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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 19.03.2003
Aktenzeichen: 4 LB 111/02
Rechtsgebiete: BSHG, SGB VIII
Vorschriften:
BSHG § 39 | |
BSHG § 40 I Nr. 3 | |
SGB VIII § 35a | |
SGB VIII § 36 | |
SGB VIII § 5 II | |
SGB VIII § 6 III | |
SGB VIII § 78b |
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Übernahme von Kosten für eine Internatsunterbringung in England im Rahmen der Gewährung von Jugendhilfe.
Die am 01.06.1989 geborenen Klägerinnen sind Zwillinge. Bei beiden wurden "Cerebrale Dysfunktion bei Zustand nach Risiko-Zwillingsschwangerschaft, FG, sensomotorische Wahrnehmungsstörung, Muskeltonusdysregulation, Sprachentwicklungsverzögerung" diagnostiziert (Arztberichte Dr. G., Zentrum für Kindesentwicklung - Sozialpädiatrisches Zentrum -,H., vom 16.12.1997). Das Versorgungsamt Hannover erkannte beide Kinder mit Bescheiden vom 30.09.1999 als schwerbehindert mit dem Grad der Behinderung (GdB) 50 an.
Die Klägerin zu 1) besuchte nach Zurückstellung vom Schulbesuch 1995/1996 zunächst den Schulkindergarten und ab dem Schuljahr 1996/1997 die erste Klasse der I. Schule in J., einer Schule für Sprachbehinderte. Zum 22.04.1998 wechselte die Klägerin zu 1) an die K. Schule, eine Schule für Lernhilfe. Im Schuljahr 1998/1999 nahm sie dort am Unterricht der zweiten Klasse teil.
Die Klägerin zu 2) wurde ebenfalls im Schuljahr 1995/1996 vom Schulbesuch zurückgestellt und besuchte zunächst den Schulkindergarten, in den folgenden Schuljahren die erste und die zweite Klasse der Ratsschule L.. Zum 22.04.1998 wechselte die Klägerin zu 2) an die K. -Schule. Mit Zeugnis vom 22.07.1998 wurde sie in die dritte Klasse versetzt und nahm im Schuljahr 1998/1999 zunächst dort am Unterricht teil.
Im Oktober 1998 wurden die beiden Klägerinnen aufgrund erheblicher Verhaltensauffälligkeiten von ihren Eltern in das B. College in England umgeschult. An diesem Internat mit Regelbeschulung wird für Kinder mit Lernbehinderungen und Legasthenie Einzelunterricht und Unterricht in Kleinklassen durchgeführt. Die Kosten des Schulbesuchs betragen laut Bescheinigung der Schule vom 18.02.2000 für die Klägerin zu 1) jährlich £ 8.063 und für die Klägerin zu 2) £ 8955.
Am 26.08.1999 beantragten die Eltern der Klägerinnen beim Landkreis Hannover die Gewährung von Eingliederungshilfe. Dazu legten sie ein am B. College erstelltes psychologisches Gutachten vom 26.11.1999 vor, wonach die Klägerinnen seit ihrer Aufnahme erhebliche Fortschritte gemacht hätten. Der Landkreis lehnte die Anträge mit Bescheid vom 28.03.2000 ab, da weder eine seelische Behinderung der Klägerinnen erkennbar sei noch eine solche drohe. Die Klägerinnen erhoben Widerspruch und legten ein weiteres an der Schule erstelltes psychologisches Gutachten vom 16.06.2000 vor, wonach sich ihre Situation durch die Förderung in dem Internat verbessert habe und es derzeit keine Hinweise auf emotionale oder psychische Störungen mehr gebe. Der Landkreis wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2000, zugestellt am 03.08.2000, zurück und ergänzte die bisher gegebene Begründung dahin, das B. College sei keine Einrichtung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte oder von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche.
