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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 23.07.2003
Aktenzeichen: 4 LB 71/03
Rechtsgebiete: BSHG, GG
Vorschriften:
BSHG § 12 I | |
BSHG § 122 | |
BSHG § 21 Ia Nr. 7 | |
GG Art. 6 I |
Tatbestand:
Die am 15. Dezember 1972 geborene Klägerin ist heroinabhängig und leidet an Hepatitis C. Während einer Entwöhnungstherapie lernte sie den ebenfalls drogenabhängigen Carsten T. kennen. Nach Angaben der Klägerin leben sie seit Anfang des Jahres 2000, zunächst in verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen, in eheähnlicher Gemeinschaft. Ende Februar 2001 zogen beide in eine Wohnung in der Stadt M. im Bereich des Beklagten. Die Stadt M. gewährte ihnen Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des Regelsatzes des Haushaltsvorstandes für die Klägerin und des Regelsatzes eines erwachsenen Haushaltsangehörigen für Carsten T. Am 23. März 2001 wurden beide in ein Wohnheim der Caritas in H. im Bereich des Beklagten aufgenommen. Voraussetzung für das betreute Wohnen war dort, dass die Klägerin und Carsten T. jeweils ein Einzelzimmer bezogen. Die Klägerin unterzog sich nach einem Rückfall einer Substitutionsbehandlung mit Methadon. Am 31. März 2001 wurde Carsten T. in Haft genommen und in die Justizvollzugsanstalt Hesepe im Landkreis Emsland eingeliefert.
Die vom Beklagten herangezogene Gemeinde H. lehnte den Antrag der Klägerin, die Kosten für einen Besuch ihres Lebenspartners in der Justizvollzugsanstalt im Monat zu übernehmen, im Mai 2001 mündlich ab. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 2001 mit der Begründung zurück, solche Kosten könnten nur für Besuchsfahrten von Ehegatten, nicht aber von Partnern einer eheähnlichen Gemeinschaft übernommen werden.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 31. Oktober 2002 abgewiesen und den Standpunkt des Beklagten mit weiterer, eingehender Begründung, auf die verwiesen wird, gebilligt.
Der Senat hat die Berufung durch Beschluss vom 14. Februar 2003 (4 LA 593/02), den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 19. Februar 2003, wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Auf den Hinweis des Berichterstatters des Senats vom 9. Mai 2003, den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 13. Mai 2003, dass bisher - entgegen der Belehrung in dem Beschluss vom 14. Februar 2003 - eine Berufungsbegründung nicht eingegangen sei, haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz vom 15. Mai 2003 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung begründet.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des mündlich erteilten Ablehnungsbescheides der Gemeinde H. in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2001 zu verpflichten, ihr Beihilfen für jeweils eine Fahrt von H. zur JVA Hesepe und zurück in den Monaten Mai und Juni 2001 zu bewilligen,
hilfsweise,
den Beklagten zu verpflichten, den Regelsatz in den Monaten Mai und Juni 2001 um jeweils 90,-- DM zu erhöhen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Gemeinde H. ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO), ist - nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist - zulässig. Der Klägerin ist nach § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung zu gewähren, da sie ohne Verschulden gehindert war, die Frist des § 124 a Abs. 6 Satz 1 VwGO zur Begründung der Berufung einzuhalten. Sie muss sich auch nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO ein Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Denn diese traf an der Versäumung der Frist ebenfalls kein Verschulden. Ursächlich war vielmehr ein Versehen der geschulten, zuverlässigen und regelmäßig kontrollierten Bürokraft K., die den Fristenkalender seit sechs Jahren sorgfältig und sonst fehlerlos führt und in diesem Fall nur eine Vorfrist und nicht den eigentlichen Fristablauf im Kalender notierte und deshalb versäumte, die Akte dem Rechtsanwalt unter Hinweis auf den Fristablauf vorzulegen. Ein solches Büroversehen, das auch einer sorgfältigen Kraft unterlaufen kann, muss sich der Rechtsanwalt nicht zurechnen lassen. Die Richtigkeit der Angaben, wie es hier zu der Fristversäumung gekommen ist, haben der Prozessbevollmächtigte der Klägerin anwaltlich und die Bürokraft K. eidesstattlich versichert. Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Solche Zweifel hat der Beklagte ebenfalls nicht geäußert.
Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch zu.
Aufwendungen für solche Besuchsfahrten einmal im Monat gehören zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 12 Abs. 1 BSHG, da sie notwendig und geeignet sind, die Kontakte der Partner während der erzwungenen Trennung aufrecht zu erhalten und so einer Entfremdung der Partner und einer Auflösung ihrer Partnerschaft vorzubeugen. Aufwendungen dieser Art sind nicht in den Regelsätzen, der Bedarfsgruppe der persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens und dort in der Bedarfsposition der Beziehungen zur Umwelt "in vertretbarem Umfang", enthalten, da sie sich einer pauschalierenden, typisierenden Betrachtung und Bewertung für alle Empfänger laufender Leistungen zum Lebensunterhalt entziehen. Sie entstehen vielmehr aus besonderem Anlass, nämlich der Inhaftierung eines der Partner. Ihre Höhe richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Entfernung zwischen Wohnung und Justizvollzugsanstalt und nach der Art der zu benutzenden Verkehrsmittel. Für solche Besuchsfahrten sind deshalb einmalige Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 21 Abs. 1 a Nr. 7 BSHG ("für besondere Anlässe") zu gewähren. Der Senat hält in diesen Fällen solche einmaligen Leistungen, auch wenn sie im Regelfall monatlich zu gewähren sind, eher für sachgerecht als eine von den Regelsätzen abweichende, wiederum pauschalierende Bemessung der laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Denn Voraussetzung für die Leistung ist, dass die Besuchsfahrt tatsächlich durchgeführt wird und die Aufwendungen tatsächlich entstehen. Entfällt in einem Monat der Besuch z. B. wegen einer Erkrankung oder fallen Aufwendungen nicht an, etwa weil die Möglichkeit der kostenlosen Mitnahme in einem Pkw besteht, entfällt auch der Anspruch auf eine einmalige Leistung. Im Regelfall wird die Leistung daher erst im nachhinein zu erbringen sein, wenn die Aufwendungen für die Besuchsfahrt belegt werden. Das schließt allerdings Vorleistungen des Sozialhilfeträgers nicht aus, wenn die Besuchsfahrten regelmäßig durchgeführt werden und die Aufwendungen so hoch sind, dass sie nicht ohne weiteres aus den Regelsatzleistungen vorfinanziert werden können.
Im Anschluss an das Urteil des OVG NRW vom 28. März 1984 (FEVS 35, 425) ist unstreitig, dass Anspruch auf solche einmaligen Leistungen der Ehegatte hat, der seinen inhaftierten Ehegatten besucht. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts ist es weder geboten noch gerechtfertigt, diese Leistungen den Personen, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, vorzuenthalten. Auch für sie ist die Aufrechterhaltung des Kontakts zum Partner oder zur Partnerin während der erzwungenen Trennung ein ebenso gewichtiger "besonderer Anlass" im Sinne des § 21 Abs. 1 a Nr. 7 BSHG. Der Umstand, dass eine eheähnliche Gemeinschaft leichter als eine Ehe aufgelöst werden kann und nach einer Auflösung gesetzliche Unterhaltsansprüche nicht entstehen, nimmt dem Anliegen während des Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft nichts an Gewicht. Im Gegenteil: Der Wunsch eines Partners, den anderen während der Haft zu besuchen und ihm beizustehen, ist gerade Ausdruck dessen, was die eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 122 BSHG - wie die Ehe - prägt, nämlich die Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft, die über eine bloße Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht (diese Definition der eheähnlichen Gemeinschaft hat im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. 11. 1992, BVerfGE 87, 234, das zu § 137 Abs. 2 a AFG a. F. ergangen ist, das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 17. Mai 1995, BVerwGE 98, 95, übernommen, so seitdem auch die ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats). § 122 Satz 1 BSHG verbietet zwar, Personen, die in eheähnlicher Gemeinschaft leben, besser zu stellen als Ehegatten, gebietet aber nicht, sie schlechter zu stellen und ihnen Leistungen vorzuenthalten, die Ehegatten erhalten.
