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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 26.06.2007
Aktenzeichen: 11 LB 398/05
Rechtsgebiete: AsylVfG, AufenthG, VwVfG


Vorschriften:

AsylVfG § 71 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2
VwVfG § 51 Abs. 2
VwVfG § 51 Abs. 3
Zur Gefahr einer Retraumatisierung bei Rückkehr in die Türkei (hier bejaht).
NIEDERSÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT LÜNEBURG BESCHLUSS

Aktenz.: 11 LB 398/05

Datum: 26.06.2007

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Die am 2. Februar 1963 in einem Dorf in der Nähe von Besiri (Provinz Siirt) geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie ist verheiratet und hat 4 Kinder (geboren 1984, 1986, 1988 und 1996). Eine Schule hat sie nicht besucht; sie ist Analphabetin.

Die Klägerin reiste ihren Angaben zufolge am 10. August 1995 zusammen mit ihrem Ehemann auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein; ihre Kinder folgten kurze Zeit später. Die Klägerin und ihre Familie beantragten die Anerkennung als Asylberechtigte. Die Klägerin erklärte bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 30. August 1995 u. a., sie sei im Februar 1995 aus Anlass der Suche nach ihrem Ehemann von türkischen Soldaten festgenommen worden. Sie habe 24 Stunden auf der Wache bleiben müssen. Es sei sehr beschämend gewesen. Sie hätten sie aber nur beschimpft, sonst sei nichts gewesen. Sie sei deshalb entlassen worden, weil ihr Ehemann sich gestellt habe. Das Bundesamt lehnte die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Feststellung der Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG durch Bescheid vom 27. November 1995 ab. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht durch rechtskräftiges Urteil vom 28. Oktober 1998 ab. Ein von der Klägerin und ihrer Familie im Juni 1999 gestellter Asylfolgeantrag blieb ebenfalls erfolglos.

Im Rahmen eines zweiten Asylfolgeantrags machte die Klägerin erstmals mit Schriftsatz vom 9. Februar 2004 geltend, dass sie an mehreren psychischen Erkrankungen leide, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit traumatisierenden Erlebnissen im Heimatland stünden. Dazu legte sie eine Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Lorenz ({B.}) vom 24. Januar 2004 vor, in deren Behandlung sie sich seit dem 4. September 2002 befindet. Darin wurden folgende Diagnosen gestellt: Schwere chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung mit erhöhte Suizidalität, beginnende Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, Depression und Angststörung, Retraumatisierung bei drohender Abschiebung. Die Fachärztin führte ferner aus, die Klägerin habe im Hinblick auf ihre Erlebnisse in der Türkei mitgeteilt, dass eines Tages Soldaten in ihr Haus gestürmt seien und sie zum Karakol mitgeschleppt hätten. Dort habe man sie eineinhalb Tage festgehalten. Zu ihrem Aufenthalt im Karakol befragt, habe die Klägerin gesagt, was sie dort in diesen eineinhalb Tagen erlebt habe, könne sie nicht erzählen. Denn sonst würde es ihr Mann erfahren. Sie könne mit keinem Menschen über die Zeit auf der Polizeistation reden, nicht einmal mit ihrer Schwester.

Das Bundesamt lehnte den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 6. Mai 2004 ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Es lägen bereits die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich der Feststellung zu § 53 AuslG nicht vor. Der Vortrag der Klägerin sei verspätet. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihr nicht vorliege. Die Fachärztin gehe in ihrer Stellungnahme vom 27. Januar 2004 ausschließlich von den Angaben der Klägerin aus, ohne dass dargelegt werde, inwieweit die bisherigen Vorträge der Klägerin hierzu herangezogen und gewürdigt worden seien. Die Klägerin habe bislang nie ein Ereignis behauptet, das ein Trauma hätte auslösen können. Auch der Fachärztin sei es nicht gelungen, das traumatisierende Ereignis herauszufinden. Das Verwaltungsgericht habe aber den Vortrag der Klägerin und insbesondere den ihres Ehemannes, der auf gefälschte Unterlagen gestützt worden sei, als nicht glaubhaft gewertet.

Die Klägerin hat am 12. Mai 2004 Klage erhoben. Sie legte weitere Atteste der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Lorenz vor. Außerdem reichte sie ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie Dr. Krické-Mühlenweg ({C.}) vom 26. Januar 2005 ein. Die Klägerin befand sich in den Jahren 2004 und 2005 zu drei mehrwöchigen stationären Aufenthalten im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Hildesheim.

Am 20. Juli 2005 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht statt. Die Klägerin erklärte auf Befragen des Gerichts u. a. Folgendes (Seite 5 der Niederschrift):

"Wir sind hier zum Asylverfahren geladen worden und man sagt, dass man uns in die Türkei schicken will. Wenn wir in die Türkei zurück müssen .... wir haben in der Türkei Folterungen erlebt, wir haben Vergewaltigung erlebt. Wenn ich mich an die Türkei erinnere, wird mir immer schlecht. Sie wissen selbst, wenn eine Frau in die Hände von Soldaten gerät, ist es besser, dass sie stirbt. Ich habe alles, was mir passiert ist, meinem Mann nicht erzählt. Die Erinnerung an diese Erlebnisse lassen mich immer psychisch krank werden. Ich kann nachts nicht schlafen. Ich muss ständig zur ärztlichen Kontrolle gehen. Die Nichte meines Mannes hilft mir. Sie bringt mich zum Arzt und gibt mir die Tabletten. Dieses Angsterlebnis in der Türkei habe ich immer noch in Erinnerung. Wenn ich hier Uniformen sehe, dann schlägt mein Herz so. Ich habe dann Angst. Manchmal sehe ich die Polizei auf der Straße vor der Tür oder im Auto. Ich lag zweimal im Krankenhaus von Hildesheim. Ich war so richtig geistig gestört worden. Nachdem ich im Krankenhaus gelegen habe, geht es mir besser. Ich bin häufig einfach rausgegangen. Die Klägerin ergänzt: Am nächsten Tag bis 10.00 Uhr haben sie mich mit kaltem Wasser bespritzt und drei Mann haben mich vergewaltigt, bis mein Mann sich gestellt hat. Ich habe mich ungefähr einen Tag, und zwar von 10.00 Uhr bis 11.00 Uhr des nächsten Tages da behalten. Ich bin sehr nervös und sage ihnen vielleicht was Falsches. Mitgenommen bin ich vormittags um 10.00 Uhr."