Mit der am 04.09.2000 erhobenen Klage haben die Klägerinnen ihr Begehren weiterverfolgt und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
Im April 2001 wurden sie von der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. N. und dem Dipl.-Psychologen und Psychoanalytiker N. untersucht. Mit Befundbericht vom 25.05.2001 stellten die Gutachter fest: Bei den Klägerinnen bestehe eine Lernbehinderung mit dringendem schulischen Förderbedarf. Das Verbleiben im B. College und die Fortsetzung der dortigen Förderung seien notwendig, sonst drohe bei beiden Kindern eine schwere seelische Behinderung.
Das Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht lehnte den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ab (Beschluss vom 29.08.2001 - 9 B 2703/01). Die Beschwerde blieb beim erkennenden Senat nach Anhörung der Gutachter ohne Erfolg (Beschluss vom 20.12.2001 - 4 MB 3671/01).
Die Klägerinnen haben zur Begründung ihrer weiterverfolgten Klage auf die bisherigen Untersuchungsergebnisse verwiesen und ergänzend vorgetragen: Die Fortsetzung des Besuchs des B. College sei eine notwendige Maßnahme zur Verhütung einer ihnen sonst drohenden seelischen Behinderung. Eine Alternative gebe es nicht. Deshalb habe der Landkreis die Kosten ihrer Betreuung in dem Internat im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen. Für das Sommertrimester 1999 (nur Sommer und Herbst) seien für sie beide insgesamt Schulkosten aufgewendet worden in Höhe von £ 12.584,75 (= 38.862,65 DM) und für das Sommertrimester 2000 (nur Frühjahr und Sommer) in Höhe von £ 10.885,68 (= 36.189,35 DM).
Die Klägerinnen haben beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihnen wirtschaftliche Jugendhilfe in Form der Übernahme der Kosten im Internat B. College für die Zeit des Sommertrimesters 1999 bis einschließlich Sommertrimester 2000 in Höhe von 75.051,88 DM zu bewilligen und den Bescheid des Landkreises Hannover vom 28.03.2000 sowie seinen Widerspruchsbescheid vom 31.07.2000 aufzuheben, soweit sie diesem Begehren entgegenstehen,
hilfsweise
ein Sachverständigengutachten über ihre drohende seelische Behinderung einzuholen.
Der Landkreis Hannover als Rechtsvorgänger der Beklagten hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat zur Begründung vorgetragen: Sein Jugendamt sei vor Antragstellung (am 26.08.1999) nicht mit dem Fall befasst worden. Es habe keine Möglichkeit gehabt, andere Möglichkeiten der Förderung oder Therapie zu suchen. Auch ein Hilfeplan habe nicht erstellt werden können. Eine bestehende oder drohende seelische Behinderung der Klägerinnen sei bis zur Klageerhebung nicht diagnostiziert worden. Die vorgelegten Gutachten stellten spezifische Lernschwächen fest, für die verschiedene kompensierende Maßnahmen denkbar seien. Die Vermittlung einer schulischen Ausbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht sei gegenüber Maßnahmen der Eingliederungshilfe vorrangig. Schließlich lasse das Gutachten der Gutachter N., an deren Objektivität Zweifel bestünden, den Rückschluss auf eine drohende seelische Behinderung nicht zu.
Das Verwaltungsgericht - Einzelrichter der 9.Kammer - hat die Klage mit Urteil vom 29.08.2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs.1 SGB VIII erhielten nur Kinder, die seelisch behindert oder von einer seelischen Behinderung im Sinne der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 26.11.1998 - FEVS 49,487 [488]) bedroht seien. Eine seelische Behinderung habe bei den Klägerinnen jedenfalls im maßgebenden Zeitraum nicht vorgelegen. Zur Beantwortung der Frage, ob ihnen eine solche Behinderung gedroht habe oder bei Verlassen des Internats drohe, sei eine Prognose anzustellen. Eine drohende seelische Behinderung sei insoweit aus der Vorgeschichte der Kinder, d.h. den Ereignissen, Gutachten und Stellungnahmen vor Eintritt in das B. College, nicht abzuleiten. Sie könne auch nicht auf die am Internat erstellten Gutachten vom 26.11.1999 und 16.06.2000 gestützt werden. Ebenso wenig rechtfertige der Bericht der Gutachter N. eine entsprechende Prognose. Konkrete Gründe für die dort getroffenen abweichenden Aussagen seien nicht ersichtlich. Bei einer Rückkehr der Klägerinnen nach Deutschland stehe ein umfangreiches Schulangebot zur Verfügung, um die vorliegenden Lernbehinderungen angemessen zu berücksichtigen. Der Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens bedürfe es nicht.
