Judicialis Rechtsprechung
Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:
Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 05.10.2005
Aktenzeichen: 11 ME 247/05
Rechtsgebiete: ARB 1/80, AufenthG, EGBGB, FreizügG-EU, RL 2004/38/EG, RL 64/221/EWG, VwGO
Vorschriften:
ARB 1/80 Art. 14 I | |
AufenthG § 4 I | |
AufenthG § 4 V | |
AufenthG § 55 | |
EGBGB Art. 6 | |
FreizügG-EU | |
RL 2004/38/EG Art. 28 III a | |
RL 64/221/EWG | |
VwGO § 80 VII |
Tatbestand:
Die Beschwerde des Antragstellers bleibt ohne Erfolg.
Mit Beschluss vom 1. Februar 2005 - 1 B 6732/04 - lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs bzw. seiner Klage gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. November 2003 verfügte Ausweisung ab. Der Senat wies die Beschwerde des Antragstellers durch Beschluss vom 6. Juni 2005 - 11 ME 39/05 - (NVwZ-RR 2005, 654) zurück. Mit einem am 28. Juni 2005 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Schriftsatz begehrte der Antragsteller die Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses vom 1. Februar 2005. Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. Juli 2005 ab. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Abs. 5 jederzeit ändern oder aufheben. Nach Satz 2 dieser Vorschrift kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beantragen. Allerdings schließt das Fehlen der Voraussetzungen für einen Antrag nach Satz 2 nicht aus, dass das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 von Amts wegen von seiner Abänderungsbefugnis Gebrauch macht, um einer nachträglich anderen Beurteilung der Sach- und/oder Rechtslage Rechnung zu tragen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 80 Rdnr. 190 u. 196). In einem solchen Fall kann ein unzulässiger Antrag in eine Anregung, ein Abänderungsverfahren von Amts wegen einzuleiten, umgedeutet werden (vgl. Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl., § 80 Rdnr. 67; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rdnr. 1031). Eine derartige Umdeutung kommt hier in Betracht.
Die Beteiligten haben nur bei veränderten oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachten Umstände, die geeignet sind, eine Änderung der Entscheidung herbeizuführen, einen Anspruch nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO (vgl. Kopp/ Schenke, a.a.O., § 80 Rdnr. 197; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 3. Aufl., § 80 Rdnr. 135). Dies gilt auch dann, wenn sich nachträglich eine Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Rechtslage ergeben hat. Dazu gehört eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder die höchstrichterliche Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage. Der Antragsteller beruft sich insofern auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (Urt. v. 2.6.2005 - Rs.C-136/03 -, EuGRZ 2005, 319 = InfAuslR 2005, 289) und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes (Beschl. v. 2.5.2005 - 12 TG 1205/05 -, InfAuslR 2005, 295). Der letztgenannte Beschluss stellt jedoch keine höchstrichterliche Entscheidung dar und ist im Übrigen auch im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ergangen. Ob Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes als höchstrichterliche Rechtsprechung in diesem Sinne anzusehen sind, kann offen bleiben. Jedenfalls wirkt sich das Urteil vom 2. Juni 2005 (a.a.O.) nicht auf die Beurteilung der hier streitigen Frage der Anwendbarkeit der in der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 niedergelegten materiell-rechtlichen Grundsätze über den Schutz vor Ausweisung zugunsten des Antragstellers aus. Denn dieses Urteil betrifft die Verfahrensgarantien der Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964, die nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes auch für türkische Staatsangehörige gelten, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 zukommt. Zwar ist diese Richtlinie durch die Richtlinie 2004/38/EG abgelöst worden (vgl. deren Art. 31 Abs. 1), doch geht es im vorliegenden Verfahren nicht um gemeinschaftsrechtliche Grundsätze, die nur verfahrensrechtlichen Gehalt haben.
