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Beginn der Entscheidung

Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 12.11.2007
Aktenzeichen: 1 ME 276/07
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO


Vorschriften:

BauGB § 2 Abs. 2 S. 2
BauGB § 34 Abs. 3
BauNVO § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2
Ein zentraler Versorgungsbereich gem. § 34 Abs. 3 BauGB setzt eine zentrale Bedeutung/zentrale Funktion für einen bestimmten, nicht nur kleineren Einzugsbereich in einer Gemeinde mit regelmäßig koordinierenden Infrastrukturmaßnahmen voraus.
Gründe:

Die Antragstellerin, eine rechtlich selbständige Gemeinde im Kreisgebiet des Antragsgegners und eine Mitgliedsgemeinde in der Samtgemeinde F., wendet sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung (wohl) vom 29. Juni 2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 12. Juli 2007 für den Neubau eines Einkaufszentrums in der Ortslage von G., einem Ortsteil der westlich angrenzenden Nachbargemeinde H.. Im Einkaufszentrum sollten zunächst ein SB-Markt, ein Backshop, eine Drogerie und ein Getränkemarkt untergebracht werden. Die Beigeladene hat dann im Folgenden auf den Backshop verzichtet und für den Getränkemarkt nunmehr einen Landmaschinenhandel vorgesehen. Der Lebensmittelmarkt soll inzwischen eine Verkaufsfläche von 780 m² nicht mehr überschreiten. Der Ortsteil A. der Antragstellerin liegt knapp 6 km von G. entfernt. Nach den Feststellungen des Zweckverbandes Großraum I. im Aufstellungsverfahren des Regionalen Raumordnungsprogrammes für den Großraum I. - Entwurf 2007 - leben im Einzugsbereich der beiden ineinanderübergehenden Ortsteile J. und G. rd. 3000 Einwohner. Die Antragstellerin spricht in der Beschwerdeschrift von insgesamt 3.068 Einwohnern (Stand 2004), wovon 1992 Einwohner auf G. und 1076 auf J. entfallen. Im Bereich der Antragstellerin wohnen nach ihren Angaben etwa 1650 Einwohner.

Hinsichtlich der planungsrechtlichen Grundlagen ergibt sich das Folgende: Der Flächennutzungsplan der Gemeinde H. stellt das Baugrundstück als MD/MI-Gebiet dar. Die Gemeinde H. hat zur weiteren planungsrechtlichen Absicherung des Einkaufszentrums im März 2007 das Bauleitplanverfahren "SO Gebiet J. r Straße/L 289" eingeleitet. Der Entwurf des Bebauungsplanes ist vom 11. Mai bis 15. Juni 2007 ausgelegt worden. Die Antragstellerin hat erhebliche Einwendungen gegen diese Planungsabsichten erhoben. Der Zweckverband Großraum I. hat sich sowohl im Rahmen des Raumordnungsprogrammes 2007 als auch des Bauleitplanverfahrens geäußert. Er hat das genehmigte Vorhaben insgesamt sowohl aus bauleitplanerischer als auch raumordnungsrechtlicher Sicht wie folgt befürwortet: Am Standort G. sei der geplante Lebensmitteldiscounter mit einem kleineren Drogeriemarkt, allerdings ohne den zunächst auch vorgesehenen Getränkemarkt, unbedenklich. Für G. ergebe sich eine Entwicklungsreserve von 1070 m² Verkaufsfläche, die hier nicht überschritten werde. Das Bauleitplanverfahren der Gemeinde H. ist noch nicht abgeschlossen. Die von der Antragstellerin angegriffenen Baugenehmigungen sind auf der Grundlage des § 34 BauGB, und damit namentlich auch des Abs. 3 dieser Vorschrift, erteilt worden. Die Beigeladene hat mit der Errichtung des Vorhabens begonnen (Baustand siehe Fotos Bl. 88 - 90 der Beschwerdeakten).

