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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 24.02.2004
Aktenzeichen: 1 LA 74/03
Rechtsgebiete: NBauO


Vorschriften:

NBauO § 7b I 1
NBauO § 86 I Nr.1
Es stellt keine "nicht beabsichtigte Härte" der Grenzabstandsvorschriften dar, wenn ein Bauherr in einem geschlossen bebauten Straßengeviert wegen des einzuhaltenden Grenzabstands auf den Anbau von Balkonen verzichten muss, weil die vorhandene Bebauung seines Grundstücks, die ihrem Umfang nach deutlich über die Bebauung der Nachbarschaft hinaus geht, bereits bisher die Grenzabstände der NBauO unterschreitet.
Grunde:

Die Klägerin, die Miteigentümerin des Grundstücks H...straße 3 in A. ist, wendet sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung von drei Balkonen an dem rückwärtigen Gebäude S...straße 32.

Die Grundstücke der Beteiligten liegen im Straßengeviert S...straße/G... .../K...straße/H...straße und sind mit viergeschossigen Häusern an den Straßen bebaut. Das Grundstück H...straße 3 liegt auf der Ostseite der H...straße. Hinter dem Haus erstreckt sich ein annähernd 50 m tiefer Garten/Hof mit 12 m bis 15 m hohem Baumbestand, auf den acht Balkone ausgerichtet sind. An die nördliche Grenze des Grundstücks der Klägerin grenzt auf ca. 20 m das Grundstück der Beigeladenen an, das zur S...straße mit einem viergeschossigen Vorderhaus und nach Süden mit einem dreieinhalbgeschossigen Hinterhaus bebaut ist. Dieses im Wesentlichen aus der Vorkriegszeit stammende Hinterhaus hält mit einer Traufhöhe von 13 m einen Abstand von 6 m zum Grundstück der Klägerin ein.

Im Juni 2000 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung von drei Balkonen mit einer Breite von 4,10 m und einer Tiefe von 1,80 m vor der Südfassade des Hinterhauses. Die Beklagte genehmigte mit Bescheid vom 10. April 2001 den Balkonanbau und erteilte gleichzeitig eine Befreiung von den Abstandsvorschriften.

Der nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 12. Dezember 2002, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, stattgegeben.

Der Zulassungsantrag der Beigeladenen ist unzulässig, weil die Begründung des Zulassungsantrages nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils (am 18.2.2003) bei dem Verwaltungsgericht eingereicht worden ist, sondern am 17. April 2003 bei dem Oberverwaltungsgericht und erst am 23. April 2003 bei dem Verwaltungsgericht (vgl. § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO).

Der rechtzeitig gestellte und auf § 124 Abs. 2 Nrn. 1, 2 und 3 VwGO gestützte Zulassungsantrag der Beklagten hat keinen Erfolg.

Die von der Beklagten in den Vordergrund gerückte Frage, ob die Situation des Grundstücks der Beigeladenen einen atypischen Sachverhalt begründe, der Voraussetzung einer Befreiung von den Grenzabstandsvorschriften ist, bedarf keiner abschließenden Beantwortung, weil die Anwendung der Abstandsvorschriften jedenfalls nicht zu einer nicht beabsichtigten Härte im Sinne des § 86 Abs. 1 Nr. 1 NBauO führt. Immerhin ist festzuhalten, dass die Argumentation der Beklagten zur Atypik sehr stark von planungsrechtlichen Überlegungen bestimmt wird. Für die hier entscheidende Frage, ob der Abstand des Hintergebäudes von der Grundstücksgrenze, der bereits jetzt den heutigen gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht, noch weiter unterschritten werden darf, kommt es weniger auf die Situation im rückwärtigen Bereich des gesamten Straßenkarrees an, als auf die Bebauung des Grundstücks der Beigeladenen. Der Gesetzgeber hat mit den Abstandsvorschriften der §§ 7 ff. NBauO im Einzelnen festgelegt, in welcher Art und Weise den gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen, insbesondere einer angemessenen Belüftung und Besonnung, Rechnung zu tragen ist. Die Abstandsvorschriften ziehen der Bebauung eines Grundstücks Schranken, die freilich im Allgemeinen nicht als unangemessen angesehen werden können: Grundsätzlich hat jeder Grundstückseigentümer zu den insgesamt erforderlichen Freiräumen entsprechend der Höhe der von ihm errichteten Gebäude beizutragen (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 7. Aufl. 2002, § 7 Rdn. 10). Die Erweiterung einer Bebauung, für die unter Berufung auf die Atypik eine Befreiung von Grenzabstandsvorschriften in Anspruch genommen wird, muss daher auch darauf hin geprüft werden, ob der Umfang der bisherigen baulichen Ausnutzung situationsgerecht ist. Die von der Beklagten beschworene Atypik des Grundstücks der Beigeladenen erweist sich aus diesem Blickwinkel als eine übermäßige bauliche Nutzung, die bereits bisher nur deshalb nicht zu städtebaulichen Missständen führt, weil auf den Nachbargrundstücken mehr Freiflächen vorhanden sind, als für die dort errichteten Gebäude erforderlich. Die Klägerin hat in diesem Zusammenhang auch zu Recht darauf hingewiesen, dass die Baugenehmigung für das im Krieg zerstörte Vorderhaus der Beigeladenen unter der Bedingung erteilt worden ist, dass das Hinterhaus innerhalb von 10 Jahren abzubrechen ist.