Allerdings darf der Gesetzgeber in Erfüllung seiner Pflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG, die Ehe zu schützen und zu fördern, bestimmte Sozialleistungen von dem Bestand einer Ehe abhängig machen. So ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Familienversicherung nach § 10 Abs. 1 SGB V nur für Ehegatten und damit nicht auch für die Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft gilt (vgl. BVerfG, Urt. v. 10. 02. 2003 - 1 BvR 624/01 - FamRZ 2003, 356). § 122 BSHG gebietet es nicht, diese gesetzliche Benachteiligung der Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft gegenüber Ehegatten wiederum auszugleichen und Hilfe zum Lebensunterhalt durch Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen nach § 13 BSHG unabhängig vom Einkommen und Vermögen des Partners zu gewähren (Senat, Beschl. v. 5. 5. 1998 - 4 L 1544/98 - veröffentl. in juris, m. w. N. aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung).
Einen solchen gesetzlichen Ausschluss von Leistungen an Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft enthält § 21 Abs. 1 a Nr. 7 BSHG nicht. Er folgt entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG. Denn aus dieser Pflicht des Gesetzgebers, die Ehe zu schützen und zu fördern, folgt nicht die Pflicht, nichtehelichen Gemeinschaften jedwede rechtliche Anerkennung zu versagen und mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, dass ihnen die zur Führung ihrer Gemeinschaft erforderlichen finanziellen und sonstigen Mittel versagt oder entzogen werden (BVerfG, Beschl. v. 3. 4. 1990 - 1 BvR 1168/89 - BVerfGE 82, 6 zur entsprechenden Anwendung des § 569 a BGB a. F. auf den nichtehelichen Partner des verstorbenen Mieters; vgl. auch das genannte Urteil vom 12. 2. 2003, nach dem die Besserstellung von Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hinsichtlich der Familienversicherung ihrer Kinder nach § 10 Abs. 3 SGB V für sich allein nicht gegen Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, weil die Regelung des § 10 SGB V im Ganzen betrachtet Ehegatten gegenüber Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht schlechter stellt).
Das Verwaltungsgericht hat zwar offen gelassen, ob zwischen der Klägerin und Carsten T. eine eheähnliche Gemeinschaft besteht oder in dem hier maßgeblichen Zeitraum bestanden hat. Der Senat nimmt an, dass eine solche Gemeinschaft in dem hier maßgeblichen Zeitraum bestanden hat und durch die Inhaftierung von Carsten T. nicht aufgelöst worden ist. Das folgt aus dem unwidersprochenen Vortrag der Klägerin, sie lebe seit Anfang des Jahres 2000 mit Carsten T. in einer solchen Gemeinschaft, sowie daraus, dass sie von der Stadt M. bei der Gewährung laufender Leistungen zum Lebensunterhalt als Haushaltsgemeinschaft behandelt worden sind. Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass die Klägerin und Carsten T. nach ihrem Einzug in das Wohnheim der Caritas beim Sozialamt der Gemeinde H. angefragt haben, ob ihnen nunmehr jeweils der Regelsatz für den Haushaltsvorstand zustehe, weil sie in Einzelzimmern wohnen müssten. Diese Anfrage ist verständlich und spricht nicht dafür, dass die Partner aus freien Stücken ihre GemeiI.t beendet haben. Das vorübergehende getrennte Wohnen hat allein therapeutische Gründe gehabt und ist ihnen vorgegeben worden. Schließlich spricht für den Wunsch der Partner, ihre Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, der Umstand, dass die Klägerin ihren Partner mehrmals in der Justizvollzugsanstalt Hesepe besucht hat, obwohl ihr dafür einmalige Leistungen - zu Unrecht - versagt worden sind. Offensichtlich hat sie die Mittel unter erheblichen Einschränkungen aus ihren Regelsatzleistungen aufgebracht. Die Höhe der notwendigen Aufwendungen für eine Besuchsfahrt ist belegt und wird auch vom Beklagten nicht bestritten.
Die kostenrechtlichen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 1, 167, 188 Satz 2 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Senat lässt die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, da die hier maßgebliche Rechtsfrage - soweit ersichtlich - bisher höchstrichterlich nicht entschieden worden ist.
Ende der Entscheidung
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