Gleichwohl hindert das Fehlen der Voraussetzungen der § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO den Senat - wie bereits erwähnt - nicht, nunmehr von Amts wegen nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO eine Abänderungsentscheidung zu treffen. Dabei bleibt der Streitgegenstand derselbe wie im Ausgangsverfahren, so dass die gleichen Grundsätze wie bei § 80 Abs. 5 VwGO maßgebend sind (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 80 Rdnr. 196). Der Senat sieht aber keinen Anlass, die Rechtslage anders als in seinem Beschluss vom 6. Juni 2005 (a.a.O.), mit dem er die Beschwerde gegen den ursprünglichen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 1. Februar 2005 (a.a.O.) zurückgewiesen hat, zu beurteilen.
Der Senat hat sich im Beschluss vom 6. Juni 2005 (a.a.O.) auf den Standpunkt gestellt, dass der Ausweisung des Antragstellers voraussichtlich nicht der gemeinschaftsrechtliche Verhältnismaßstab entgegen stehe. Allerdings darf nach Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG eine Ausweisung gegen Unionsbürger nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt werden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben. Damit darf die Ausweisung von Mitgliedern dieser Personengruppe nur aus Gründen erfolgen, die über die für eine Ausweisung an sich hinreichenden schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinaus gehen (Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG). Würde man diese Regelung auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige erstrecken, die länger als zehn Jahre im Aufnahmemitgliedstaat gelebt haben, würde dies auch dem mittlerweile 26 Jahre alten Antragsteller zugute kommen, da er seit seiner Geburt ununterbrochen in Deutschland lebt. Diese Regelung ist aber aus mehreren Gründen auf den Antragsteller zumindest derzeit nicht anwendbar.
Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG läuft erst am 30. April 2006 ab (Art. 40 und 41). Vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfaltet eine Richtlinie keine unmittelbare Wirkung (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 4.7.2005 - 18 B 1635/04 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 -, InfAuslR 2005, 296 = NVwZ 2005, 1098; BayVGH, Urt. v. 7.4.2005 - 14 B 02.30878 -). Richtlinien wenden sich gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV allein an die Mitgliedstaaten. Ein Einzelner kann sich vor den nationalen Gerichten auf eine Richtlinie erst nach Ablauf der für ihre Umsetzung in das nationale Recht vorgesehenen Frist berufen (vgl. EuGH, Urt. v. 17.9.1997 - Rs.C-54/96 -, NJW 1997, 3365 und Urt. v. 3.3.1994 - Rs.C-316/93 -, Slg. I 1994, 763, 784). Nur in den Fällen, in denen ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat, und der Inhalt der Richtlinie eindeutig ist, besteht eine Verpflichtung der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts (vgl. etwa BGH, Urt. v. 5.2.1998 - I ZR 211/95 -, BGHZ 138, 55 = NJW 1998, 2208). Allerdings haben die nationalen Gerichte die Möglichkeit, im Hinblick auf Art. 10 Abs. 2 EGV schon ab Inkrafttreten einer Richtlinie insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe des nationalen Rechts - wenn auch ohne Berufung auf den gemeinschaftsspezifischen Anwendungsvorrang und nicht im Gegensatz zu sonstigen nationalen Vorschriften - richtlinienkonform auszulegen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.5.2005, a.a.O.). Eine Rechtspflicht hierzu ergibt sich im Ausländer- und Asylrecht jedoch regelmäßig erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist bzw. - wenn zuvor erfolgt - Verkündung des Umsetzungsgesetzes. Dies bedeutet zugleich, dass sich ein Ausländer zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht mit Erfolg auf einzelne Richtlinienvorgaben berufen kann (so zu Recht VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.5.2005, a.a.O.). Schon aus diesen Gründen ist dem Antragsteller eine Berufung auf Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG verwehrt. Es kann somit letztlich offen bleiben, ob diese Bestimmung überhaupt auf den Antragsteller als Kind türkischer Arbeitnehmer anwendbar ist. Daran könnten - wie der Senat bereits im Beschluss vom 6. Juni 2005 (a.a.O.) ausgeführt hat - schon deshalb Zweifel bestehen, weil die Richtlinie 2004/38/EG nach ihrem Wortlaut (nur) für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie enthält sogar eine weitere Einschränkung, als in ihm nur von Unionsbürgern, nicht aber von deren Familienangehörigen die Rede ist.
