachdem die Arbeitnehmer an diesen Tagen trotzdem nicht erschienen sind, wurde der Ausspruch einer Abmahnung ausnahmsweise für entbehrlich gehalten, da sich das Verhalten der Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des vorweggenommenen Fingerzeigs als beharrliche Arbeitsverweigerung herausstellte.

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Allein der zeitliche Abstand zwischen dem Gespräch, das zwischen dem Kläger und seiner Vorgesetzten im Februar 2003 geführt worden sein soll und der Kündigungserklärung vom 05.07.2005, lässt es nach Auffassung der Berufungskammer nicht zu, noch einen Zusammenhang zwischen den damals angeblich erfolgten Hinweisen und dem über zwei Jahre später erfolgten Fehlverhalten des Klägers herzustellen. Dies gilt um so mehr, als zum Kündigungszeitpunkt eine etwaige vorweggenommene Abmahnung durch die schriftliche Stellungnahme der Beklagten gegenüber Frau W. entwertet worden wäre. Wie oben bereits ausgeführt erklärte die Beklagte gegenüber Frau W. in diesem Schreiben, von dem auch der Kläger Kenntnis erlangte, dass die Beklagte nicht von einem Fehlverhalten ihres Mitarbeiters ausgehe. Mithin kann auch nicht von einer vorweggenommen Abmahnung gegenüber dem Kläger ausgegangen werden.

B.

Der Kläger ist für die Dauer des vorliegenden Kündigungsrechtsstreites zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Sozialarbeiter weiter zu beschäftigen. Zwar begründet die Ungewissheit über die Wirksamkeit einer Kündigung und damit über den Prozessausgang zunächst ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers, den gekündigten Arbeitnehmer für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses nicht beschäftigen zu müssen. Denn durch die tatsächliche Weiterbeschäftigung können personen-, verhaltens- und betriebsbedingte Kündigungsgründe an Bedeutung verlieren. Die Interessenlage ändert sich aber, wenn im Kündigungsschutzprozess ein die Instanz abschließendes Urteil ergeht, das die Unwirksamkeit der Kündigung und damit den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses feststellt. Ein solches Urteil wirkt sich auf die maßgebliche Interessenlage dahin aus, dass nunmehr die Ungewissheit des endgültigen Prozessausganges für sich allein ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers nicht mehr begründen kann. Vielmehr müssen zusätzliche Umstände hinzu kommen, aus denen sich im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers ergibt, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen (vgl. BAG, Beschluss vom 27.02.1985 = EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9).

Nachdem die Berufung der Beklagten gegen die Feststellung des Arbeitsgerichtes, dass das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung vom 05.07.2005 nicht aufgelöst worden ist, zurückzuweisen war, ist entsprechend der oben dargelegten Rechtsprechung der Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers für die Dauer des Rechtsstreites nach wie vor gegeben. Besondere Umstände, die diesem Anspruch entgegenstünden, hat die Beklagte nicht geltend gemacht.

Nach alle dem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Gegen die vorliegende Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben. Für die Zulassung der Revision fehlte es unter Berücksichtigung von § 72 Abs. 2 ArbGG an einem gesetzlich begründeten Anlass.

Ende der Entscheidung

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