Daneben stehe dem Anspruch auch die Vorschrift des § 78 b SGB VIII entgegen. Danach sei Voraussetzung für die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Übernahme von Entgelten für Leistungen, dass die leistende Einrichtung Vereinbarungen über Leistung, Entgelt und Qualitätsentwicklung geschlossen habe. Solche Vereinbarungen gebe es mit dem B. College nicht. Eine ausnahmsweise Kostenübernahme komme nicht in Betracht, weil es an einer konkreten Hilfeplanung für die Klägerinnen fehle und sie ohne Abstimmung mit dem Jugendhilfeträger an das College gewechselt seien. So hätten sie dem Jugendhilfeträger die Möglichkeit genommen, gemeinsam mit ihnen eine geeignete Schule zu suchen.
Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts wenden sich die Klägerinnen mit ihrer vom Senat mit Beschluss vom 08. März 2002 wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs.2 Nr.2 VwGO) zugelassenen Berufung. Sie tragen vor:
Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ergebe bereits ihre umfangreiche Vorgeschichte und ihre vorgetragenen Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Deutschland eine seelische Behinderung drohe. Dies werde auch von den Gutachtern N. bestätigt. Die abweichende Auffassung des Verwaltungsgerichts überzeuge nicht. Es hätte vielmehr bei Zweifeln ein neues Sachverständigengutachten einholen müssen. Neuere Stellungnahmen des Lehrers, des Schulleiters und der Hausmutter des Internats zeigten, dass ihnen, den Klägerinnen, schwere seelische und emotionale Schäden drohen würden, wenn sie aus dem College herausgenommen werden müssten. Bereits jetzt zeigten sich bei ihnen neue seelische Auffälligkeiten, nachdem ihnen diese Möglichkeit bekannt geworden sei.
Die Klägerinnen beantragen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 9. Kammer - vom 29. August 2001 zu ändern und den Bescheid des Landkreises Hannover vom 28. März 2000 und dessen Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 2000 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihnen Jugendhilfe in Form der Übernahme der Kosten für die Betreuung im Internat B. College in der Zeit vom Sommertrimester 1999 bis einschließlich Sommertrimester 2000 in Höhe von 75.051,88 DM zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide und hebt insbesondere hervor, dass die Eltern der Klägerinnen Eingliederungshilfe erst beantragt hätten, nachdem die Kinder das Internat bereits fast ein Jahr lang besucht hätten, so dass der Jugendhilfeträger keine Möglichkeit gehabt habe, selbst angemessene Hilfemaßnahmen zu planen und den Klägerinnen anzubieten.
Der Senat hat Beweis darüber erhoben, ob die Klägerinnen in dem hier maßgeblichen Zeitraum seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht waren und ob, falls diese Frage bejaht wird, ihre Unterbringung im B. College eine geeignete und erforderliche Maßnahme war, um die vorhandene oder drohende Behinderung und deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die Klägerinnen in die Gesellschaft einzugliedern, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens der Landesärztin Med.-Dir. P., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 29.10.2002 (Bl. 199 - 252 der Gerichtsakte) und die mündlichen Erläuterungen dazu durch die Sachverständige Med.-Dir. P. (Verhandlungsniederschrift vom 19.03.2003) verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerinnen zu Unrecht abgewiesen. Ihnen steht ein Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII in Verbindung mit §§ 39 Abs. 3, 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG - jeweils in der hier anzuwendenden, bis zum 30. Juni 2001 gültig gewesenen Fassung - durch Übernahme der Kosten ihrer Betreuung im B. College in England in der Zeit vom Sommertrimester 1999 bis einschließlich Sommertrimester 2000 in Höhe von 75.051,88 DM zu.