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 31. Juli 2007 mit der Begründung abgelehnt, dass zwar Zweifel daran bestünden, ob die Voraussetzungen des Abs. 1 und 2 des § 34 BauGB erfüllt seien. Darauf könne sich die Antragstellerin als eine 6 km entfernte Nachbargemeinde aber nicht stützen. In Betracht komme allein ein gemeindlicher Nachbarschutz aus § 34 Abs. 3 BauGB. Daraus folge aber ebenfalls kein Abwehranspruch. Dies ergebe sich daraus, dass die von der Antragstellerin benannten Einzelhandelsgeschäfte in A. (Lageplan Bl. 26 d.GA) so weit auseinander lägen, dass nicht von einem zentralen Versorgungsbereich im Sinne dieser Vorschrift ausgegangen werden könne. Nur mehr oder weniger abstrakte Entwicklungsmöglichkeiten seien ebenfalls nicht schutzwürdig. Zum zweiten seien von dem genehmigten Einkaufsmarkt auch keine schädlichen Auswirkungen zu erwarten. Nach den Stellungnahmen des Zweckverbandes Großraum I. überschreite das Vorhaben mit einer Verkaufsfläche von 929 m² (SB-Markt 780 m², Drogeriemarkt 149 m²) nicht die errechnete Entwicklungsreserve von 1070 m². Auch andere Vorschriften vermittelten der Antragstellerin keinen gerichtlich durchsetzbaren Abwehranspruch. Dies gelte sowohl für § 11 Abs. 3 BauNVO, weiter auch für einschlägige Bestimmungen des Regionalen Raumordnungsprogrammes 1995 als auch bei einer Beurteilung der Zulässigkeit des genehmigten Vorhabens nach § 35 Abs. 3 Satz 2 BauGB. Wegen der verwaltungsgerichtlichen Ausführungen im Einzelnen wird auf den Beschluss Bezug genommen.

Die gegen den Beschluss vom 31. Juli 2007 gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg. Die im Hinblick auf § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die (rechtzeitig) geltend gemachten Beschwerdegründe zu beschränkende Prüfung führt nicht zu einem von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichenden Ergebnis. Der Antragstellerin steht als etwa 6 km entfernte Nachbargemeinde kein Abwehrrecht gegen die Errichtung des genehmigten Einkaufszentrums in G. zu.

Der Schwerpunkt des gerichtlichen Eilverfahrens liegt in der Beantwortung der Frage, ob der Antragstellerin ein gemeindliches Abwehrrecht aus § 34 Abs. 3 BauGB gegen die Errichtung des Einkaufszentrums mit einer Verkaufsfläche von insgesamt 929 m² in dem Ortsteil G. zusteht. Diese Überprüfung geht zuungunsten der Antragstellerin aus. Der Senat folgt den Erwägungen des Verwaltungsgerichts bereits dahingehend, dass schon die erste Voraussetzung des § 34 Abs. 3 BauGB, nämlich die Annahme eines "zentralen Versorgungsbereiches" in A., nicht bejaht werden kann. § 34 Abs. 3 BauGB vermittelt nur für die Gemeinden ein Abwehrrecht, in denen "zentrale Versorgungsbereiche" vor schädlichen Auswirkungen geschützt werden können. Als solche kommen Gebiete in Betracht, die aufgrund ihrer baulichen Nutzungen und deren räumlichen Zuordnung und verkehrsmäßigen Anbindung für die Versorgung der Bevölkerung insbesondere mit Waren und Dienstleistungen des kurz-, mittel- und langfristigen Bedarfs zentrale städtebauliche Funktionen haben. Sie dienen also der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie von Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung, der Kultur und für soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke (insoweit auch § 2 Abs. 2 Satz 2 BauGB). Das Gebiet muss dabei eine für die Versorgung der Bevölkerung in einem bestimmten Einzugsbereich zentrale Funktion haben. Merkmale dieser zentralen Versorgungsbereiche sind: Sie beziehen sich auf einen bestimmten räumlichen Bereich des Stadt- und Gemeindegebietes; der Bereich ist geprägt durch bauliche Anlagen, die Waren und Dienstleistungen unterschiedlicher Art für die Bevölkerung dieses räumlichen Bereichs und darüber hinaus weitere Gebiete (Einzugsbereich) anbieten; die Gesamtheit dieser baulichen Anlagen ist aufgrund ihrer Zuordnung innerhalb des räumlichen Bereichs und aufgrund ihrer verkehrsmäßigen Erschließung und verkehrlichen Anbindung in der Lage, den Zweck eines zentralen Versorgungsbereiches zu erfüllen (so Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Loseblatt-Kommentar, Stand: 1. Mai 2007, § 34 Rdnr. 85). Der in § 34 Abs. 3 BauGB aufgenommene Begriff der "zentralen Versorgungsbereiche" ist relativ neu in das BauGB aufgenommen worden und wird insbesondere in der Literatur kontrovers erörtert (vgl. dazu etwa die Literaturnachweise bei Uechtritz, § 34 III BauGB - Klarstellungen und offene Fragen, NVwZ 2007, 660, Fußnote 2; ferner Rieger, UPR 2007, 366; Schröer, ÖffBauR, 2005, 134; Reidt, NVwZ 2007, 664; Wahlhäuser, BauR 2007, 1359). In der obergerichtlichen Rechtsprechung hat sich bislang - soweit ersichtlich - allein das OVG Münster (Urt. v. 11.12.2006 - 7 A 964/05 - BauR 2007, 845 = NVwZ 2007, 727 = NWVBl 2007, 259) mit dem Begriff des zentralen Versorgungsbereiches wie folgt auseinandergesetzt:

