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Beginn der Entscheidung

Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 19.07.2004
Aktenzeichen: 1 ME 116/04
Rechtsgebiete: BauNVO


Vorschriften:

BauNVO § 4 II Nr. 2
1. Der Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart greift auch dann ein, wenn das streitige Vorhaben der Errichtung eines Discount-Marktes nur teilweise (hier 109qm von 692qm) im allgemeinen Wohngebiet liegt.

2. Zum Nachbarschutz gegen einen Discount-Markt, der wegen seines Einzugsbereichs und der örtlichen Gegebenheiten nicht mehr der Gebietsversorgung im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr.2 BauNVO dient.


Tatbestand:

Der Antragsteller begehrt die Abänderung eines Beschlusses des Verwaltungsgerichts, mit dem das erstinstanzliche Gericht der Beigeladenen vorläufigen Rechtsschutz gegen eine dem Antragsteller erteilte Baugenehmigung zum Neubau eines Plus-Marktes mit 36 Einstellplätzen gewährt hat.

Die Beigeladene ist Eigentümerin mehrerer Grundstücke östlich der J. Straße (Bundesstraße 461) und nördlich der Straße N. im Ortsteil O. der Stadt Wittmund. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des am 3. März 1997 bekannt gemachten Bebauungsplanes Nr. 6.6/B41 "P.", der für das bebaute Grundstück der Antragstellerin entlang der J. Straße (Flurstück 145/1) Mischgebiet und für die östlich angrenzenden unbebauten Flurstücke 146/42 und 146/43 allgemeines Wohngebiet festsetzt.

Unter dem 5. November 2003 erteilte der Antragsgegner dem Antragsteller die Baugenehmigung für den Neubau eines Verbrauchermarktes mit einer Verkaufsfläche von 692 qm für den Plus-Markt und 24 qm für den angegliederten Back-Shop auf den Flurstücken 145/17 und 146/39 der Flur 8. Für das Flurstück 145/17 ist in dem genannten Bebauungsplan Nr. 6.6/B41 Mischgebiet und für das Flurstück 146/39 allgemeines Wohngebiet festgesetzt. Das Baugrundstück liegt östlich der J. Straße und südlich der Straße N. gegenüber den Flurstücken der Beigeladenen.

Dem vorläufigen Rechtsschutzantrag der Beigeladenen hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. Februar 2004 (4 B 412/04) stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das Bauvorhaben des Antragstellers erweise sich gegenüber der Beigeladenen wegen unzumutbarer Lärmbeeinträchtigungen voraussichtlich als rücksichtslos. Das schalltechnische Gutachten des Instituts itap vom 31. Oktober 2003, wonach das Neubauvorhaben den Schutzansprüchen der benachbarten Wohnbebauung genüge, berücksichtige nicht die im allgemeinen Wohngebiet liegenden bebaubaren Flurstücke 146/42 und 146/43 der Antragstellerin, obwohl insbesondere das erstgenannte Flurstück näher an der nördlich des Verbrauchermarktes vorgesehenen Anlieferzone liege als das untersuchte Flurstück 145/1. Bei einem Beurteilungspegel für den im Mischgebiet gelegenen Immissionspunkt IP 1b an der Südseite des Wohnhauses der Antragstellerin auf dem Flurstück 145/1 von 56,1 dB(A) werde der Immissionsrichtwert von 55 dB(A) für die im allgemeinen Wohngebiet gelegenen Grundstücke aller Wahrscheinlichkeit nach überschritten. Offen bleiben könne, ob das Vorhaben überhaupt in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sei.

Nach Einholung einer weiteren ergänzenden Stellungnahme des Instituts itap vom 4. März 2004 hat der Antragsteller beantragt, den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. Februar 2004 abzuändern und den Antrag der Beigeladenen auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 13. April 2004 abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die schalltechnische Begutachtung sei nach wie vor mit Mängeln behaftet, so dass der Abänderungsantrag abzulehnen sei.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, die er unter Bezugnahme auf eine weitere Erläuterung des Instituts itap vom 6. Mai 2004 begründet.