Der Senat verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. etwa Urt. v. 10.2.2000 - Rs.C-340/97 -, DVBl. 2000, 550; Urt. v. 11.11.2004 - Rs.C-467/02 -, DVBl. 2005, 103; Urt. v. 2.6.2005, a.a.O.) die in Art. 39 ff. EGV verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden sollen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen. Eine solche Auslegung sei durch das in Art. 12 des Assoziationsabkommens genannte Ziel gerechtfertigt, schrittweise die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer herzustellen. Da andererseits aber eine völlige Gleichstellung mit Unionsbürgern nicht festzustellen ist (vgl. Wenger, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Kreher, Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 2005, § 1 AufenthG Rdnr. 10), ist der nationale Gesetzgeber nicht gehindert, auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige das allgemeine Ausländerrecht unter Berücksichtigung der Sonderstellung dieses Personenkreises für anwendbar zu erklären (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 16.3.2005 - 18 B 1751/04 -). Dementsprechend wird in § 4 Abs. 1 und 5 AufenthG davon ausgegangen, dass für Ausländer, denen nach dem ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht zusteht, grundsätzlich das Aufenthaltsgesetz in vollem Umfang und nicht nur - wie für Unionsbürger durch § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG und durch die Verweisung in § 11 Abs. 1 FreizügG-EU geregelt - in eingeschränktem Umfang gilt (vgl. Zimmermann-Kreher, a.a.O., § 1 FreizügG-EU Rdnr. 13). Auch das FreizügG-EU erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich Unionsbürger und deren Familienangehörige (vgl. dessen § 1).
Allerdings genießt ein türkischer Staatsangehöriger, der ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 besitzt, erhöhten Ausweisungsschutz und kann sich auf weitere Begünstigungen berufen (vgl. Dörig, Erhöhter Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige, DVBl. 2005, 1221). Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 darf er nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit ausgewiesen werden. Eine Ausweisung wegen Störung der öffentlichen Ordnung darf deshalb nur dann erfolgen, wenn "eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt" (EuGH, Urt. v. 10.2.2000, a.a.O.). Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann daher lediglich aus spezialpräventiven, nicht auch aus generalpräventiven Gründen erfolgen. Außerdem sind auf ihn nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 3.8.2004, a.a.O.; bestätigt durch Urt. v. 15.3.2005 - 1 C 2.04 -) die Vorschriften über die zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG und die Regel-Ausweisung nach § 54 AufenthG nicht anwendbar. Vielmehr bedarf es insoweit einer Ermessensausweisung gemäß § 55 AufenthG. Darüber hinaus dürfen assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nur ausgewiesen werden, wenn die von ihnen ausgehende Gefahr noch gegenwärtig ist. Das hat zur Folge, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.1004, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, a.a.O.). Schließlich ergibt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 2. Juni 2005 (a.a.O.) als weitere Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung, dass vor Abschluss des behördlichen Verfahrens - außer in dringenden Fällen - noch eine unabhängige Stelle neben der Ausländerbehörde zu beteiligen ist, in aller Regel also ein Widerspruchsverfahren durchzuführen ist. Dem hat sich auch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 13. September 2005 - 1 C 7.04 - angeschlossen (vgl. Pressemitteilung Nr. 46/2005 v. 13.9.2005).