Aus der Niederschrift geht weiter hervor, dass die Klägerin nach der Befragung zu Boden gefallen war. Daraufhin wurde ein Notarzt gerufen, der sie ärztlich versorgte und ihre vorübergehende Aufnahme im Krankenhaus Henriettenstiftung in Hannover veranlasste.

Mit Urteil vom 20. Juli 2005, auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, wies das Verwaltungsgericht die Klage ab.

Auf den Antrag der Klägerin hat der Senat mit Beschluss vom 14. Dezember 2005 die Berufung gegen das angefochtene Urteil wegen der Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) zugelassen.

Im Laufe des Berufungsverfahrens wurde bekannt, dass sich der Ehemann der Klägerin aufgrund einer am 1. September 2005 begangenen gefährlichen Körperverletzung, für die er zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt worden ist, in Strafhaft befindet. Außerdem wurde ihr Sohn Izzet am 6. April 2006 in die Türkei abgeschoben (vgl. Senatsbeschl. v. 31. 3. 2006 - 11 ME 107/06 -). Die Klägerin legte ein weiteres Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Lorenz vom 8. Dezember 2005 und eine Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises Hildesheim vom 27. Januar 2006 vor.

Die Klägerin beruft sich auch im Berufungsverfahren darauf, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, die auf Vergewaltigungen durch Soldaten in der Türkei zurückzuführen sei, dass im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mit einer Retraumatisierung und einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu rechnen sei und dass die erforderliche psychiatrische Behandlung und Therapie dort nicht erfolgreich durchgeführt werden könne.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Mai 2004 zu verpflichten festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung fest, dass der Klägerin kein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zustehe.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten stellt keinen Antrag.

Mit Beschluss vom 25. April 2006 hat der Senat durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Professor Dr. Machleidt, Medizinische Hochschule Hannover - Zentrum Psychologische Medizin -, Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Beweis darüber erhoben, unter welcher psychischen Erkrankung die Klägerin leidet und welche gesundheitlichen Folgen eine Rückkehr in die Türkei für sie hätte, insbesondere ob im Falle einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einer Retraumatisierung zu rechnen wäre. Auf das daraufhin erstattete fachpsychiatrische Gutachten vom 27. Juli 2006 und die ergänzende Stellungnahme von Professor Dr. Machleidt vom 21. Februar 2007 wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten über die Berufung der Klägerin durch Beschluss, da er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130 a VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerin zu Unrecht abgewiesen. Denn sie hat einen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Ihr würden im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für Leib und Leben drohen.

Bei dem Antrag der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich der Sache nach um einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1-3 VwVfG, weil das Bundesamt bereits in dem ersten Asylverfahren der Klägerin mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 27. November 1995 (unter Nr. 3) festgestellt hatte, dass bei ihr Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens sind hier erfüllt.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 9. Februar 2004 unter Vorlage eines Attestes der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Lorenz ({B.}) vom 24. Januar 2004 erstmals geltend gemacht, an einer schweren chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung mit erhöhter Suizidalität zu leiden. In dem Attest kommt auch zum Ausdruck, dass diese Erkrankung von Vorfluchtereignissen im Zusammenhang mit einem Aufenthalt in einem Karakol in Besiri im Februar 1995 herrühre. Eine Behandlung der Klägerin im Herkunftsland sei wegen der subjektiv empfundenen Gefahr und der objektiven Möglichkeit, dass sie dort mit dem Kreis der Täter konfrontiert werde, fachärztlich auszuschließen. Bereits die Androhung einer Abschiebung löse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Retraumatisierung aus. Allerdings hat die Fachärztin auch eingeräumt, dass die Klägerin ihr gegenüber nicht genügend Vertrauen gehabt hatte, das eigentliche Trauma zu berichten. Die Klägerin habe ihr dazu erklärt, dass sie mit keinem Menschen über die Zeit auf der Polizeistation reden könne, nicht einmal mit ihrer Schwester. Dies änderte sich aber während eines stationären Aufenthalts im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Hildesheim im späteren Verlauf des Jahres 2004. Dort schilderte sie gegenüber einer Ärztin ihres Vertrauens erstmals, dass sie auf einer türkischen Polizeistation nach einer Festnahme und nächtlichem Aufenthalt dreimal vergewaltigt worden sei (vgl. dazu die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Machleidt im Gutachten vom 27. 7. 2006, S. 18, 24 und 31). Damit hat die Klägerin neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vorgelegt und zugleich eine Veränderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG substantiiert behauptet.

Der Klägerin kann nicht entgegengehalten werden, dass sie diese Wiederaufgreifensgründe gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG schon in ihren früheren Asylverfahren hätte geltend machen können.

Allerdings treten nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen die eine posttraumatische Belastungsstörung kennzeichnenden Symptome in der Regel innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Andererseits können sie sich im Einzelfall auch erst mit einer mehrjährigen Verzögerung zeigen und je nach Ausmaß der Funktionsstörungen zu einer andauernden Persönlichkeitsveränderung führen (vgl. zum Vorstehenden Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2004, 150; Marx, Humanitäres Bleiberecht für posttraumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, InfAuslR 2000, 357 f.). Ein derartiger Fall liegt hier - wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Machleidt zweifelsfrei ergibt - vor.