Die Klägerinnen haben dem Grunde nach einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, da ihnen eine seelische Behinderung droht.
Von einer seelischen Behinderung, d.h. einer Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft aufgrund einer seelischen Störung (§ 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i. V. m. § 3 Satz 1 EingliederungshilfeVO), bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, aber ihr Eintritt nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 5 EingliederungshilfeVO). Zu der entscheidenden Frage, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen, tritt also die Prognoseentscheidung, ob und gegebenenfalls wann mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist (vgl. dazu: BVerwG, Urt. v. 26.11.1998 - BVerwG 5 C 38.97 - FEVS 49, 487).
Anhand dieser Maßstäbe nimmt der Senat aufgrund des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens der Med.-Dir. P. vom 29.10.2002 an, dass bei der Klägerin zu 1) im Zeitpunkt der Umschulung in das B. College im Herbst 1998 bereits eine seelische Behinderung vorlag. Die Gutachterin hat insoweit nachvollziehbar und schlüssig dargelegt und auch in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage bestätigt, dass und wie sich bei der Klägerin zu 1) die spezifischen Störungen der Dyslexie und des ADS-Syndroms zu einer schweren emotionalen Blockade im schulischen Bereich entwickelten. Sie führt dazu u.a. aus (S.50 des Gutachtens): " Wir kommen somit zu der Auffassung, dass bei S. in dem fraglichen Zeitraum deutliche Hinweise vorliegen, dass bei S. eine seelische Behinderung vorgelegen hat." Im Vergleich dazu ist die Symptomatik bei der Klägerin zu 2) im Zeitpunkt der Einschulung in England ebenso, jedoch nicht so ausgeprägt vorhanden gewesen (vgl. S.53 des Gutachtens). Bei dieser Einschätzung hat die Sachverständige auch die hier besonders bedeutsame Beziehung zwischen den Zwillingsschwestern hervorgehoben. Die bei den Klägerinnen im Zeitpunkt der Einschulung in das B. College bereits vorhandene oder jedenfalls drohende seelische Behinderung hat auch im hier maßgeblichen Zeitraum von Sommer 1999 bis Sommer 2000 fortbestanden. Die Gutachterin lässt insoweit keinen Zweifel daran, dass bei einer Rückkehr der Mädchen nach Deutschland in diesem Zeitraum für beide eine - erneute - seelische Behinderung zumindest gedroht hätte. Die in England erfahrene Unterstützung und Beschulung hingegen haben bei den Kindern zu einer erheblichen Verbesserung geführt. Die bei der Klägerin zu 1) vorhandene seelische Behinderung ist gemildert worden und die Beschulung im B. College hat sie befähigt, sich in die Gesellschaft einzugliedern (S. 51 d. Gutachtens). Auch bei der Klägerin zu 2) haben die noch nicht so verfestigten Anzeichen einer seelischen Behinderung durch die für sie im B. College adäquate Förderung behoben und hat somit eine Verstärkung der Symptome vermieden werden können (S.53/54 d. Gutachtens).
Der Senat folgt insoweit den Feststellungen der Gutachterin und hält die Beschulung der beiden Kinder im B. College im Zeitraum vom Sommertrimester 1999 bis einschließlich Sommertrimester 2000 für geeignet, die vorhandene seelische Behinderung zu beheben oder zu mildern bzw. die drohende seelische Behinderung zu verhüten. Dabei berücksichtigt der Senat die Bedenken der Beklagten, die Maßnahme sei mit einer Herausnahme aus dem bestehenden gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld verbunden gewesen, weshalb Zweifel am mit der Hilfeleistung notwendig verbundenen Zweck der (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft bestünden. Dem ist jedoch das nachvollziehbare und in der mündlichen Verhandlung von dieser auch aus der Rückschau nachdrücklich bestätigte Ergebnis der Sachverständigen entgegenzuhalten, wonach die Kinder ihr bisheriges gesellschaftliches Umfeld durch die vorhandenen Störungen (Verweigerungshaltung, Kontaktschwierigkeiten) bereits zum Teil verloren hatten und in England ein neues entsprechendes Umfeld offenbar mit Erfolg aufgebaut haben. Ein vollständiger Neuanfang ist für beide Mädchen sinnvoll und auch notwendig gewesen, wie die erstaunlichen Fortschritte in relativ kurzer Zeit gezeigt haben. Zudem war und ist beiden die englische kulturelle Umgebung nicht fremd, da ihr Vater Engländer ist und in der Nähe des Internats Verwandte wohnen. Auch die Mutter der Klägerinnen hat inzwischen ihren Wohnsitz dort begründet. Die Trennung der Kinder vom gesellschaftlichen Umfeld in Deutschland steht mithin der Einschätzung der Maßnahme als geeignet im Hinblick auf den verfolgten Zweck der (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft nicht entgegen.