Aber selbst wenn man entgegen den vorstehenden Darlegungen der Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes (Beschl. v. 2.5.2005, a.a.O.) folgen würde, dass der von der Richtlinie 2004/38/EG vermittelte Ausweisungsschutz schon vor deren unmittelbarer Anwendbarkeit dem heutigen gemeinschaftsrechtlichen Stand der Freizügigkeitsrechte entspreche und bei der Entscheidung über die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu berücksichtigen sei, würde dies dem Antragsteller nicht weiterhelfen. Denn der Hessische Verwaltungsgerichtshof gelangt nicht zu dem Ergebnis, dass ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger mit über 10-jährigem Inlandsaufenthalt nur - wie in Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG für einen Unionsbürger vorgesehen - aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden darf, sondern er hält lediglich "eine spezifische Berücksichtigung und Gewichtung des Umstandes, dass ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, in den Ermessenserwägungen einer Ausweisungsverfügung" für erforderlich. Damit geht auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof generell von der Anwendbarkeit des § 55 AufenthG aus. Im vorliegenden Fall haben die Antragsgegnerin und sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Senat den genannten Umstand berücksichtigt, ihm jedoch keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen, da das Verhalten des Antragstellers bis zum heutigen Zeitpunkt die Besorgnis rechtfertige, er werde auch in Zukunft weitere schwere Straftaten begehen. Zwar sollte der Antragsteller am 23. Juli 2004 vorzeitig aus der Haft gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB entlassen werden, doch hob die zuständige Strafvollstreckungskammer ihre entsprechende Entscheidung wieder auf, nachdem er während eines Hafturlaubs am 11. Juli 2004 nach einer Streitigkeit bei einer Geburtstagsfeier in einem türkischen Lokal versucht hatte, einen Landsmann mit zwei Küchenmessern zu töten, wobei dieser eine Schnittverletzung im Mittelbauch davon trug. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Antragsgegnerin soll der Antragsteller deswegen mit - allerdings noch nicht rechtskräftigem - Urteil vom 8. April 2005 wegen versuchten Totschlags zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sein. Von daher kann auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Antragsteller in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ihm keine günstige Sozialprognose gestellt werden, zumal er bereits in der Vergangenheit mehrfach wegen vorsätzlicher Körperverletzung bestraft worden war.
Dem gegenüber ist der Antragsteller der Auffassung, dass die Schranken des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG heute schon dem Gemeinschaftsrecht inne wohnten und deshalb bei einer nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu beurteilenden Ausweisung zu beachten seien. Der Antragsteller, der sich dabei auf einen voraussichtlich demnächst im Informationsbrief Ausländerrecht erscheinenden Aufsatz von Gutmann stützt (Bl. 123-125 GA), leitet dies zum einen aus den Erwägungsgründen der Richtlinie 2004/38/EG her, die verdeutlichten, dass die in der Richtlinie niedergelegten Grundsätze über den Schutz vor Ausweisung bereits dem heutigen gemeinschaftsrechtlichen Stand der Freizügigkeitsrechte entsprächen. Zum anderen markiere die Richtlinie 2004/38/EG die Grenzen, die der gemeinschaftsrechtliche Gesetzgeber dem ordre public-Vorbehalt zuordne. Dieser begrenze die Befugnis der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten. Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG präzisiere lediglich den gemeinschaftsrechtlichen Schutz vor Ausweisungen, ohne ihn grundlegend zu erweitern. Es sei deshalb auch gegenüber Personen anzuwenden, die ihr Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 herleiteten. Die in Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene abstrakt-generelle Regelung ergebe sich bereits aus dem EG-Vertrag, so dass es des Rechtsgedankens einer Vorwirkung der Richtlinie nicht bedürfe.
Diese - soweit ersichtlich - bisher vereinzelt gebliebene Ansicht, die zudem zu der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Ermessensausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen in Widerspruch steht, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der in Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG verankerte weitgehende Ausweisungsschutz jedenfalls im Hinblick auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige schon dem heutigen gemeinschaftsrechtlichen Stand der Freizügigkeitsrechte entspricht.