Die Klägerin hatte bereits bei ihrer ersten Anhörung vor dem Bundesamt am 30. August 1995 angegeben, dass ihre ca. 24-stündige Inhaftierung im türkischen Karakol in Besiri "sehr beschämend" gewesen sei. Sie erwähnte in diesem Zusammenhang aber nur Beschimpfungen durch türkische Soldaten, "sonst sei nichts gewesen". Prof. Dr. Machleidt hat die Klägerin auf die damalige Anhörung beim Bundesamt angesprochen. Sie hat dazu erklärt, dass sie in Anwesenheit eines Dolmetschers und des Entscheiders, also von zwei Männern, über die Vergewaltigung nicht habe reden können. Sie habe sich geschämt (S. 18 des Gutachtens v. 27. 7. 2006). Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang das lange Schweigen der Klägerin über das traumatische Ereignis u. a. mit den erheblichen Scham- und Schuldgefühlen sexualtraumatisierter muslimischer Frauen aus traditionellem Milieu erklärt. Bei Bekanntwerden des Geschehenen sei die Ehebeziehung hochgradig gefährdet oder zerstört, der Verbleib in der Familie ebenso wie ein Gesichtsverlust in der Großfamilie und dem Dorf zu befürchten. Bei der Klägerin komme hinzu, dass es sich um eine unausgebildete einfache Frau handele, für die es besonders schwierig sei, mit solchen Erlebnissen umzugehen (S. 33 d. Gutachtens v. 27. 7. 2006).

Zwar wurden bei der Klägerin bereits im Jahre 2001 Depressionen und Angststörungen ärztlicherseits festgestellt, die sich ab dem Jahr 2003 verschlimmerten, doch hätte sie dies nicht zum Anlass nehmen müssen, darauf das Bundesamt im Rahmen des am 21. November 2003 rechtskräftig abgeschlossenen ersten Asylfolgeverfahrens hinzuweisen. § 51 Abs. 2 VwVfG setzt voraus, dass der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen. Ein derartiger Fall liegt hier vor. Aus dem Gutachten von Prof. Dr. Machleidt vom 27. Juli 2006 geht hervor, dass der Klägerin damals nicht hinreichend bewusst war, dass die bei ihr seit dem Jahre 2001 festgestellten seelischen Störungen auf die sexuellen Misshandlungen im Februar 1995 zurückzuführen waren. Dies wurde ihr erst - wie bereits erwähnt - im Laufe der Behandlung bei der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Lorenz und während einer stationären Behandlung im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Hildesheim bekannt (vgl. S. 31 f. des Gutachtens von Prof. Dr. Machleidt v. 27. 7. 2006). Im Übrigen ist in der Wissenschaft anerkannt, dass die Traumatisierung in ihrer Folge zu einem bewussten Vermeiden von Gedanken, Gefahren und Gesprächen mit dem Bezug zum Trauma (Vermeidungsreaktion) ebenso führen kann wie zu traumatypischen Gedächtnisstörungen (vgl. etwa Marx, Gutachten zur Glaubhaftigkeit im Asylprozess, InfAuslR 2003, 21, 23 ff.). Prof. Dr. Machleidt hat ferner darauf hingewiesen, dass die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin progressiv verlaufe. In den Jahren 2004 und 2005 seien zusätzlich psychotische Symptome und eine erhöhte Akuität suizidaler Impulse hinzugekommen (vgl. S. 9-11 des Gutachtens v. 27. 7. 2006). Dies sei auch während der drei stationären Aufenthalte im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Hildesheim festgestellt worden. Das Trauma der Klägerin sei aus seiner unverarbeiteten inneren Latenz durch die ihr gegenüber angekündigten Abschiebedrohungen sequenziell reaktiviert und seine Inhalte aktualisiert worden (S. 30 des Gutachtens v. 27. 7. 2006). Derartige Abschiebedrohungen führten bei der Klägerin zu schweren Beeinträchtigungen ihrer psychischen Verfassung und lebensbedrohender Suizidalität (S. 9 f. u. 12 der ergänzenden Stellungnahme von Prof. Dr. Machleidt v. 21. 2. 2007). Der Senat hält diese Ausführungen des Sachverständigen für plausibel.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat auch keine Zweifel daran, dass die Klägerin mit der Geltendmachung der posttraumatischen Belastungsstörung bzw. der damit einhergehenden Retraumatisierungsgefahr im Februar 2004 die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG gewahrt hat.

Die nach Wiederaufgreifen des Verfahrens erforderliche Sachprüfung ergibt, dass die Beklagte verpflichtet ist, zugunsten der Klägerin das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei festzustellen.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus einer wesentlichen Verschlimmerung einer bereits vorhandenen Erkrankung des Ausländers alsbald nach der Rückkehr in seinen Heimatstaat ergeben. Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung mit einzubeziehen. Dies bedeutet, dass eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht nur dann anzunehmen ist, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit im Herkunftsstaat generell nicht verfügbar ist, sondern auch dann, wenn dem betroffenen Ausländer die an sich vorhandene medizinische Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 17. 10. 2006 - 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33 = DVBl. 2007, 254). Dazu gehört auch der Fall, dass die an sich gegebene Behandlungsmöglichkeit für ihn aus in der Erkrankung selbst liegenden Gründen - beispielsweise bei der Gefahr einer Retraumatisierung - nicht erfolgversprechend ist (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 26. 2. 2007 - 4 UE 1125/05.A -, juris; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 9. 2. 2007 - 10 A 10952/06.OVG -; Schl.-H. OVG, Beschl. v. 28. 9. 2006 - 4 LB 6/06 -; Senatsbeschl. v. 28. 2. 2005 - 11 LB 121/04 -, juris). Nach diesen Kriterien ist der Klägerin Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

Nach Auswertung der von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen Bescheinigungen und Stellungnahmen sowie der im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. Machleidt steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin im Februar 1995 von türkischen Sicherheitskräften vergewaltigt worden ist und aufgrund dessen an einer schweren chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Dies wird inzwischen auch von der Beklagten nicht mehr in Zweifel gezogen. Sie ist aber der Auffassung, dass entgegen der Prognose von Prof. Dr. Machleidt die Gefahr einer Retraumatisierung und einer daraus folgenden Suizidalität nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Aber selbst wenn man eine derartige Gefahr annehmen würde, stünden in der Türkei ausreichende und erfolgversprechende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, welche die Klägerin kostenlos in Anspruch nehmen könnte. Diese Einwände der Beklagten greifen jedoch nicht durch.

Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin im Falle einer Rückführung in die Türkei auf dem Boden der Grunderkrankung einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Depression mit chronischer Suizidalität und Angstsymptomen sowie einer Somatisierungsstörung durch die Konfrontation mit wesentlichen krankheitsreaktivierenden Hinweisreizen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Rechtssinne eine Retraumatisierung verbunden mit einer akuten Suizidalität zu prognostizieren sei, die eine wesentliche oder lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterung darstelle (S. 14 der ergänzenden Stellungnahme). Als entscheidender Triggerreiz für die Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung sei die Begegnung mit Ordnungskräften, d. h. Soldaten, Polizei etc., also den Kräften, denen seinerzeit die Trauma verursachende Misshandlung zuzurechnen sei, anzunehmen (S. 10 f. der ergänzenden Stellungnahme). Die Beklagte hält diese Aussagen für bloße Spekulationen, die einer wissenschaftlichen Grundlage entbehrten. Der Sachverständige stütze sich letztlich nur auf ein einziges Argument, nämlich die exazerbierende Wirkung der Konfrontation mit türkischen Sicherheitskräften. Es gebe aber keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass abstrakt definierte Phänomene wie "eine türkische Sicherheitskraft" Triggerwirkung entfalten könnten. Es gebe auch keine plausiblen Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin landesweit auf Trigger treffe, die ihr nicht auch in Deutschland in ähnlicher Häufigkeit begegneten. Diese Kritik der Beklagten ist aber nach Ansicht des Senats nicht geeignet, die Einschätzung des Sachverständigen ernsthaft in Frage zu stellen.

Prof. Dr. Machleidt geht selbst davon aus, dass für die prognostische Aussage einer Retraumatisierung keine wissenschaftlich abgesicherten und allgemein international verbindlichen Kriterien bestehen. Stattdessen sei ein individuum- und situationsspezifisches Vorgehen aus den Anamnese- und Krankheitsdaten der Betroffenen zu wählen. Damit bewege sich die Prognostik in dieser Frage prinzipiell im Grenzbereich medizinischer Sachaussagen, insbesondere im psychologisch-medizinischen Kompetenzbereich, in dem die Einflussfaktoren und Reaktionsmuster von Menschen durch eine hochgradige Individualität geprägt seien (S. 3 der ergänzenden Stellungnahme). Im vorliegenden Fall sei aber die Irrtumswahrscheinlichkeit aufgrund der klaren Diagnosestellung, der langjährigen Verlaufsbeobachtung und des aktuellen Zustandsbildes im Zusammenhang mit der guten Dokumentation und dem detaillierten Verlaufsmaterial als gering anzusehen bzw. die gemachte Prognose als faktisch empirisch substantiiert zu betrachten (S. 14 f. der ergänzenden Stellungnahme).

Der Sachverständige hat allgemein zur "bisherigen Erfahrungsbildung zur Retraumatisierung" aus fachpsychiatrischer und psychotraumatologischer Sicht Folgendes festgehalten (S. 3-7 der ergänzenden Stellungnahme):

"... wir stimmen darin vor dem Hintergrund unserer breiten Erfahrungsbildung mit anderen Fachkollegen und Autoren (Gierlichs et al., 2005; Haenel, Wenk-Ansohn 2004, ebd. Reichelt u. a.) überein, dass für die individuelle Reagibilität eines traumageschädigten Patienten seine Stressresistenz und Steuerungsfähigkeit hinsichtlich belastender Faktoren ausschlaggebend ist. Besonderen psychischen Gesundheitsrisiken unterliegen Patienten mit Traumatisierungen bei ihrer Rückkehr ins Heimatland wegen der Gefahr der Reaktualisierung durch eine Vielzahl von Hinweisreizen, d. h. durch Reize, die einen unmittelbaren inhaltlichen Bezug zum Trauma haben. Insbesondere Patienten mit psychosenahen oder psychotischen Störungen drohen Realitätsverkennungen und psychotische Wahrnehmungsstörungen bzw. eine akute psychotische Dekompensation. Diese kann als eine Form "psychotischer Weltflucht" interpretiert werden, d. h. einer Flucht aus einer hochgradig angstbesetzten und unerträglichen Gegenwart in die Psychose. Gefährdet sind auch traumatisierte Patienten mit depressiven Zustandsbildern unterschiedlicher Schweregrade wegen der Aktualisierung autoaggressiver Impulsdurchbrüche im Sinne von Suizidversuchen und Suiziden und eines erhöhten Chronifizierungsrisikos. Darüber hinaus ist mit einer Reaktualisierung von Somatisierungsstörungen bei traumatisierten Patienten zu rechnen mit multiplen psychogenen Körperbeschwerden wie z. B. Schmerzen an unterschiedlichen Organsystemen und einer Chronifizierungstendenz. Bei diesem Patientenkreis geduldeter Asylbewerber ist die Abschiebedrohung wesentlich belastender als für gesunde nicht traumatisierte Asylbewerber und es kann bereits bei Androhung einer Abschiebung zu einer Reaktualisierung psychopathologischer Phänomene bzw. zu einer Provokation von Symptomatik kommen, die in Zusammenhang mit dem erlittenen Trauma steht bzw. Teil davon ist. D. h. auch, dass bei Menschen mit Traumastörungen eine im Allgemeine als verkraftbar angesehene Belastung wegen ihrer krankheitsbedingten hohen Vulnerabilität Sympothatik hervorruft. Bekannt ist, dass Menschen, die psychotraumatologisch "vorgeschädigt" sind, eine hohe Verletzlichkeit (Vulnerabilität) im Zusammenhang mit Erlebnissequenzen aufweisen, die einen mehr oder weniger direkten inhaltlichen Bezug zum Traumaerleben haben. Wobei dieser Bezug nicht objektivierend, sondern auf der subjektiven Erlebnisebene hergestellt und deshalb nur schwer objektivierend antizipiert werden kann. Zu den Phänomenen einer reduzierten Belastbarkeit vor dem Hintergrund einer hohen Vulnerabilität ist eine mangelnde Unterscheidungsfähigkeit zwischen gefährlichen und ungefährlichen Situationen zu nennen. "Während es also für gesunde Personen möglich ist, zwischen einer bedrohlichen Vergangenheit (z. B. Festnahme in der Heimat Türkei) und einer ungefährlichen aktuellen Realität (z. B. freundliche deutsche Polizisten bei einer Routinekontrolle) zu unterscheiden, kommt es bei traumatisierten Personen zu einer Aktivierung von mit dem Trauma verbundenen Reizen/situativen Faktoren und zu einer Überflutung mit Bildern der traumatischen Erinnerungen (Flashbacks, Intrusionen, Wiedererinnerungsreaktionen)" (Gierlichts et al., 2005). Es kommt also jenseits einer realistischen Wahrnehmung zu einer angstbesetzten Wahrnehmungsverzerrung einer alltäglichen Situation, wodurch Panikgefühle, innere Unruhe, lähmende Angst sowie Wiedererinnerungen an die erlebte Traumasituation erlebt werden und zu unterschiedlichen irrationalen Reaktionen Anlass geben können. Im Extremfall kann es zu einem Verlust der affektiven Modulation und einer undifferenzierten "fight-or-flight"-Reaktion kommen. Es ist im Individualfall schwer zu prognostizieren, was im Einzelnen das Reaktionsmuster des Betroffenen ausmachen wird, aber es lassen sich aus den symptomatischen Erlebnismustern und den z. B. bei Abschiebungsdrohung erlebten und objektivierten Symptomclustern eine prognostische Aussage ableiten.