Der Antragsgegner unterstützt die Beschwerde.

Die Beigeladene widerspricht dem Beschwerdevorbringen und ergänzt, dass das Vorhaben des Antragstellers auch den ihr zustehenden Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart verletze.

Die Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet.

Die dem Antragsteller von dem Antragsgegner erteilte Baugenehmigung zum Neubau eines Discount-Marktes mit 36 Einstellplätzen verletzt die Beigeladene in ihren Nachbarrechten. Der Beigeladenen steht als Eigentümerin der beiden im allgemeinen Wohngebiet liegenden Flurstücke 146/42 und 146/43 ein Abwehranspruch aus dem Gebietsgewährleistungsanspruch zu (BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 - 4 C 28.91 -, BRS 55 Nr. 110). Der Nachbar kann danach unabhängig von einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung ein Vorhaben abwehren, wenn dieses mit der Baugebietsfestsetzung unvereinbar ist und der Nachbar in deren Schutzbereich einbezogen ist. Beides ist hier zum Nachteil des angegriffenen Vorhabens der Fall.

Sowohl die beiden Flurstück 146/42 und 146/43 der Antragstellerin als auch das Flurstück 146/39, das durch das Neubauvorhaben teilweise in Anspruch genommen werden soll, liegen im Bereich des Bebauungsplanes Nr. 6.6/B41 der Stadt Wittmund für den Ortsteil O., der für die genannten Flurstücke allgemeines Wohngebiet festsetzt. Ein Widerspruch des Vorhabens des Antragstellers zu dieser Gebietsfestsetzung scheidet nicht deshalb aus, weil der überwiegende Teil des geplanten Verbrauchermarktes auf dem benachbarten Flurstück 145/17 und damit im Mischgebiet errichtet werden soll. Der Antragsgegner meint zwar, die Lage des Verbrauchermarktes im allgemeinen Wohngebiet sei zu vernachlässigen, weil nur rd. 109 qm der Verkaufsfläche von 692 qm des Plus-Marktes auf das allgemeine Wohngebiet entfielen und bei dieser Größenordnung die Gebietsbezogenheit des Ladens gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO außer Frage stehe. Bei dieser Betrachtung lässt der Antragsgegner aber außer Acht, dass ein geplantes Bauvorhaben und dessen Auswirkungen nur einheitlich beurteilt werden können. Der Plus-Markt ist deshalb nur dann im allgemeinen Wohngebiet zulässig, wenn er insgesamt noch als Laden einzuordnen ist, der gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Versorgung des Gebietes dient.

Es muss nicht vertieft werden, ob der genehmigte Verbrauchermarkt noch als Laden im Sinne der genannten Vorschrift anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 22.5.1987 - 4 C 19.85 -, BRS 47 Nr. 56) liegt die Obergrenze für Einzelhandelsbetriebe der wohnungsnahen Versorgung nicht wesentlich unter 700 qm Verkaufsfläche, aber auch nicht wesentlich darüber. Wird nur die reine Verkaufsfläche des Plus-Marktes (ohne Back-Shop) von 692 qm berücksichtigt, wird diese Grenze nicht überschritten. Bei Hinzurechnung der Ladenfläche des Back-Shops von 24 qm ergibt sich eine Verkaufsfläche von 716 qm, die diese Grenze etwas übersteigt. Es kann offen bleiben, ob die letztgenannte Fläche mit in die Berechnung einzubeziehen ist. Hierauf kommt es für die Entscheidung dieses Falles nicht an (vgl. dazu Beschl. d. Sen. v. 15.11.2002 - 1 ME 151/02 -, NStN 2003, 24 = ZfBR 2003, 165).

