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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt
Urteil verkündet am 06.12.2005
Aktenzeichen: 8 Sa 327/05
Rechtsgebiete: BGB, KSchG


Vorschriften:

BGB § 626
KSchG § 1
Zur Frage, ob die versuchte Erschleichung einer unentgeltlichen Paketbeförderung im Wert von 2,50 € die Kündigung eines seit 15 Jahren beschäftigten AN rechtfertigt, der einer Ehefrau und fünf minderjährigen Kindern zu Unterhalt verpflichtet ist.
LANDESARBEITSGERICHT SACHSEN-ANHALT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen: 8 Sa 327/05

Verkündet am: 06.12.2005

In dem Rechtsstreit

hat die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht als Vorsitzenden sowie den ehrenamtlichen Richter und die ehrenamtliche Richterin als Beisitzer für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des ArbG Halberstadt vom 28.04.2005 - 4 Ca 235/05 - abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigungen vom 21.02.2005 noch durch die Kündigen vom 28.02.2005 aufgelöst worden ist.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier außerordentlicher sowie hilfsweise ordentlicher Kündigungen ihres Arbeitsverhältnisses.

Der 1968 geborene Kläger, verheiratet und für fünf minderjährige Kinder unterhaltspflichtig, ist seit dem 01.07.1989 bei der Beklagten zuletzt als Transportaufsicht in der Niederlassung B. M. beschäftigt. Sein durchschnittliches monatliches Bruttoeinkommen beträgt 3.569,79 €.

Der Kläger ist in der Hauptumschlagbase (HUB) O. eingesetzt. Dort unterhält die Beklagte u. a. eine Nachverpackungsstelle. Darin werden Sendungen bearbeitet, die wegen fehlender, beschädigter oder nicht lesbarer Empfänger- bzw. Absenderangaben unanbringlich sind. Diese Sendungen werden zwecks Ermittlung des Empfängers bzw. Absenders geöffnet und neu verpackt. Sendungen bei denen zwar noch die Empfänger- bzw. Absenderangaben erkennbar sind, die aber auf dem Transportweg anderweitig beschädigt wurden, werden ebenfalls in der Nachverpackungsstelle neu verpackt. Alle derartigen Sendungen erhalten neben einer neuen Verpackung auch einen neuen, durch das PC-System erstellten Paketaufkleber und werden anschließend dem Sendungsstrom wieder zugeführt.

Am 07.02.2005 gab der Kläger der in der Nachverpackungsstelle beschäftigten Mitarbeiterin P. ein von ihm mitgebrachtes Paket mit der Bitte einen Paketaufkleber durch das PC-System zu erstellen. Hierzu übergab er einen Zettel mit seiner privaten Anschrift und den Empfängerangaben. Anschließend sollte das Paket in den Sendungsstrom eingeschleust werden. Noch vor Fertigung eines Paketaufklebers betrat eine Security-Expertin der Konzernsicherheit den Raum. Daraufhin verließ der Kläger die Nachverpackungsstelle und ließ das Paket zurück. Die Sendung hätte ein Beförderungsentgelt in Höhe von 2,50 € beansprucht.

Die Security-Expertin stellte das Paket sicher und hörte den Kläger noch am gleichen Tage an (vgl. Niederschrift Bl. 41 - 42 d. A.). Der Kläger räumte sein Vorhaben ein. Am 09.02.2005 wurde auch Frau P. vernommen (vgl. Niederschrift Bl. 43 - 44 d. A.). Mit Schreiben vom 09.02.2005 unterrichtete die Security-Expertin den Leiter des H. O. (Bl. 45 - 46 d. A.) sowie die für die Beschäftigungsdienststelle des Klägers (Niederlassung B. M.) zuständige Security-Expertin. Letztere führte am 14.02.2005 eine erneute Befragung des Klägers durch. Ausweislich der Niederschrift (Bl. 47 - 49 d. A.) gab der Kläger an, dass er sich mit der Einschleusung der privaten Sendung das Entgelt in Höhe von 2,50 € habe sparen wollen. Der Strafbarkeit seines Verhaltens sei er sich nicht bewusst gewesen. Die Beklagte habe bei ihm ohne richterlichen Beschluss bis zu 900,-- € Gehalt gepfändet. An diesem Morgen habe er keine Zeit gehabt, zu einer Postfiliale zu fahren. Da sei ihm der Gedanke gekommen, das Paket über die Nachverpackungsstelle abzuschicken.