"Je nach ihrer konkreten Versorgungsfunktion können sie auf einen engeren oder einen mehr oder weniger weiten Bereich einwirken und dessen Versorgung dienen sowie dabei einen umfassenderen oder nur eingeschränkten Versorgungsbedarf abdecken. Hiervon ausgehend können als "zentrale Versorgungsbereiche" angesehen werden:

- Innenstadtzentren, die einen größeren Einzugsbereich, i.d.R. das gesamte Stadtgebiet und ggf. sogar darüber hinaus ein weiteres Umland, versorgen und in denen regelmäßig ein breites Spektrum von Waren für den lang-, mittel- und kurzfristigen Bedarf angeboten wird,

- Nebenzentren, die einen mittleren Einzugsbereich, zumeist bestimmte Bezirke größerer Städte, versorgen und in denen regelmäßig ein zumindest breiteres Spektrum von Waren für den mittel- und kurzfristigen, ggf. auch den langfristigen Bedarf angeboten wird, sowie

- Grund- und Nahversorgungszentren, die einen kleineren Einzugsbereich, i.d.R. nur bestimmte Quartiere größerer Städte bzw. gesamte kleinere Orte, versorgen und in denen regelmäßig vorwiegend Waren für den kurzfristigen Bedarf und ggf. auch für Teilbereiche des mittelfristigen Bedarfs, angeboten werden ."

Die so vorgenommene Differenzierung hat bislang allgemein Zustimmung erfahren und wird auch vom Senat zugrunde gelegt. Der Schutzzweck des § 34 Abs. 3 BauGB erfasst demnach nicht nur Hauptzentren, sondern auch Nebenzentren, insbesondere Nahversorgungsbereiche (so inzwischen auch ausdrücklich BVerwG, Beschl. v. 20.11.2006 - 4 B 50.06 - Buchholz 406.11 § 17 BauGB Nr. 10). Merkmal eines in diesem Sinne nicht "eng" zu verstehenden zentralen Versorgungsbereiches bleibt aber stets die Bejahung der zentralen Bedeutung bzw. der zentralen Funktion für einen bestimmten, nämlich jedenfalls einerseits nicht zu kleinen bzw. andererseits durchaus auch größeren gemeindlichen Einzugsbereich. Dies kann für das Zentrum von A., wie es von der Antragstellerin vorgetragen bzw. sich aus den von ihr zu den Gerichtsakten gereichten Lageplan Bl. 26 d. GA ableiten lässt, nicht bejaht werden. Die Antragstellerin meint, bei dem im Straßenkreuzungsbereich F. r Straße/Fallersleber Straße angesiedelten Geschäften bzw. sonstigen Versorgungseinrichtungen handele es sich um einen solchen zentralen Versorgungsbereich. Dem folgt der Senat - ebenso wie bereits das Verwaltungsgericht - nicht. Nicht schon jede, in einem mehr oder weniger größeren Abstand zueinander bzw. in keinem sonstigen Zusammenhang zueinander stehende Ansiedlung von Geschäften an einer Straße führt schon zur Annahme eines zentralen Versorgungsbereiches. In A. fehlt dafür jegliche übergeordnete und zueinander koordinierte Planung, sei es für die Einzelhandelsgeschäfte selbst oder für dazu zu zählende Annexe wie etwa Hotels oder die der ärztlichen oder sozialen Versorgung dienenden Einrichtungen. Es ist insbesondere keine begleitende Infrastruktur feststellbar, wie etwa die Zurverfügungstellung von Parkplätzen, die Ausweitung der Straßenrandbereiche oder von platzartigen Ausgestaltungen. Mit anderen Worten, allein das Vorhandensein einer gewissen Anzahl von Einzelhandelsgeschäften, die sich perlenartig an den Hauptstraßen angesiedelt haben, führt unter dem Blickwinkel des § 34 Abs. 3 BauGB - noch - nicht zur Schutzwürdigkeit.

