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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 16.08.2004
Aktenzeichen: 9 LB 131/04
Rechtsgebiete: NBauO
Vorschriften:
NBauO § 86 I Nr 1 |
Gründe:
Der Kläger wendet sich dagegen, dass auf die Nachbarwidersprüche der Beigeladenen mit Bescheid vom 6. Juni 2002 die ihm erteilte Baugenehmigung vom 22. August 2000 für die Errichtung von Balkonen an seiner süd-westlichen Hausseite aufgehoben worden ist. Zusammen mit der Baugenehmigung ist dem Kläger hinsichtlich der Verletzung von Grenzabstandsvorschriften Befreiung erteilt worden. Nachdem von der Teilrücknahme ursprünglich die Balkonanlagen auf vier Geschossebenen betroffen waren, hat die Beklagte - während des Verlaufes des Klageverfahrens - mit dem weiteren Bescheid vom 4. April 2003 ihren Aufhebungsbescheid für die im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss liegenden Balkone wieder zurückgenommen. Mit Urteil vom 17. Oktober 2003 hat das Verwaltungsgericht hinsichtlich dieser beiden Balkone die vom Kläger erhobene Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Balkonanlagen gegen die nachbarschützenden Vorschriften der §§ 7, 7b NBauO verstießen, dem Kläger davon nicht in rechtmäßiger Weise Befreiung erteilt worden sei, weil eine vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigte Härte nicht anerkannt werden könne und den Beigeladenen - trotz der eigenen Verletzung von Grenzabstandsvorschriften - auch die Berufung auf diese nachbarschützenden Vorschriften nicht verwehrt sei. Wegen der verwaltungsgerichtlichen Ausführungen im Einzelnen wird auf das Urteil Bezug genommen.
Auf den dagegen gerichteten Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 14. Mai 2004 (9 LA 59/04) die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zugelassen.
Im zugelassenen Berufungsverfahren tragen sowohl der Kläger als auch die Beklagte im Wesentlichen ihre bereits zuvor vorgebrachten Argumente erneut vor.
Von den Beigeladenen hat sich einzig die Beigeladene zu 2. ergänzend geäußert. Sie verweist darauf, dass der strittige Balkon gegenüber ihrem Schlafzimmerfenster angebaut worden sei. Zwar sei durch die seitliche Verglasung ein Sichtschutz entstanden. Unterhaltungen, Musik oder auch Gerüche, wie z.B. Zigarettenqualm der Balkonnutzer, seien jedoch direkt wahrnehmbar. Durch den zwischen den Häusern bestehenden engen Durchgang würde der Hall der Geräusche noch verstärkt. Sie sehe durch diese Belästigungen den Wohnwert ihrer Wohnung deutlich gemindert.
Der Senat entscheidet über die zugelassene Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130a VwGO).
Auf die Berufung des Klägers ist das angegriffene Urteil zu ändern und der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 6. Juni 2002 in der Fassung des Bescheides vom 4. April 2003 aufzuheben. Die Baugenehmigung vom 22. August 2000 ist rechtmäßig und verletzt keine Rechte der zum Verfahren beigeladenen Grundstücksnachbarn.
Der Senat hat in seinem Zulassungsbeschluss vom 14. Mai 2002 das Folgende ausgeführt:
"... Ausgangspunkt ist zwar zunächst, dass sich die offenbar nicht beabsichtigte Härte grundsätzlich nur an den Besonderheiten eines Grundstücks, insbesondere seinem Zuschnitt und seiner Lage oder aus Besonderheiten der Bebauung und ihrer Nutzung, nicht aber aus den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Bauherrn ergeben kann. In der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist aber geklärt bzw. anerkannt, dass eine nicht beabsichtigte Härte auch durch eine nachträgliche Rechtsänderung eintreten kann. Die folgenden Ausführungen des 6. Senats des OVG Lüneburg in seinem Urteil vom 10.3.1986 - 6 OVG A 133/84 - NdsRpfl 1986, 284 = BauR 1987, 74 = BRS 46 Nr. 153; vgl. weiter auch Beschluss vom 2.7.1986 - 6 OVG B 65/86 - NdsRpfl. 1986, 285 = BauR 1987, 76 = BRS 46 Nr. 154; Schmaltz in: Große-Suchsdorf/ Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NdsBauO, Kommentar, 7. Aufl. 2002, § 86 Rdnr. 10) können auch diesem Verfahren in vergleichbarer Weise zugrunde gelegt werden:
Die nicht beabsichtigte Härte für die Beigeladene folgt aus den gegebenen abstandsrechtlichen Besonderheiten ihres Grundstücks. Die Besonderheit liegt darin, dass ihr Flachdachbungalow unter der Geltung der früheren Bauordnung mit einem Grenzabstand von (nur) 2,50 m zulässigerweise genehmigt und eine früher zulässige Bebauung bzw. Aufstockung im Grenzbereich nach Inkrafttreten der Niedersächsischen Bauordnung unzulässig geworden ist. Allerdings ist dem Verwaltungsgericht darin zu folgen, dass die Befreiungsalternative des § 86 Abs. 1 Nr. 1 NBauO - ebenso wie die nach Nr. 2 - einen atypischen Sachverhalt voraussetzt (Schmaltz in: Grosse-Suchsdorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, Kommentar, 3. Aufl., Rdn. 5, 6 zu § 86). Für den Regelfall hat nämlich der Gesetzgeber nicht nur die zu wahrenden Schutzgüter der Abstandsvorschriften (Brandschutz, ausreichende Besonnung und Durchlüftung, Ausblick auf die Umgebung) abstrakt festgelegt, sondern durch die Festlegung des Mindestabstandes von 3 m auch konkret die Art und Weise umschrieben, in der diesen Anforderungen Rechnung zu tragen ist. Der 3-m-Mindestabstand ist als messbare Größe grundsätzlich einer interpretierenden Auslegung nicht zugänglich. Die Atypik liegt im vorliegenden Fall aber darin begründet, dass eine ursprünglich zulässige Bebauung durch eine erst danach eingetretene Rechtsänderung rechtswidrig geworden ist (zu einer vergleichbaren Interessenlage bei Nutzungsänderungen eines bestehenden Grenzgebäudes s. BayVGH, Urt. v. 26.11.1979 - Nr. 51 XIV 78 - BRS 36 Nr. 181). Dadurch wird zwar nicht eine atypische Besonderheit gerade des Grundstücks der Beigeladenen verursacht, denn dieses rechtliche Schicksal teilt das Grundstück der Beigeladenen mutmaßlich mit zahlreichen anderen Grundstücken im Geltungsbereich der alten Bauordnung. Es handelt sich also weniger um eine individuelle bzw. spezielle Besonderheit gerade auf dem Grundstück der Beigeladenen (dazu auch OVG Lüneburg, Urt. v. 20.2.1964 - I OVG A 265/63 -, OVGE 20, 326). In seinen tatsächlichen Auswirkungen stellt sich die erst durch eine Veränderung der Rechtslage geschaffene Atypik aber in genau der gleichen Art und Weise dar wie etwa eine Besonderheit des Grundstücks im engeren Sinne, die also aus dem atypischen Zuschnitt oder aus der atypischen Lage heraus abzuleiten ist. Den Beigeladenen wäre anders eine vernünftige und sonst grundsätzlich zusätzliche Aufstockung ihres Bungalows verwehrt (...) ."
Die vorliegende Grundstückssituation ist dadurch geprägt, dass das 1910 errichtete Gebäude des Klägers auf seiner Südseite in einer Tiefe von zunächst 10 m nur einen Abstand von 1,50 m einhält, dann auf einer weiteren Länge von 10 m um etwa 4,90 m auf damit insgesamt 6,40 m zurückspringt. Demgegenüber weist das Wohnhaus der Beigeladenen auf der gegenüberliegenden, nördlichen Seite einen Grenzabstand von 2,50 m auf einer Länge von knapp 17 m auf; an der südlichen, also abgewandten Seite steht es unmittelbar an der Grenze. Diese seit nahezu 100 Jahren bestehenden Grenzabstandsverhältnisse sind - wie aus den zitierten Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts folgt - als spezielle Besonderheiten des Grundstücks des Klägers zu bewerten. Zwar ist zunächst zutreffend, dass diese Grundstücksverhältnisse seit 1910, also seit langer Zeit, bestehen. Daraus folgt aber nicht etwa eine Unverändbarkeit der Gegebenheiten. § 86 Abs. 1 Nr. 1 NBauO lässt maßvolle, - und wie hier - die nachbarlichen Interessen hinreichend berücksichtigende Veränderungen zu.
Die Grundstücksgegebenheiten werden - zweitens - dadurch charakterisiert, dass das Wohnhaus der Beigeladenen selbst nicht den nach der NBauO erforderlichen Abstand einhält. Dies hat das Verwaltungsgericht zwar gesehen und auf der Grundlage des Beschlusses des 1. Senats vom 30.3.1999 - 1 M 897/99 - NdsRpfl 2000, 175 = BRS 65 Nr. 190 = NdsVBl 2000, 11 = NVwZ-RR 1999, 716 auch gewürdigt. Der Auffassung, dass sich im vorliegenden Fall die Grenzabstandsverletzung nicht "in vergleichbarer Weise" darstellt, ist aber nicht zu folgen. Von Bedeutung ist nämlich, dass die genehmigten Balkone nicht in den bisherigen "Freibereich" des Grenzabstandes hineinragen, sondern sie im südwestlichen Anschluss an das zurücktretende Wohnhaus angesetzt werden sollen. Der Senat sieht auch nicht den Umstand als ausschlaggebend an, dass es sich bei den Balkonen um eine "offene" bauliche Anlage handelt. Denn mögliche Ausstrahlungen werden dadurch eingeschränkt, dass die Balkone nur mit einem Sichtschutz genehmigt worden sind - zu dem entgegenstehenden Gesichtspunkt einer unzulässigen Rechtsausübung bzw. des Grundsatzes von Treu und Glauben auch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.11.2002 - 3 S 882/02 - BRS 65 Nr. 193)."
An diesen Ausführungen hält der Senat fest.
Die von der Beklagten - eher formelhaft - und von der Beigeladenen zu 2. im Berufungsverfahren weitgehend wiederholend vorgebrachten Erwägungen nötigen den Senat nicht zu ergänzenden Ausführungen. Zur Abgrenzung bzw. Abrundung der gegebenen Sach- und Rechtslage ist lediglich ergänzend auf den Beschluss des 1. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24.2.2004 (1 LA 74/03 - NordÖR 2004, 243 = DWW 2004, 156) hinzuweisen, in dem - gegenteilig - der nachträgliche Anbau von Balkonen in einem Fall nicht zugelassen worden ist, in dem es durch den Anbau zu weiteren Unterschreitung des "seitlichen" Grenzabstandes gekommen ist. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen nicht vergleichbaren "rückwärtigen" Anbau von Balkonen, der den bereits bestehenden Gebäudeabstand zwischen den Häusern F.-Straße A und F.-Straße B nicht weiter verengt.
Ende der Entscheidung
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