Unstreitig hat die Beklagte vom Einkommen des Klägers monatlich pfändbare Beträge in Höhe von 20,00 bis 46,00 € sowie vom Weihnachtsgeld einmalig 866,79 € einbehalten wegen eines vom Kläger auf dem Dienstgelände verursachten Kfz-Schadens in Höhe von 4.700,45 €. In Bezug auf die Schadensersatzpflicht des Klägers ist ein weiterer Rechtsstreit zwischen den Parteien anhängig.

Am 14.02.2005 unterrichtete die Security-Expertin den kündigungsberechtigten Leiter der Niederlassung B. M. über den Sachverhalt. Mit Schreiben vom 15.02.2005 hörte dieser den zuständigen Betriebsrat zu der Absicht einer außerordentlichen, vorsorglich ordentlichen Kündigung wegen des Verdachts eines Betrugsversuches und der Anstiftung einer Mitarbeiterin zu einer Straftat an (Bl. 50 - 62 d. A.). Mit Schreiben vom gleichen Tage hörte er den Betriebsrat außerdem zu einer außerordentlichen sowie vorsorglich ordentlichen Tatkündigung an (Bl. 63 - 75 d. A.). Der Betriebsrat gab zu den beabsichtigten außerordentlichen Kündigungen zu bedenken, dass der Kläger fünf Kinder zu versorgen habe; zu den beabsichtigten ordentlichen Kündigungen äußerte er sich nicht.

Mit Schreiben vom 21.02.2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis gemäß § 36 Abs. 1 des Manteltarifvertrages Deutsche Post AG (im Folgenden: MTV DP AG) wegen des dringenden Verdachts eines versuchten Entgeltbetruges (Bl. 6 d. A.) sowie mit Schreiben vom gleichen Tage gesondert nochmals außerordentlich (vgl. Bl. 7 d. A.). Beide Schreiben gingen dem Kläger am 21.02.2005 zu. Mit Schreiben vom 28.02.2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis "aus wichtigem Grund vorsorglich hilfsweise unter Gewährung einer sozialen Auslauffrist von 7 Monaten" unter Hinweis auf § 33 Abs. 3 b MTV DP AG zum Ablauf des 30.09.2005 wegen des dringenden Verdachts des versuchten Entgeltbetruges. Mit Schreiben vom gleichen Tage kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerdem gesondert ebenfalls zum 30.09.2005 (Bl. 11 u. 12 d. A.). Beide Schreiben gingen dem Kläger am 28.02.2005 zu.

Mit seiner am 24.02.2005 beim Arbeitsgericht eingegangenen und hinsichtlich der Kündigungen vom 28.02.2005 am 03.03.2005 erweiterten Klage wendet sich der Kläger gegen die vorgenannten Kündigungen. Er hat geltend gemacht, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein einmaliges Fehlverhalten darstelle. Er habe sich insbesondere aus Gründen der Bequemlichkeit zur Vermeidung eines längeren Umweges auf dem Heimweg dazu entschlossen, die Privatsendung über die Nachverpackungsstelle in den Postlauf einzuschleusen.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 28.04.2005, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, die Kündigungsschutzklage des Klägers abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass wegen des vorsätzlichen strafbaren Schädigungsversuches des Klägers unter beabsichtigter Einbeziehung der Mitarbeiterin P. eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Abwägung der beiderseitigen Interessen für die Beklagte unzumutbar sei. Auch habe die Beklagte die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt und den Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt.