Dem angefochtenen Urteil ist aber vor allem darin zuzustimmen, dass die Einhaltung der Abstandsvorschriften weder angesichts der vorhandenen Bebauung noch auf Grund des Grundstückszuschnitts zu einer vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigten Härte im Sinne des § 86 Abs. 1 Nr. 1 NBauO führt. Die mit der Einhaltung der Abstandsvorschriften verbundene Härte - der Verzicht auf Balkone an der Südseite des Hinterhauses - ist nach dem Sinn und Zweck der Grenzabstandsvorschriften der NBauO beabsichtigt, weil eine (weitere) Unterschreitung des Abstands den Freiraumschutz noch stärker als bisher schon vom Grundstück der Beigeladenen auf das Nachbargrundstück der Klägerin verlagern würde. Die bauliche Ausnutzung des Grundstücks der Beigeladenen geht weit über die der Nachbargrundstücke hinaus. Wenn sich in dieser Situation die Abstandsvorschriften als Hindernis einer Bebauung auswirken, ist das nicht unbeabsichtigt, sondern entspricht der Zielsetzung dieser Vorschriften.

Die Argumentation des Zulassungsantrages, die Balkone hielten eine geräumige Entfernung vom Haus der Klägerin ein und berührten nur den Gartenbereich des Grundstücks der Klägerin, vermag eine nicht beabsichtigte Härte nicht zu begründen. Nach den Abstandsvorschriften der NBauO sind Baumaßnahme so auszuführen, dass die erforderlichen Grenzabstände auf dem eigenen Baugrundstück liegen. Dass auf den Nachbargrundstücken Freiflächen zur Verfügung stehen, begründet keine nicht beabsichtigte Härte in dem Sinne, dass der Bauherr die auf seinem Grundstück einzuhaltenden Grenzabstände/Freiflächen auf die Nachbargrundstücke verlagern dürfte.

Auch die weitgehende Privilegierung von Balkonen in der geschlossenen Bauweise durch § 7 b Abs. 3 NBauO lässt sich nicht als Argument für eine nicht beabsichtigte Härte fruchtbar machen. An die seitliche Grenze dürfen Balkone von beiden Seiten herantreten, während die hier umstrittenen Balkone den nach der NBauO erforderlichen Abstand zur Grenze des Grundstücks der Klägerin unterschreiten, ohne dass der Klägerin entsprechende Baumöglichkeiten eingeräumt werden.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass die Berufung auch nicht auf der Grundlage von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen werden kann. Besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art weist eine Sache erst dann auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers im Zulassungsverfahren nicht ohne weiteres beantwortet werden können (st. SenatsRspr., vgl. z.B. Beschl. v. 31.8.1998 - 1 L 3914/98 -, Nds. RPfl. 1999, 44). Das Gegenteil ist nach den vorstehenden Ausführungen der Fall.

Auf die von der Beklagten als grundsätzlich aufgeworfenen Fragen kommt es für die Entscheidung nicht an. Die Frage, "ob die Anwendung von § 86 NBauO dann ausscheidet, wenn eine vergleichbare grundstücksbezogene Situation in einer Mehrzahl von Fällen ... zu verzeichnen ist" würde sich im Berufungsverfahren ebenso wenig stellen wie die Frage, "ob entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die grundstücksbezogene Sondersituation sich auch im Zuge gewandelter Wohnansprüche ergeben kann". Mit der Feststellung, dass sich die Beigeladene nicht auf eine "nicht beabsichtigte Härte" im Sinne des § 86 Abs. 1 Nr. 2 NBauO berufen kann, wäre ein Berufungsverfahren zu Ungunsten der Beklagten und der Beigeladenen zu beantworten.

Ende der Entscheidung

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