Die Maßnahme war danach auch erforderlich. Die Gutachterin hat nachvollziehbar dargelegt, dass die - unstreitig vorhandenen - seelischen Störungen der Klägerinnen in ihrer Schulzeit in Deutschland nicht oder nur unvollständig erkannt wurden. Daraus folgend war die den Klägerinnen seinerzeit angediehene Förderung zur Behebung oder Kompensation der vorhandenen Störungen nicht geeignet. Sie hat vielmehr dazu geführt, dass bei den Kindern, insbesondere bei der Klägerin zu 1), sich das Versagen auf den gesamten schulischen Bereich ausbreitete und es zu einer emotionalen Blockade mit schwerer Neurotisierung, gleichzusetzen mit einer seelischen Behinderung, kam (S. 48 d. Gutachtens). Dies hat zu einer tiefgreifenden Verweigerungs- und Angsthaltung gegenüber dem erfahrenen deutschen Schulsystem geführt, die auch heute noch besteht, wie schon aus den von den Sachverständigen berichteten Gesprächen mit den beiden Kindern zu ersehen ist (S. 29-33 d. Gutachtens). Damit liegt es nach Auffassung des Senats geradezu auf der Hand, dass die - geeignete - Förderung in dem außerhalb des deutschen Schulsystems gelegenen englischen Internat in diesen beiden Einzelfällen als Maßnahme der Eingliederung erforderlich war. Diese Annahme hat die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung geteilt und dazu bekannt, ihr falle keine andere Maßnahme ein, die in diesen beiden nach ihrer Einschätzung sehr schwierigen Fällen erfolgreich hätte angewandt werden können.
Die Beklagte hält dem Anspruch der Klägerinnen auch erfolglos entgegen, dass die Kostenübernahme daran scheitere, dass zwischen ihr und dem B. College Vereinbarungen nach § 78 b Abs. 1 SGB VIII nicht geschlossen seien. Richtig ist zwar, dass dann, wenn Leistungen nach § 78 a SBG VIII in einer Einrichtung erbracht werden, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme des Leistungsentgelts nur verpflichtet ist, wenn entweder Vereinbarungen gemäß § 78 b Abs. 1 SGB VIII bestehen oder die Übernahme des Leistungsentgelts insbesondere nach Maßgabe der Hilfeplanung im Einzelfall geboten ist (§ 78 b Abs. 3 SGB VIII). Unzutreffend ist aber die Auffassung der Beklagten, dass sie schon deshalb nicht zur Leistung verpflichtet sei, weil es an einem Hilfeplan fehle. Dass dem nicht so ist, folgt bereits aus der mit § 78 b Abs. 3 SGB VIII korrespondierenden Formulierung des § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII zum Wunsch- und Wahlrecht. Danach soll, wenn der Leistungsberechtigte die Erbringung einer in § 78 a genannten Leistung in einer Einrichtung wünscht, mit deren Träger Vereinbarungen nach § 78 b nicht bestehen, der Wahl nur entsprochen werden, wenn "die Erbringung der Leistung in dieser Einrichtung im Einzelfall oder nach Maßgabe des Hilfeplanes (§ 36) geboten ist". Eine Hilfeplanung ist mithin nicht notwendige Anspruchsvoraussetzung für die Leistungserbringung, wenn der Berechtigte eine Einrichtung ausgewählt hat, mit der keine Vereinbarungen nach § 78 b Abs. 1 SGB VIII bestehen. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Erbringung der Leistung in der gewählten Einrichtung im Einzelfall geeignet und erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.06.1999 - 5 C 24.98 - BVerwGE 109, 155<166>; OVG Schleswig, Urt. v. 28.03.2001 - 2 L 68/01 - FEVS 53, 25; vgl. zum Wunsch- und Wahlrecht auch: Urt. des Senats vom 28.04.1999 - 4 L 2607/98 -). Diese Erforderlichkeit im Einzelfall aber hat der Senat - wie ausgeführt - bejaht. Dass es eine gleichermaßen geeignete und kostengünstigere Maßnahme gegeben hätte als die Unterbringung im Internat B. College, hat die Beklagte nicht vorgetragen. Anhaltspunkte hierfür vermag der Senat auch vor dem Hintergrund der Beurteilung durch die Sachverständige nicht zu erkennen.