Gegen das ihm am 11.05.2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 06.06.2005 beim Landesarbeitsgericht eingegangene und am 11.07.2005 begründete Berufung des Klägers. Darin macht er weiterhin geltend, dass seine einmalige Verfehlung eine Kündigung nicht rechtfertige. Die von ihm versuchte Versendung des privaten Pakets über die Nachverpackungsstelle sei vor allen Dingen aus Bequemlichkeit erfolgt. Einen Zusammenhang zwischen der Einbehaltung von Lohnbestandteilen durch die Beklagte und seiner Postsendung habe er entgegen dem Anschein, den das Protokoll seiner Anhörung vom 14.02.2005 erwecke, nicht hergestellt. Die Interessenabwägung des Arbeitsgerichts sei auch sonst unvollständig. Seine Betriebszugehörigkeit und seine Unterhaltspflichten seien nicht hinreichend gewürdigt worden. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass es sich um einen einmaligen Vorfall und lediglich um den Versuch eines Bagatelldelikts gehandelt habe. Der Beklagten sei keinerlei Schaden entstanden. Auch ein Vertrauensverlust zu seinem zuständigen Vorgesetzten sei nicht eingetreten. Vor Ausspruch der Kündigung hätte es gemäß § 314 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB einer Abmahnung bedurft.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Halberstadt vom 28.04.2005 - 4 Ca 235/05 - abzuändern und

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 21.02.2005 (Verdachtskündigung) zum 21.02.2005 sein Ende gefunden hat,

2. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 21.02.2005 (Tatkündigung) zum 21.02.2005 sein Ende gefunden hat,

3. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 28.02.2005 (Verdachtskündigung) zum 30.09.2005 sein Ende finden wird,

4. ferner festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 28.02.2005 (Tatkündigung) zum 30.09.2005 sein Ende finden wird.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil. Die auf die Tat gestützte außerordentliche Kündigung sei wirksam. Der Kläger habe einen versuchten Betrug begangen. Dabei habe er zusätzlich versucht, eine weitere Mitarbeiterin in seine Tat einzubeziehen. Als Transportaufsicht hätte dem Kläger die Bedeutung seiner Tat ohne weiteres bewusst sein müssen. Bequemlichkeitsgründe als Motiv für die versuchte Tat bestreitet die Beklagte. Die Interessenabwägung falle zugunsten der Beklagten aus, da u. a. die Ehrlichkeit der Mitarbeiter unverzichtbare Voraussetzung für ihre Beschäftigung sei, zumal in der Position des Klägers als Transportaufsicht. Einer Abmahnung habe es nicht bedurft, da der Kläger nicht mit vertretbaren Gründen habe annehmen können, sein Verhalten werde nicht als erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Verhalten angesehen. Dies gelte auch mit Rücksicht auf § 314 Abs. 2 BGB.

Wegen des weiteren Inhalts des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf ihre in zweiter Instanz gewechselten Schriftsätze nebst beigefügten Anlagen sowie ihre Protokollerklärungen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Die Kündigungen vom 21.02.2005 und 28.02.2005 - sowohl als Verdachts- als auch als Tatkündigung - haben das Arbeitsverhältnis der Parteien weder fristlos noch fristgerecht aufgelöst. Sie sind in Ermangelung eines ausreichenden Grundes unwirksam.

I.

Nach der ständigen Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts ist sowohl bei der außerordentlichen als auch bei der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung zunächst auf einer ersten Stufe zu prüfen, ob ein "an sich geeigneter Kündigungsgrund" vorliegt, und sodann auf einer zweiten Stufe eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Danach liegt zwar in dem vom Kläger eingeräumten Verhalten ein Kündigungsgrund, der zur Rechtfertigung einer - auch außerordentlichen - Kündigung an sich geeignet ist. Doch führt die gebotene umfassende Interessenabwägung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles letztlich zu dem Ergebnis, dass weder eine außerordentliche noch eine ordentliche Kündigung gerechtfertigt sind.

1. Vom Arbeitnehmer zu Lasten des Arbeitgebers begangene - vollendete oder versuchte - Eigentums- oder Vermögensdelikte sind grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen (BAB v. 16.12.2004 - 2 ABR 7/04, AP Nr. 191 zu § 626 BGB; BAG v. 11.12.2003 - 2 AZR 36/03, AP Nr. 179 zu § 626 BGB). Dies gilt auch für den Diebstahl bzw. die Unterschlagung geringwertiger Sachen aus dem Eigentum des Arbeitgebers. Es wird darüber hinaus in der Regel allgemein für während der Arbeitszeít verübte Straftaten gelten, die sich gegen das Vermögen des Arbeitgebers richten. Damit verletzt der Arbeitnehmer regelmäßíg seine arbeitsvertraglichen (Loyalitäts-)Pflichten und das ihn gesetzte Vertrauen in erheblicher Weise (BAG a. a. O).