Denn selbst bei Zugrundelegung einer Fläche von 692 qm ist der genehmigte Plus-Markt im allgemeinen Wohngebiet nur zulässig, wenn auch die weiteren Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO vorliegen. Danach sind Läden nur zulässig, wenn sie der Versorgung des Gebietes dienen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 8.1.1986 - 6 B 164/85 -, BRS 46 NR. 47; OVG Münster, Beschl. v. 19.8.2003 - 7 B 1040/03 -, NVwZ-RR 2004, 245). Ob sie als gebietsbezogen zu qualifizieren sind, ist nach objektiven Kriterien zu beurteilen, wie insbesondere der Größe und sonstigen Beschaffenheit der Anlage, den daraus sich ergebenden Erfordernissen einer wirtschaftlich tragfähigen Ausnutzung, den örtlichen Gegebenheiten und den typischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung (BVerwG, Urt. v. 29.10.1998 - 4 C 9.97 -, BRS 60 Nr. 68, zu demselben Begriff im Zusammenhang mit Schank- und Speisewirtschaften). Wieweit die Grenze des Gebietes zu ziehen ist, dessen Versorgung der geplante Plus-Markt dienen soll, lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern bestimmt sich nach den jeweiligen städtebaulichen Verhältnissen. Bildet das Wohngebiet mit angrenzenden Gebieten, die rechtlich oder tatsächlich ebenfalls als Wohngebiet zu qualifizieren sind, einen einheitlich strukturierten zusammenhängenden Bereich, so kann dies ein Grund dafür sein, den räumlichen Bezugsrahmen für die nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO gebotene Beurteilung entsprechend zu erweitern. Außer Betracht zu bleiben haben unabhängig von den Grenzen des Baugebietes außer Gebieten, die durch eine andere Nutzungsart gekennzeichnet sind, indes Gebiete, die von dem Einzelhandelsbetrieb so weit entfernt sind, dass der vom Verordnungsgeber vorausgesetzte Funktionszusammenhang nicht mehr als gewahrt angesehen werden kann (BVerwG, Beschl. v. 3.9.1998 - 4 B 85.98 -, BRS 60 Nr. 67, für Schank- und Speisewirtschaften; OVG Münster, Beschl. v. 19.8.2003 - 7 B 1040/03 -, a.a.O.).

Gemessen daran gehören zu dem maßgeblichen Gebiet die als allgemeines Wohngebiet festgesetzten Flächen des Bebauungsplanes Nr. 6.6/B41 und wegen ihres funktionalen Zusammenhangs wohl auch die südlich unmittelbar an den Geltungsbereich dieses Bebauungsplanes angrenzenden mit Wohnhäusern bebauten Grundstücke des Bebauungsplanes Nr. 6.6/B23. Nicht dazu gehören die weiter nördlich des Bebauungsplanes Nr. 6.6/B41 gelegenen Wohngebiete, die von dem hier maßgeblichen Versorgungsbereich durch den Flusslauf der Harle getrennt werden und deshalb mit diesem kein einheitlich strukturiertes zusammenhängendes Gebiet mehr bilden. Gleiches dürfte für die Grundstücke beiderseits der J. Straße auf der Höhe des Bebauungsplanes Nr. 6.6/B41 gelten. Östlich davon setzt der zuletzt genannte Bebauungsplan Mischgebiet und damit eine andere Nutzungsart im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fest. Ob die Grundstücke westlich der J. Straße als allgemeines Wohngebiet anzusehen sind, lässt sich anhand des vorliegenden Kartenmaterials nicht sicher einschätzen. Unabhängig von der Art der Nutzung sind sie voraussichtlich schon deshalb nicht mehr dem Versorgungsbereich zuzurechnen, weil sie wegen ihrer Lage jenseits des festgesetzten Mischgebietes und jenseits der J. Straße soweit entfernt liegen, dass der vom Verordnungsgeber vorausgesetzte Funktionszusammenhang nicht gewahrt sein dürfte. Für die Flächen beiderseits der J. Straße kann dies aber letztlich offen bleiben.