Menschen mit traumatischen Entwurzelungen und Verlusten familiärer Mitglieder sind besonders empfindlich gegenüber drohenden oder vollzogenen Trennungserfahrungen. Dies ist auch Teil der oben erwähnten inhärenten Vulnerabilität. Ist eine Abschiebung in das Heimatland vollzogen, so kommt es zu einer Konfrontation mit dem Trauma oder Orten, die dem Ort des Traumas in vielfacher Hinsicht ähneln und mit Personen, "die dem Kreis der Täter in Aussehen oder Handlungsweise ähneln". Diese Konfrontationen bedingen Wiedererinnerungsreaktionen von Traumakontexten und eine Reaktivierung krankheitsbezogener Symptomatik. Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen. Solche Verläufe verschlechtern die Prognose einer posttraumatischen Belastungsstörung erheblich. Auch durch vorhandene therapeutische Einrichtungen und Behandlungsmöglichkeiten kann diese Reaktualisierung psychopathologischen subjektiven Erlebens nicht ohne weiteres bewältigt werden und eine schwere Gefahr für das Leben des Betroffenen resultieren. D. h. eine Behandlung im Heimatland kann eine reaktualisierte und akuisierte posttraumatische Belastungsstörung möglicherweise nicht heilen oder auch nur bessern. Es wird hier im Zusammenhang mit den möglichen Konsequenzen einer Abschiebung auf die von den Ländervertretern und der Bundesärztekammer erstellten Informations- und Kriterienkatalog 2004 verwiesen. Es ist also in jedem Einzelfall wie dem vorliegenden sorgfältig zu prüfen, inwiefern die individuelle psychische Verfassung des Patienten und seiner subjektiven Reaktionsmuster im Falle einer Abschiebung zu einer Reaktualisierung psychopathologischer Phänomene unter dem Bild einer Retraumatisierung prognostisch nachzuvollziehen sind.

Das Konzept der "sequentiellen Traumatisierung" wurde durch Keilson (1978) begründet. Es besagt, dass traumatisierte Menschen bei bestehender Vulnerabilität durch die psychischen Traumafolgen auf Dauer durch zusätzliche Belastungsfaktoren und Bedrohungen, z. B. auch die im Rahmen der Durchführung eines Asylverfahrens bestehenden inhärenten Unsicherheiten, bestehende psychische posttraumatische Störungen reaktualisiert werden und sich dadurch verschlechtern bzw. chronifizieren (Reichelt 2004). Als durch die Umwelt hervorgerufene erlebnisreaktive Störungen werden psychische Traumafolgen lebenslang durch äußere Ereignisse in der Umwelt getriggert. Dies kann geschehen

- in Folge von Reaktualisierung durch besondere Ereignisse im Alltag oder

- in Folge von Retraumasierung, d. h. ein neuerliches Trauma belebt alte Ohnmachtserfahrungen wieder und führt zu erneuter andauernder Verschlechterung des Erkrankungsprozesses.

Hinzuzufügen ist, dass die Prognose etwaiger Erfahrungen in Folge einer Rückkehr in das Herkunftsland von Seiten des BAMF aufgrund einer landesweiten Betrachtungsweise erfolgt. Die Rückkehr wird nicht notwendigerweise dorthin erfolgen müssen aus dieser Sicht, wo die betreffende Person herkommt, sie kann auch an jeden anderen Ort ihres Heimatlandes zurückkehren - jedenfalls in der Theorie."