Mit dem Versuch, eine private Postsendung in den Sendungskreislauf der Beklagten unentgeltlich einzuschleusen, hat der Kläger schwerwiegend seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt und das in ihn gesetzte Vertrauen in erheblicher Weise enttäuscht. Dabei kann dahinstehen, ob sein Verhalten strafrechtlich den Tatbestand des versuchten Betrugs erfüllt oder dies etwa in Ermangelung eines Irrtums oder einer darauf beruhenden Vermögensverfügung nicht der Fall ist. Auch wenn dem Kläger, wie er bei seiner Vernehmung angab, die Strafbarkeit seines Verhaltens nicht bewusst war, musste ihm klar sein, dass die Beklagte ihren Mitarbeitern für private Postsendungen keine freie Beförderung einräumt und er daher unrechtmäßig die Beförderungsleistung ohne Vergütung in Anspruch nehmen wollte.

2. Nach Auffassung des Berufungsgerichts führt im vorliegenden Fall jedoch die gebotene umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu dem Ergebnis, dass das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers das Lösungsinteresse des Arbeitgebers sowohl in Bezug auf die außerordentliche als auch auf die ordentliche Kündigung ausnahmsweise überwiegt.

a) Auf Seiten des Arbeitgebers wird das Lösungsinteresse maßgeblich von dem Gewicht der Vertragspflichtverletzung bestimmt. Dieses richtet sich nach der Bedeutung der verletzten Pflicht für das Arbeitsverhältnis, der Intensität der Pflichtverletzung in Bezug auf Beharrlichkeit und Häufigkeit sowie nach dem Grad des Verschuldens (BAG v. 21.01.1996 - 2 AZR 665/98, AP Nr. 155 zu § 626 BGB (von Heuningen-Höhne); BAG v. 25.04.1991 - 2 AZR 624/90, AP Nr. 124/90, AP Nr. 104 zu § 626 BGB). Auch vom Arbeitnehmer verursachte konkrete Störungen oder Schäden sind in der Interessenabwägung auf Seiten des Arbeitgebers zu beachten.

Die dem Kläger zur Last gelegte Vertragspflichtverletzung hat beträchtliches Gewicht. Die versuchte Erschleichung der Beförderungsleistung geschah ungeachtet ihrer strafrechtlichen Bewertung mit Unrechtsbewusstsein. Dies ist unstreitig. Der Kläger reklamiert nicht einen Irrtum über die Unzulässigkeit seiner Absichten, sondern war sich nach seiner Angabe lediglich über deren Strafbarkeit im Unklaren. Auch wirkt es erschwerend, dass er bei seinem Vorhaben offenbar in Kauf nahm, die Mitarbeiterin P. einzubeziehen. Diese sagte in ihrer Anhörung am 09.02.2005 (Bl. 43 ff.) zwar aus, sich "nichts dabei gedacht" zu haben und davon ausgegangen zu sein, dass es sich um ein dienstliches Paket gehandelt habe. Doch konnte sich der Kläger, der auf dem überreichten Zettel offen als Absender ausgewiesen war, nicht auf eine solche Gedankenlosigkeit verlassen. Weiter erschwerend wirkt die Tatsache, dass die Tätigkeit des Klägers als Transportaufsicht - wenn auch in einem anderen Arbeitsbereich - besonderes Vertrauen erfordert.

Anderseits lassen eine Reihe von Aspekten die Vertragspflichtverletzung des Klägers in milderem Licht erscheinen. Dem Kläger kann nur ein einmaliges Versagen zur Last gelegt werden. Anhaltspunkte für weitere Vorkommnisse dieser Art bestehen nicht. Sie sind nach der Art der Pflichtverletzung (unentgeltliche Versendung eines Pakets) auch nicht wahrscheinlich, zumal sich der Kläger nicht selbst bedienen konnte.