Die Lage des geplanten Plus-Marktes spricht dafür, dass er zu einem nicht unerheblichen Teil auch Kunden aus anderen Wohngebieten im Norden von O., namentlich aus den Wohngebieten nördlich des Bebauungsplanes Nr. 6.6/B41 nördlich der Harle, und auch Kunden aus einigen Ortsteilen der benachbarten Gemeinde Wangerland anziehen wird. Er dient deshalb nicht nur der Gebietsversorgung im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO. Der Plus-Markt liegt verkehrsgünstig an der Bundesstraße 461, die nach Norden weiter in den Ortsteil O. führt. Nach dem von dem Antragsgegner überreichten Verwaltungsvorgang gibt es in O. lediglich zwei Edeka-Märkte mit rd. 850 qm bzw. 400 qm Verkaufsfläche, die als sog. Vollsortimenter nicht unmittelbar mit dem Plus-Markt konkurrieren. Bei Letzterem handelt es sich um einen Diskount-Markt mit einer begrenzten Produktpalette, dessen Attraktivität zusätzlich dadurch gesteigert wird, dass er durch wöchentlich wechselndes Angebot Non-Food-Artikel anpreist. Da O. nur 1.700 Einwohner hat, ist auch die Annahme gerechtfertigt, dass Bewohner des benachbarten Umlandes den Discount-Markt zum Einkaufen aufsuchen werden. Die Oldenburgische Industrie- und Handelskammer weist in ihrer Stellungnahme vom 28. August 2003 darauf hin, dass zum Einzugsbereich des Einzelhandelsstandortes O. rund 350 Einwohner aus benachbarten Ortsteilen der Gemeinde Wangerland gehören.

Die örtlichen Gegebenheiten sind auch dadurch geprägt, dass der Ortsteil O. große Bedeutung für den Tourismus hat. Im Jahr 2002 wurden in O. 124.600 Gäste mit 892.195 Übernachtungen registriert. Neben diesen Touristen, die im Ortsteil O. ihren Urlaub verbringen, wird der Plus-Markt wegen seiner verkehrsgünstigen Lage auch erhebliche Anziehungskraft auf durchfahrende Gäste ausüben. Dies gilt nicht nur für motorisierte Urlauber und andere motorisierte Durchreisende. Denn der Standort des Marktes liegt unmittelbar an einer Bushaltestelle der regional bedeutsamen Buslinie 343 Q..

Die Zahl der Stellplätze für das Vorhaben stützt die vorstehenden Aussagen. Dem Plus-Markt sollen gemeinsam mit den angrenzenden öffentlichen Stellplätzen insgesamt 62 Stellplätze zur Verfügung stehen. Diese Zahl übersteigt die Zahl der Stellplätze, die für Läden als ausreichend angesehen wird, deutlich (vgl. Runderlass des MS v. 25.2.1988, NdsMBl. S. 282, dort Anlage Nr. 3.1: Ein Einstellplatz je 30 bis 40 qm Verkaufsfläche). Ferner rechnen die Gutachter des Instituts itap in ihrem schalltechnischen Gutachten vom 31. Oktober 2003 auf der Grundlage einer Aussage des planenden Architekten mit 1.500 Fahrzeugbewegungen pro Tag auf der gesamten Stellplatzanlage. Danach werden jeden Tag im Schnitt rd. 750 Kunden erwartet, die den Plus-Markt mit dem Kraftfahrzeug ansteuern. Auch hieran zeigt sich bestätigend die Ausrichtung des Marktes auf eine gebietsübergreifende Versorgung.

Aufgrund dieser Unverträglichkeit des Vorhabens des Antragstellers mit der Gebietsfestsetzung allgemeines Wohngebiet kommt es nicht mehr darauf an, ob sich der Plus-Markt wegen unzumutbarer Lärmbeeinträchtigungen gegenüber den Grundstücken der Beigeladenen als rücksichtslos erweist.

Ende der Entscheidung

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