Zu Recht verweist die Beklagte darauf, dass die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe einen Antrag, mindestens in Form des schlüssigen Verhaltens, voraussetzt. Dies entspricht sowohl der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 28.09.2000 - 5 C 29.99 - BVerwGE 112, 98) als auch der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 22.10.2002 - 4 LA 3600/01 -). Daraus folgt aber entgegen der Ansicht der Beklagten nicht, dass die Kosten der Unterbringung der Klägerinnen im englischen Internat insgesamt von ihr im Rahmen der Jugendhilfe nicht zu übernehmen sind, weil der Antrag erst nach Beginn der Maßnahme gestellt worden ist. Leistungen für die Zeit vor der Antragstellung sind nicht Gegenstand dieses Verwaltungsrechtsstreits. Zu entscheiden ist vielmehr über die Kosten für die Unterbringung ab Sommertrimester 1999 bis einschließlich Sommertrimester 2000. Nur insoweit haben die Eltern der Klägerinnen unter dem 20.08.1999, eingegangen beim Rechtsvorgänger der Beklagten am 26.08.2000, die Gewährung von Eingliederungshilfe beantragt. Für die Zeit davor sind sie selbst für die Internatskosten aufgekommen und machen sie eine Kostenübernahme nicht geltend. Mithin ist allein zu entscheiden, ob ab diesem Zeitpunkt, zu dem der Hilfebedarf an den Jugendhilfeträger herangetragen worden ist, die Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Eingliederungshilfe vorgelegen haben. Das ist nach Ansicht des Senats zu bejahen. Denn aus dem von ihm eingeholten Gutachten ergibt sich, dass bei der Klägerin zu 1) im Zeitpunkt der Einschulung in England eine seelische Behinderung schon vorgelegen und bei der Klägerin zu 2) eine solche zumindest gedroht hat. Zwar sind bei den Klägerinnen durch die in England erfahrene Förderung zwischen dem Herbst 1998 und dem Sommer 1999 erhebliche Verbesserungen erzielt worden, die Gutachterin hat aber nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass ihnen, insbesondere im Falle eines Abbruchs der Schulerziehung in England, eine seelische Behinderung zumindest wieder gedroht hat. Auch im Zeitpunkt der Antragstellung haben somit die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe vorgelegen. Dem vermag die Beklagte auch nicht mit Erfolg entgegenzuhalten, sie bzw. ihr Rechtsvorgänger habe die vor allem nach § 36 SGB VIII zugebilligten Einflussmöglichkeiten nicht mehr nutzen können, weil die Kinder bereits seit einem dreiviertel Jahr in England beschult worden seien, so dass er hier entgegen der Konzeption des Jugendhilferechts vom Leistungsträger zum Kostenträger gemacht worden sei. Es wäre nämlich der Beklagten bzw. ihrem Rechtsvorgänger nach Antragstellung grundsätzlich noch möglich gewesen, zumutbare alternative Förderungsmöglichkeiten für die Klägerinnen zu suchen und sie ihnen gegebenenfalls auch anzubieten. Derartige konkrete Vorschläge hat der Rechtsvorgänger der Beklagten aber nicht gemacht. Er hat vielmehr die Anträge zunächst aus einem anderen Rechtsgrund (Fehlen einer drohenden seelischen Behinderung) abgelehnt. Nunmehr bleibt nur noch die von den Eltern der Klägerinnen selbst beschaffte Maßnahme als die geeignete und auch erforderliche (vgl. zu den Voraussetzungen, unter denen der Jugendhilfeträger zur Übernahme der Kosten einer selbstbeschafften Erziehungsmaßnahme verpflichtet ist: BVerwG, Urt. v. 8.6.1995 - 5 C 30.93 - FEVS 46, 94<98>). Das Ansinnen, die Klägerinnen nachträglich auf eine andere Maßnahme zu verweisen, von der sie nicht mehr Gebrauch machen können, ist bereits unabhängig von der Frage abzulehnen, ob es eine solche zumutbare Alternative tatsächlich gegeben hätte.