Weiterhin ging das Vorhaben nicht über den Versuch hinaus. Zwar hat der Kläger diesen unfreiwillig in bereits recht fortgeschrittenem Stadium abgebrochen. Gleichwohl besteht ein Unterschied zur vollendeten Tat, da sich nicht ausschließen lässt, dass der Kläger in einem späteren Stadium der Tatverwirklichung nicht doch noch zurückgeschreckt wäre, etwa wenn von Seiten der Mitarbeiterin P. kritische Fragen gekommen wären. Wie die Parallelwertung im Strafrecht zeigt, kann die versuchte Tat - auch ohne (strafbefreienden) freiwilligen Rücktritt - milder bewertet werden (§§ 23, 49 StGB).

Ferner ging es bei dem Beförderungsentgelt, das sich der Kläger erspart hätte, um einen so genannten Bagatellbetrag (2,50 €). Damit soll nicht das Vorhaben selbst als Bagatelle abgetan werden (vgl. schon oben unter 1.). Doch gibt die Geringfügigkeit des ersparten Beförderungsentgelts dem Vorwurf geringeres Gewicht, ohne ihm allein deshalb die Kündigungsrelevanz zu nehmen.

Hinzu tritt, dass die Einlassung des Klägers, auch aus Gründen der Bequemlichkeit gehandelt zu haben, nicht ausgeschlossen werden kann und durchaus möglich erscheint. Unstreitig befindet sich am Arbeitsort keine Postannahmestelle, in der das Paket ordnungsgemäß hätte aufgegeben werden können. Die nächste Annahmestelle war nach Angaben des Klägers ca. 2 km, nach Angaben der Beklagten 500 m bzw. 800 m entfernt. Sie war von 12.00 Uhr bis 14.00 Uhr und damit zum Zeitpunkt des Dienstschlusses des Klägers um 13.30 Uhr geschlossen. Für eine Arbeitspause war die Entfernung zu weit. Auf dem Weg nach Hause lag ebenfalls keine geöffnete Postannahmestelle. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Schriftsatz der Beklagten vom 27.04.2005. Gegen die Möglichkeit, dass der Kläger auch aus Bequemlichkeit handelte, spricht nicht der Umstand, dass das Paket noch nicht beschriftet war, als der Kläger in die Nachverpackungsstelle trat. Dies ist auch für die reguläre Aufgabe zur Post typisch, da in den Filialen entsprechende Aufkleber für Absender und Empfänger vorgehalten werden. Auch die Höhe des ersparten Entgelts lässt ein Handeln des Klägers aus Bequemlichkeitsgründen als möglich erscheinen. Diese Einlassung kann daher nicht als Schutzbehauptung abgetan werden. Sie entspricht zudem den Angaben des Klägers in seinen Anhörungen am 07. und 14. Februar.

Lässt sich aber nicht ausschließen, dass der Kläger auch aus Bequemlichkeitsgründen gehandelt hat, führt dies zu einer milderen Bewertung seines Verhaltens. Es kann nicht festgestellt werden, dass es ihm gerade darauf angekommen war, mittels Schädigung des Arbeitgebers einen eigenen Vermögensvorteil zu erlangen, wie es etwa für den "Griff in die Kasse" typisch ist. Auch für die Frage, ob eine Wiederherstellung des Vertrauens möglich ist, ist dieser Gesichtspunkt von Bedeutung. Nach der Rechtssprechung es Bundesarbeitsgerichts ist auch bei Störungen im Vertrauensbereich das Abmahnungserfordernis stets zu prüfen und eine Abmahnung jedenfalls dann vor Ausspruch der Kündigung notwendig, wenn ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht und erwartet werden kann, dass das Vertrauen wiederhergestellt wird (BAG v. 04.06.1997 - 2 AZR 526/96, AP Nr. 137 zu § 626 BGB; BAG v. 18.10.2000 - 2 AZR 131/00, AP Nr. 169 zu § 626 BGB). Handelte der Kläger nicht allein aus Bereichungsgründen, sondern auch aus Bequemlichkeit, so erscheint es eher möglich, dass das Vertrauen zwischen den Vertragsparteien durch eine Abmahnung wiederhergestellt werden könnte. Hiefür spricht auch, dass der Kläger sein Vorhaben ohne Umschweife von Anfang an wahrheitsgemäß eingestanden hat.

Schließlich ist der Beklagten ein Schaden nicht entstanden. Auch hat der Kläger nicht im eigenen Zuständigkeits- und Aufgabenbereich gehandelt, sondern war auf die Mitwirkung oder Gedankenlosigkeit einer Mitarbeiterin der Beklagten angewiesen. Der Gefahr einer Wiederholung kann die Beklagte somit durchaus begegnen.