Ausgehend von diesen Erkenntnissen hat er dann für den Fall der Klägerin u. a. Folgendes ausgeführt (S. 8-14 der ergänzenden Stellungnahme):

"Als eine wichtige Erkenntnis für eine Retraumatisierungsprognostik ist ... festzuhalten, das die Patientin {A.} an einer schweren progressiv verlaufenden und chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Was oben über die Vulnerabilität für traumatisierte Menschen gesagt wurde, gilt insbesondere für traumatisierte Menschen, deren posttraumatische Belastungsstörung (nicht etwa wie dies in 2/3 der Fälle unter günstigen Bedingungen eintritt) eine weitgehende Heilung eingetreten ist, sondern ein Krankheitsprozess fortbesteht, der noch nicht zum Stillstand gekommen ist. Die Vulnerabilität bei einem abgeklungenen bzw. von dem Patienten bewältigten Traumatisierungsereignis ist vorhanden aber gering. D. h. bei Ereignissen (Live-Events), die einen Bezug zum Traumaerlebnis haben, können Symptome reaktualisiert werden, die aber nicht dem Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung entsprechen. Bei einem chronifizierten Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung bestehen die Symptome ohne abzuklingen fort. Die Progression dieses Prozesses bei Frau A. ist dadurch gekennzeichnet, dass im Jahre 2004 und 2005 zusätzlich psychotische Symptome hinzugekommen sind und eine erhöhte Akuität suizidaler Impulse (Seite 9-11 des Gutachtens). Sowohl das psychotische Erleben als auch die Suizidalität sind weiterhin aktuell. Unter psychopathologischen Gesichtspunkten ist diese negative Art des Krankheitsverlaufes vom höchsten Grad der Vulnerabilität und Reaktualisierung akuter Zustände bedroht und mit der schlechtesten Prognose hinsichtlich eintretender negativer Erlebnisereignisse (negative live events) verbunden. Konkret heißt dies im Falle der Patientin {A.}, dass diese schwer beeinträchtigende Verlaufsdynamik zu einer Reaktualisierung des Krankheitsbildes im Rahmen von Abschiebedrohungen geführt hat (Seite 9-11 meines Gutachtens). Es wurden im Vorfeld von Abschiebedrohungen mehrere stationäre Aufenthalt in einer psychia-trischen Klinik erforderlich, bei denen akute psychote Symptome und eine hochgradige Suizidalität festgestellt wurden. Dies sind auch Kennzeichen eines progredienten Verlaufes, dessen schlechte Prognose im Zusammenhang mit dem steht, was ich oben als "sequentielle Traumatisierung" bzw. traumatische Sequenzen" im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichen Verfahren bezeichnet habe. Im Gegensatz zu vielen anderen Asylsuchenden, bei denen solche Abschiebedrohungen einfühlbare Verängstigung und Unsicherheit hervorrufen, führt dies bei der Patientin Frau {A.} zu schweren Beeinträchtigungen ihrer psychischen Verfassung und lebensbedrohenden Suizidalität.

Die von mehreren Fachkolleginnen und Kollegen bei der Patientin Frau {D.} prognostizierte Retraumatisierung (Seite 8 "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit", Seite 12 "schwerwiegende Retraumatisierung...", u. a.) bei Abschiebung in ihr Heimatland muss vor diesem krankheitsspezifischen Hintergrund und psychopathologischen subjektiven Verarbeitungsmodus bei der Patientin verstanden werden. Da der Akt der Abschiebung ein wesentlich schwerwiegenderer Eingriff in das gegenwärtige Leben der Patientin darstellt, als die Abschiebedrohung, muss mit einer höheren Akuität psychopathologischer Symptomatik gerechnet werden. Es kann mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommnen werden, dass die Patientin Frau {A.} bei der Konfrontation mit der realen Rückkehr in ihr Heimatland in eine akute psychotische Dekompensation gerät und darüber hinaus hochgradig suizidal reagiert. Die Reaktion ist bei der Rückkehr in ihren Heimatort in das ostanatolische Dorf in der Nähe von Badban in Besiri in der Provinz Siiert am größten einzuschätzen. Bei einer Rückkehr alleine als Einzelperson wären die Verlustängste, die immer wieder eine Rolle spielen, im Zusammenhang mit Abschiebedrohungen und die sich auf ihren Mann und ihre Kinder beziehen, am höchsten einzustufen. Ohne eine ständige Begleitperson, die auch für den Lebensunterhalt der Patientin sorgt, ist Frau {A.} nicht überlebensfähig. Bei einer Rückkehr nach Istanbul wäre durch die Betreuung durch einen ihrer Söhne, der dort bereits lebt, ihr physisches und soziales Überleben zu sichern. Der drohende Gesichtsverlust durch Bekanntwerden ihrer traumatischen Vorgeschichte bei ihrer Großfamilie und den Nachbarn von früher wäre zweifellos geringer in Istanbul. Ein entscheidendes Kriterium der Retraumatisierung wäre allerdings sowohl im Heimatort als auch in Istanbul oder jedem anderen Ort der Türkei hoch aktuell. Dieses ist der symptomprovozierende Hinweisreiz, den die Begegnung mit Ordnungskräften, d. h. Soldaten, Polizei etc. auslöst, also den Kräften, denen seinerzeit die traumaverursachende Misshandlung zuzurechnen ist. Anknüpfungspunkt ist aus der Anamnese der Patientin ihr Hinweis "es passiert mir z. B., wenn ich meinen Mann ansehe, dass ich in seinem Gesicht das Gesicht von einem Soldaten erkenne, der mich im Karakul entwürdigt hat. Einmal habe ich mit meinem Mann einen Monat nicht gesprochen, weil er so einen kurzen Haarschnitt wie die Soldaten hatte." (Seite 6 und 7 meines Gutachtens). Prognostisch heißt dies, dass türkische Ordnungskräfte als entscheidender Triggerreiz für die Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung und in diesem Sinne einer Retraumatisierung angenommen werden muss. Der erlebnistypische Charakter subjektiver Erlebnisverarbeitungen, die für Retraumatisierungen charakteristisch sind, ist hier voll gegeben. Bei einer zu erwartenden psychotischen Dekompensation angesichts solcher Konfrontationen bedeutet dies eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensqualität und eine Verschlechterung der Verlaufsprognose, ebenso wie der Überlebensprognose hinsichtlich der Suizidalität, auf die unten noch näher eingegangen wird.

Für eine Behandlung dieses Störungsbildes in der Türkei - wenn denn überhaupt eine Behandlung für die Patientin zu erhalten ist (siehe Seite 35 meines Gutachtens) - wären dies Bedingungen, unter denen die Behandlungs- und Heilungsprognose äußerst zweifelhaft ist. Es hieße praktisch, um in einem Bild zu sprechen, man wolle einen Patienten mit einer fieberhaften Influenza unter den Bedingungen eiskalter Güsse und heftiger Zugluft heilen wollen. Die Behandlungsprognose ist unter solchen Bedingungen, wie oben auch erläutert, ungünstig.