Soweit die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geltend gemacht hat, sie sei sachlich nicht zuständig, da für Leistungen der Jugendhilfe an Deutsche im Ausland (§ 6 Abs. 3 SGB VIII) der überörtliche Träger sachlich zuständig sei (§ 85 Abs.2 Nr. 9 SGB VIII), ist dem entgegenzuhalten, dass die Beklagte zumindest zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet ist (Rechtsgedanke aus § 86 d i. V. m. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Denn der überörtliche Träger ist bislang mit dieser Angelegenheit überhaupt noch nicht befasst worden, während die Beklagte und ihr Rechtsvorgänger gegenüber den Klägerinnen im gesamten bisherigen Verfahren, also über mehrere Jahre, als vermeintlich zuständiger Jugendhilfeträger aufgetreten ist.
Schließlich ist der Beklagten zuzugestehen, dass die Gewährung von Jugendhilfe an Deutsche im Ausland grundsätzlich im Ermessen des Jugendhilfeträgers steht und zudem gegenüber den Hilfemöglichkeiten des Aufenthaltslandes subsidiär ist (§ 6 Abs.3 SGB VIII). Solche ausländischen Hilfemöglichkeiten hat aber die Beklagte nicht aufgezeigt. Auch für den Senat sind Anhaltspunkte dafür nicht erkennbar, dass die Klägerinnen von englische Seite Hilfen hätten erhalten können. Das Ermessen der Beklagten hingegen, den Klägerinnen Jugendhilfe zu gewähren, ist soweit reduziert, dass ein Anspruch der Klägerinnen auf die begehrte Hilfe besteht. Wie dargelegt waren die Unterbringung und Betreuung der beiden Mädchen im B. Collage aus ärztlicher und auch jugendhilferechtlicher Sicht geeignet und erforderlich. Andere geeignete und kostengünstigere Maßnahmen waren und sind nicht ersichtlich. Eine Rückkehr nach Deutschland im hier zu beurteilenden Zeitraum wäre für beide unzumutbar gewesen. Die Sachverständige hat hier deutlich gemacht, dass bei einer Rückkehr mit einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Kinder zu rechnen gewesen wäre. Mithin ist keine andere Möglichkeit der Ermessensausübung mehr denkbar als die Gewährung der begehrten Jugendhilfe im Ausland, die den Klägerinnen den weiteren Aufenthalt im englischen Internat B. College ermöglicht und damit dem Ziel der Jugendhilfe entspricht, eine seelische Behinderung von Kindern zu verhüten, deren Folgen zu mildern und eine Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. Schellhorn, SGB VIII, 2. Auflage, 2000, § 35 a Rdnr. 14).
Nach allem haben die Klägerinnen einen Anspruch auf Übernahme der von ihnen geltend gemachten Schulkosten für den Internatsbesuch vom Sommertrimester 1999 bis zum Sommertrimester 2000 aus Mitteln der Eingliederungshilfe. Die Höhe der Schulkosten von 75.051,88 DM ergibt sich aus der Aufstellung , welche die Klägerinnen mit Schriftsatz vom 07. März 2001 im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt haben und die von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor.
Ende der Entscheidung
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