Nach alledem kann das Lösungsinteresse der Beklagten aufgrund der Pflichtverletzung des Klägers nicht so hoch veranschlagt werden, wie es etwa bei einem "Griff in die Kasse" mit einem entsprechenden Betrag der Fall wäre.

b) Auf Seiten des Klägers sind dagegen insbesondere das über 15jährige beanstandungsfreie Bestehen des Arbeitsverhältnisses wie auch sein Unterhaltspflichten gegenüber Ehefrau und fünf Kindern zu berücksichtigen.

Die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist auch in Ansehung von Vermögensdelikten zu Lasten des Arbeitgebers zu berücksichtigen (BAG v. 13.12.1984 - 2 AZR 454/83, AP Nr. 81 zu § 626 BGB; BAG v. 02.03.1989 - 2 AZR 280/88, AP Nr. 101 zu § 626 BGB; BAG v. 16.12.2004 - 2 ABR 7/04, AP Nr. 191 zu § 626 BGB). Ein über 15 Jahre beanstandungsfreier Bestand des Arbeitsverhältnisses erlangt so besonderes Gewicht. Das Arbeitsverhältnis der Parteien kann auch nicht deshalb als belastet angesehen werden, weil der Kläger im Juli 2003 schuldhaft einen Kfz-Schaden auf dem Betriebsgelände verursacht hat. Das dem Kläger dabei anzulastende Verschulden erreicht nicht den Grad grober Fahrlässigkeit, wie die erkennende Kammer im Urteil vom 06.12.2005 (8 Sa 311/05) festgestellt hat. Von einer Belastung des Arbeitsverhältnisses in der Vergangenheit im hier gemeinten Sinne kann nicht die Rede sein, wenn der Kläger bei Verursachung des Schadens auf dem Betriebsgelände statt mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h mit 25 bis 30 km/h gefahren ist.

Zugunsten des Klägers sind auch seine erheblichen und noch lange bestehenden Unterhaltspflichten gegenüber Ehefrau und fünf minderjährigen Kindern zu berücksichtigen. Je nach dem Gewicht des Kündigungsgrundes können die Unterhaltspflichten und der Familienstand bei der Interessenabwägung zwar in den Hintergrund treten und im Extremfall völlig vernachlässig werden (BAG v. 20.01.2000 - 2 AZR 378/99, BAGE 93, 255; BAG v. 16.03.2000 - 2 AZR 75/99, AP Nr. 114 zu § 102 BetrVG 1972). Bei verhaltensbedingten Kündigungsgründen sind diese Aspekte jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen, da sie das Gewicht des Arbeitnehmerinteresses an der Erhaltung des Arbeitsplatzes beeinflussen (BAG v. 16.12.2004 - 2 ABR 7/04, AP Nr. 191 zu § 626 BGB). In Anbetracht der vom Kläger versuchten vorsätzlichen Tat haben die Unterhaltspflichten allgemein nur geringeres Gewicht. Doch schlagen sie wegen ihrer konkreten Höhe gegenüber dem konkreten Lösungsinteresse des Arbeitgebers durchaus zu buche. Dabei kann dahinstehen, ob dies angesichts der für Arbeitnehmer allgemein ungünstigen Arbeitsmarktlage in besonderem Maße gilt.

3. Nach alledem führt die Abwägung der beiderseitigen Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände zu dem Ergebnis, dass die Kündigungen - sowohl als außerordentliche als auch als ordentliche, als Verdachts- wie als Tatkündigungen - unwirksam sind. Einem verständig urteilenden Arbeitgeber hätten die Gründe bei gewissenhafter Abwägung der beiderseitigen Interessen auch eine ordentliche Kündigung nicht als billigenswert und angemessen erscheinen lassen (BAG v. 22.07.1982 - 2 AZR 30/81, AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 (Otto); BAG v. 07.12.1988 - 7 AZR 122/88, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 26 (Rüthers); BAG v. 21.11.1996 - 2 AZR 357/95, AP Nr. 130 zu § 626 BGB (Bernstein)).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG bestanden nicht.

Ende der Entscheidung

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