Die Patientin Frau {A.} leidet über eine PTBS hinaus an einer mittelgradigen Depression mit Angstsymptomen (siehe Seite 30 meines Gutachtens). Die depressive Erkrankung ist häufig - wie auch bei Frau {A.} - mit dem schwerwiegenden Symptom der Suizidalität verknüpft. Hierauf soll im Folgenden näher eingegangen werden. In den ärztlichen Befunden aus dem Jahre 2001 bis heute werden die Einzelsymptome der Depression im einzelnen beschrieben (Seite 4-13 meines Gutachtens und u. a. auf die erhöhte Suizidgefährdung verwiesen (siehe Seite 6 Mitte und unten "dass ich mir das Leben nehmen möchte"; Seite 7 unten, Seite 8 oben, Mitte, unten, Seite 9 oben, unten; u. a.). Schon im Rahmen der Abschiebedrohung ist es zu eindeutig autodestruktiven Gedanken mit suizidalen Inhalten gekommen. Außerdem wurde während der Exploration ein Suizidversuch mit Tabletten im eigenen Hause von der Patientin selbst und ihrem Sohn berichtet. Von den Fachkollegen, die die Patientin Frau {A.} seit 2002 bis in die Gegenwart behandeln, wird, genau wie vom Unterzeichneten eine erhöhte Suizidalität angenommen, die in eine akute Suizidalität bei einer erhöhten Akuität des gesamten Krankheitsbildes, z. B. in Folge der Abschiebung, umschlägt. Die Patientin hat dem Unterzeichneten gegenüber mehrfach festgestellt, dass sie eine Rückführung nicht überleben würde. Auch während der drei stationären psychiatrischen Aufenthalte im Nieders. Krankenhaus Hildesheim (siehe Seite 10 oben, Seite 11 oben, Seite 12 oben und unten) in den Jahren 2004 und 2005 wurden "akute Suizidabsichten" im Vorfeld der Aufnahme (siehe Seite 10 oben) festgestellt, motiviert allein durch die Abschiebedrohung. Besonders gefürchtet wegen der hohen Realisierungsgefahr sind Suizidgedanken im Zusammenhang mit akustischen Halluzinationen in der Form von imperativen Stimmen, d. h. innere Stimmen, die als akustische Halluzination zu qualifizieren sind, die der Patientin suizidale Handlungen anempfehlen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der Patientin eine chronische, in ihrer Akuität wechselnd ausgeprägte Suizidalität vorliegt, die in Zusammenhang mit Abschiebedrohungen exazerbiert. Bei einer Abschiebehandlung selbst, die einen wesentlich höheren Eingriff in die Lebenswelt der Patientin bedeutet und als "negative live event" qualifiziert werden muss, ist mit einer wesentlich höheren Akuität zu rechnen, so dass ein Umschlag in eine Suizidhandlung prognostisch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Die latenten oder manifesten Suizidgedanken und -handlungen (siehe Suizidversuch) können psychodynamisch wie folgt verstanden werden: die von den türkischen Ordnungskräften erlittenen traumatischen Aggressionen werden bei der Unmöglichkeit, diese an die Verursacher zurückzugeben, von der Patientin gegen die eigene Person gerichtet und finden ihren Ausdruck in Suizidgedanken und dem Versuch, sich das Leben zu nehmen. Diese Gefahr ist bei der Konfrontation mit Ordnungskräften in der Türkei als besonders hoch anzusehen.

Aus der wissenschaftlichen Literatur ist bekannt (Haltenhof, 2004), dass Menschen mit Entwurzelung, Traumatisierung, Trennungserfahrungen, und Depressionen eine mehr als 10fach erhöhte Suizidgefährdung aufweisen, als normativ zu erwarten wäre. Gehört die Einschätzung des Risikos einer Suizidhandlung mit zu den schwierigsten Prognoseaufgaben der psychiatrisch-medizinischen Wissenschaft, so kann doch aus den zahlreichen empirischen Fakten und Ausgangspunkten für die Prognosebeurteilung bei der Patientin Frau {A.} mit einer hochgradigen Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass eine Suizidhandlung begangen wird ggf. mit Todesfolge. Dazu eine Aussage der Patientin: "Und wenn man mir die ganze Welt gäbe, irgendwann bringe ich mich um" (Seite 19 meines Gutachtens).

Darüber hinaus hat die Patientin multiple psychosomatische Beschwerden mit flutuierendem Charakter im Sinne einer Somatisierungsstörung, deren Charakteristik es ist, bei psychischen Belastungen deutlich zuzunehmen und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen.

Therapeutisch gelten dieselben Beurteilungen für die Suizidalität wie sie oben für die Retraumatisierung gemacht wurden. Eine erfolgreiche Therapie der Grunderkrankung PTBS und der damit zusammenhängenden Suizidalität bedürfen einer beruhigten und auf Sicherheit gründenden Lebenssituation. Als Voraussetzung dafür wäre eine geklärte aufenthaltsrechtliche Situation für Frau A. erforderlich. Eine mehrjährige psychotherapeutische Behandlung in einer geklärten Situation kann zum Abklingen der Symptomatik und zur Verbesserung der Lebensqualität erheblich beitragen.

Der Begriff der Retraumatisierungsgefahr ist ein im Zusammenhang mit der PTBS ernstzunehmender medizinisch-psychiatrischer Fachterminus, der implizit all das besagt, was oben an allgemein verbindlichem medizinisch-psychiatrischem Erfahrungswissen referiert wurde und die speziellen individuellen Anknüpfungspunkte und subjektiven Reaktionsmuster der Patientin {A.} umfasst. Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen gefährlichen und ungefährlichen Konfrontationssituationen mit Ordnungskräften in der Türkei ist beeinträchtigt, so dass die Unterscheidung von tatsächlich gefährlichen und ungefährlichen Situationen nicht geleistet werden kann."

Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der von der Beklagten erhobene Vorwurf, die Aussagen des Sachverständigen beruhten auf wissenschaftlich nicht abgesicherten Spekulationen, nicht stichhaltig ist. Vielmehr hat der Sachverständige, der Lehrstuhlinhaber und Direktor der Abteilung Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover ist, die auf eine langjährige Forschungs- und Weiterbildungstradition auf dem Gebiet der Transkulturellen Psychiatrie zurückblicken kann (vgl. kttp://www.99.mh-hannover.de/kliniken/sozialpsychiatrie/trat/html), im Einzelnen nachvollziehbar erläutert, auf welchen Grundlagen die von ihm getroffenen Aussagen zu der Gefahr einer Retraumatisierung beruhen. Er hat in diesem Zusammenhang neben eigenen Forschungsergebnissen auf Veröffentlichungen von Fachkollegen verwiesen und diese bei seinem Gutachten berücksichtigt (vgl. dazu auch die der Stellungnahme beigefügte Literaturliste). Demgegenüber hat sich die Beklagte lediglich allgemein auf Veröffentlichungen von Prof. Dr. Neuner (Universität Konstanz) und auf zwei im Jahre 2006 durchgeführte Fachtagungen des Bundesamtes berufen, ohne sich aber mit den fundierten Ausführungen von Prof. Dr. Machleidt zu den wissenschaftlichen Grundlagen der Prognosebildung bei einer Retraumatisierung näher auseinanderzusetzen. Entgegen ihrer Ankündigung im Schriftsatz vom 24. April 2007 hat die Beklagte auch von der Vorlage einer "methodenkritischen Stellungnahme" des Prof. Dr. Dr. Schneider (Universität Rostock) zu den Gutachten von Prof. Dr. Machleidt Abstand genommen (vgl. Schriftsatz vom 19. 6. 2007).

Ebenso wenig vermag der Senat die Zweifel der Beklagten an der vom Sachverständigen angenommenen Triggerwirkung der Konfrontation der Klägerin mit türkischen Sicherheitskräften zu teilen. Abgesehen davon, dass die Gefahr, uniformierte Personen zu sehen, in der (gesamten) Türkei höher zu veranschlagen ist als im Bundesgebiet (so auch Senatsbeschl. v. 28. 2. 2005, a. a. O.), ist die Einschätzung des Sachverständigen nachvollziehbar, dass wegen der besonderen psychischen Situation der Klägerin, bei der die Unterscheidungsfähigkeit zwischen tatsächlich gefährlichen und ungefährlichen Situationen beeinträchtigt sei, eine Konfrontation mit dem Trauma oder Orten, die dem Ort des Traumas in vielfacher Hinsicht ähnelten und mit Personen, die dem Kreis der Täter in Aussehen oder Handlungsweise ähnelten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dazu führe, dass sie in eine akute psychotische Dekompensation gerate und darüber hinaus hochgradig suizidal reagiere. Nach den in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen ist die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin mit ihren Begleiterkrankungen untrennbar mit der Türkei und der dort erlittenen Traumatisierung verbunden. Die Beklagte kann sich deshalb nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Klägerin auch in Deutschland Trigger wie bestimmte Haarschnitte, Gesichter oder für Sicherheitskräfte typische Aussehensmerkmale in ähnlicher Häufigkeit wie in der Türkei begegneten.

Soweit die Beklagte dem Sachverständigen vorhält, er habe nicht hinreichend zwischen inlandsbezogenen und zielstaatsbezogenen Gefahren unterschieden, geht dieser Einwand fehl. Zwar ist es richtig, dass Prof. Dr. Machleidt ausgeführt hat, dass es im Rahmen von Abschiebedrohungen bei der Klägerin zu einer Reaktualisierung des Krankheitsbildes einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen sei und dass bei ihr auch eine chronische, in ihrer Akuität wechselnd ausgeprägte Suizidalität vorliege, die in Zusammenhang mit Abschiebedrohungen exazerbiere. Diese Ausführungen lassen aber nicht darauf schließen, dass er den Unterschied zwischen zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen, für deren Feststellung das Bundesamt zuständig ist, und inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen, für die die Ausländerbehörden zuständig sind, verkannt hat. Denn aus seinen weiteren Ausführungen geht eindeutig hervor, dass diese Gesundheitsbeeinträchtigungen im Zusammenhang mit Abschiebungsandrohungen lediglich als "erst-recht-Argument" für eine weitere Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Klägerin im Falle einer durchgeführten Abschiebung in die Türkei herangezogen worden sind. Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 17. 10. 2006, a. a. O.) anerkannt, dass eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch dann vorliegen kann, wenn sie durch die bereits vorhandene Krankheit konstitutionell mit bedingt ist.

Unter diesen Umständen hält der Senat auch die Einschätzung des Sachverständigen für plausibel, dass eine erfolgreiche Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung der Klägerin und der damit zusammenhängenden Suizidalität nur außerhalb der Türkei in einer beruhigten und auf Sicherheit gründenden Lebenssituation mit geklärtem Aufenthaltsstatus nach einer mehrjährigen psychotherapeutischen Behandlung möglich ist. Es kommt deshalb entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht darauf an, dass in der Türkei grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten für psychisch Erkrankte, auch für an einer posttraumatischen Belastungsstörung Leidende, vorhanden sind (vgl. dazu Anl. "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei" zum Lagebericht des AA v. 11. 1. 2007). Ebenso wenig musste der Frage nachgegangen werden, ob die Behandlung der Klägerin gegebenenfalls mittels der sogenannten grünen Karte finanzierbar wäre. Denn maßgeblich ist darauf abzustellen, dass für die Klägerin eine Behandlung in der Türkei aus in ihrer Person bzw. in ihrer Erkrankung selbst liegenden Gründen nicht erfolgversprechend ist.

Ende der Entscheidung

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