Eine andere rechtliche Beurteilung folgt auch nicht aus der von der Antragstellerin angeführten und nach ihren Angaben beabsichtigten Ansiedlung eines vergleichbaren Einzelhandelsbetriebes in A.. Das OVG Münster hat in dem oben zitierten Urteil (a.a.O.) offen gelassen, ob sich ein "Versorgungsbereich" auf eine real bereits vorhandene Nutzung beschränkt oder ob ein solcher Versorgungsbereich auch dann vorliegen kann, wenn in dem betreffenden Bereich jedenfalls nach den planerischen Zielvorstellungen der Gemeinde solche Einzelhandelsnutzungen (verstärkt) angesiedelt werden sollen (diese Frage wird ebenfalls kontrovers diskutiert: Vergleiche dazu die zuvor angeführten Literaturstellen, namentlich Uechtritz, NVwZ 2007, 660). Jedenfalls geht - soweit ersichtlich - keine Auffassung so weit, jegliche abstrakte Planung einer Gemeinde, also nur ungesicherte und ungewisse Wunsch- bzw. Zukunftsvorstellungen, schon dem Regime des § 34 Abs. 3 BauGB zu unterstellen. In jeden Fall bedarf es dafür einer planerischen Festschreibung, vorrangig etwa durch einen Bebauungsplan. Davon kann hier nicht die Rede sein. Die Antragstellerin trägt lediglich vor, dass sie für A. einen entsprechenden Investor suche, dies aber bislang erfolglos geblieben ist. Dies ist in keinem Fall ausreichend.

Kann bereits ein zentraler Versorgungsbereich in A. nicht bejaht werden, bedarf es keiner näheren Klärung, ob mit dem genehmigten Vorhaben in G. schädliche Auswirkungen i.S. des § 34 Abs. 3 BauGB für A. verbunden sein können. Dafür spricht nach den zu den Akten genommenen Stellungnahmen des Zweckverbandes Großraum I. allerdings wenig. Zum einen ist der Blick noch einmal darauf zu richten, dass es sich im vorliegenden Fall "lediglich" um einen Einzelhandelsbetrieb mit insgesamt 929 m² Verkaufsfläche handelt. Der SB-Markt soll nur 780 m² Verkaufsfläche aufweisen. Es handelt sich also um eine Größenordnung, die noch unter dem Maßstab des § 11 Abs. 3 BauNVO mit 1200 m² Geschossfläche liegt. Das BVerwG (u.a. Urt. v. 24.11.2005 - 4 C 10.04 - DVBl 2006, 448 = BauR 2006, 639 = ZfBR 2006, 247) hat nunmehr geklärt, dass Einzelhandelsbetriebe nur dann großflächig i.S. von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO sind, wenn sie eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreiten. Der SB-Markt der Beigeladenen liegt unter dieser Schwelle.

Unabhängig davon geht der Zweckverband Großraum I. in seiner Stellungnahme noch von einer Entwicklungsreserve von 1070 m² Verkaufsfläche in G. aus. Der Senat sieht die dafür angegebene Begründung bzw. Berechnung durch die Ausführungen in der Beschwerde weder als erschüttert noch als zweifelhaft an. Auch an dieser Voraussetzung scheitert danach der nachbarliche Abwehranspruch der Antragstellerin.

Ende der Entscheidung

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