Mit der Richtlinie 2004/38/EG sind die bislang bereichsspezifischen und fragmentarischen Regelungen der Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Selbständige und Dienstleistende durch Schaffung eines einheitlichen Rechtsaktes über die Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf der Grundlage zweier Kommissionsvorschläge abgelöst worden. Allerdings setzte der Europäische Rat in wesentlichen Punkten Änderungen gegenüber weitergehenden Vorschlägen der Kommission und des Europäischen Parlaments in Bezug auf den Zugang von Unionsbürgern zu sozialen Leistungen und einen absoluten Schutz vor Ausweisung durch (vgl. Hailbronner, Neue Richtlinie zur Freizügigkeit der Unionsbürger, ZAR 2004, 259). Die Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG stellen deshalb einen Kompromiss dar und können nicht in ihren einzelnen Ausgestaltungen als dem EG-Vertrag von vornherein immanent angesehen werden. Soweit es hier von Interesse ist, enthält die Richtlinie 2004/38/EG folgende Neuerungen: Nach über fünfjährigem Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat sind Ausweisungen von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen nur noch aus besonders schwerwiegenden Gründen zulässig (vgl. Erwägungsgrund 24 der Richtlinie und Art. 16 und 28 Abs. 2 der Richtlinie). Nach über zehnjährigem Aufenthalt dürfen Unionsbürger nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden (Art. 28 Abs. 3 a). Grundsätzlich werden damit alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich aufgrund der Richtlinie 2004/38/EG in einem Mitgliedstaat aufhalten, Inländern gleichgestellt. Dass diese Richtlinie aber derzeit nicht unmittelbar anwendbar ist, da die Umsetzungsfrist erst am 30. April 2006 abläuft, hat der Senat bereits dargelegt. Es erscheint außerdem fraglich, ob sich assoziationsberechtigte türkische Staatsangehöriger überhaupt auf den durch Art. 28 Abs. 3 gewährleisteten weitgehenden Abschiebungsschutz berufen können. Dazu wird auf die obigen Erwägungen des Senats verwiesen. Auch der Europäische Gerichtshof lässt in seinem neuesten Urteil vom 7. Juli 2005 - Rs.C-383/03 - (InfAuslR 2005, 350 = DVBl. 2005, 1258), das einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit über 30-jährigem Aufenthalt in Österreich betrifft, nicht erkennen, dass eine völlige Gleichstellung mit einem Unionsbürger geboten ist. Vielmehr legen seine Ausführungen, dass eine Ausweisungsmaßnahme, die auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gestützt ist, nur dann beschlossen werden könne, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeute, nahe, dass die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zumindest derzeit nicht am Maßstab des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG gemessen werden kann.
Das in diesem Zusammenhang zusätzlich vom Antragsteller angeführte Argument des ordre public-Vorbehalts führt ebenfalls nicht weiter. Wie sich aus Art. 6 EGBGB ergibt, ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates (das würde entsprechend auch für EU-Recht gelten) nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Auch der Europäische Gerichtshof weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen darf (vgl. etwa Urt. v. 16.6.2005 - Rs.C-105/03 -, DVBl. 2005, 1189). Andererseits dürfen die Mitgliedstaaten für die Betroffenen günstigere Regelungen nach Art. 37 der Richtlinie 2004/38/EG beibehalten. Im Hinblick auf die türkischen Staatsangehörigen gilt nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers aber - wie bereits ausgeführt - bis auf Weiteres das allgemeine Ausländerrecht, wobei allerdings die oben beschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Privilegien derjenigen türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 haben, zu beachten sind. Welche Rechtsfolgen sich insofern nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 30. April 2006 ergeben könnten, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, bei dem es auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Antragstellers im jetzigen Zeitpunkt ankommt.
Ende der Entscheidung
Bestellung eines bestimmten Dokumentenformates:
Sofern Sie eine Entscheidung in einem bestimmten Format benötigen, können Sie sich auch per E-Mail an info@protecting.net unter Nennung des Gerichtes, des Aktenzeichens, des Entscheidungsdatums und Ihrer Rechnungsanschrift wenden. Wir erstellen Ihnen eine Rechnung über den Bruttobetrag von € 4,- mit ausgewiesener Mehrwertsteuer und übersenden diese zusammen mit der gewünschten Entscheidung im PDF- oder einem anderen Format an Ihre E-Mail Adresse. Die Bearbeitungsdauer beträgt während der üblichen Geschäftszeiten in der Regel nur wenige Stunden.