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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 18.02.2009
Aktenzeichen: 1 ME 281/08
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO


Vorschriften:

BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 1 Abs. 5
Zu Fragen des Nachbarschutzes gegen eine Befreiung für eine Spielhalle von einer Planfestsetzung, mit der Vergnügungsstätten im Kerngebiet nach § 1 Abs. 5 BauNVO (teilweise) ausgeschlossen wurden.
Gründe:

Die Antragstellerin wendet sich als Nachbarin gegen eine der Beigeladenen zu 1) erteilte Baugenehmigung zur Nutzung des Unter- und Erdgeschosses des Büroturms des Bauvorhabens "Kabenhof" als Spielstätte und gegen eine dem Beigeladenen zu 2) dazu erteilte Befreiung von Ziff. 1.2 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes "Bahnhof".

Sie selbst ist Miteigentümerin des mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstücks Neue Straße 21 ("Ulmenhof"), das durch den Bebauungsplan "Innenstadt Teil VI" als Kerngebiet mit Grundflächenzahl 0,9, geschlossener Bauweise und drei Vollgeschossen als Höchstgrenze festgesetzt ist.

Der Kabenhof - Lindenstraße 2 bis 10 - wird zwischen der Lindenstraße und dem Bahngelände im Plangebiet "Bahnhof" errichtet. Der Bebauungsplan setzt hier Kerngebiet (MK 1) mit Grundflächenzahl 0,9, Geschoßflächenzahl 2,7, drei Vollgeschossen als Höchstmaß und geschlossener Bauweise fest. Der Bebauungsplan trifft u.a. folgende textliche Festsetzung:

"1.2 Im Kerngebiet MK 1 und MK 2 sind Vergnügungsstätten gem. § 1 Abs. 5 BauNVO unzulässig und in den Kerngebieten MK 5 und MK 6 gem. § 1 Abs. 7 BauNVO lediglich in den Geschossen oberhalb des Erdgeschosses zulässig."

Das Gesamtvorhaben der Beigeladenen zu 1) besteht aus einem Gebäudekomplex mit ca. 1.600 m² Laden- und ca. 1.500 m² Bürofläche sowie einem Parkhaus mit 450 Stellplätzen, von denen 200 der Antragsgegnerin als P+R-Stellplätze zur Verfügung stehen sollen. Im südwestlichen Teil ist ein Büroturm von 17,33 m Höhe mit drei Vollgeschossen und einem Staffelgeschoss vorgesehen. Nach Nordosten schließt sich ein Gebäudeteil von 13,96 m Höhe an, der ein Parkdeck im Kellergeschoss, eine Ladenzeile im Erdgeschoss und vier Parkdecks aufweisen soll. Der Büroturm, der die Spielhalle aufnehmen soll, liegt etwa 75 m vom Ulmenhof entfernt, der Eingang etwa 100 m.

Nach verschiedenen Teilbaugenehmigungen erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen zu 1) unter dem 30. Juni 2008 eine widerrufliche (Nachtrags-)Baugenehmigung "Nutzung Spielstätte im UG und EG" und zugleich dem Beigeladenen zu 2) eine Befreiung von der textlichen Festsetzung Ziff. 1.2 des Bebauungsplans (Vergnügungsstätte) mit Widerrufsvorbehalt für den Fall, dass dieser nicht - wie zugesagt - eine andere Spielstätte aufgebe oder eine andere Spielstätte errichte. Bereits mit Schreiben vom 5. März 2007 hatte die Antragsgegnerin auf Anfrage der E. GmbH bestätigt, dass sie unter den genannten Bedingungen bereit sei, im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens von der oben genannten Festsetzung Befreiung zu erteilen. Unter dem 29. Oktober 2008 erteilte sie der Beigeladenen zu 1) eine abschließende Baugenehmigung für den Neubau eines Geschäfts- und Parkhauses. Diese ist mit den anderen Teilbaugenehmigungen im Übrigen Gegenstand des Verfahrens 1 ME 282/08.

Das Verwaltungsgericht hat vorläufigen Rechtsschutz im Wesentlichen mit der Begründung versagt, die Festsetzung des Bebauungsplanes, auf die die Antragstellerin ihr Begehren stütze, habe nach der Begründung zum Bebauungsplan keine nachbarschützende Wirkung, sondern diene wirtschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Zielen. Deren Rechtsverletzung durch die Teilbaugenehmigung und die Befreiung sei deshalb ausgeschlossen.

Mit ihrer dagegen gerichteten Beschwerde trägt die Antragstellerin vor:

Das Verwaltungsgericht habe unter Verletzung ihres Anspruchs auf Gehör Vortrag aus ihrem Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 unberücksichtigt gelassen, nämlich insbesondere den Vorwurf, die Erteilung der Teilbaugenehmigung und der Befreiung hätten bereits festgestanden, bevor hierfür Anträge gestellt worden seien. Das verletze auch die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO. Die maßgeblichen Festsetzungen des Bebauungsplanes seien in gebietsübergreifender Weise nachbarschützend, weil sie nach der Begründung zum Bebauungsplan auch dem Schutz von Individualinteressen dienen sollten. Das gehe aus der Verwendung des Begriffes "öffentliche Sicherheit" hervor, der auch in den angrenzenden Bebauungsplangebieten wortgleich verwendet worden sei. Geschützt werden sollten mithin Leben, Gesundheit und Eigentum des Einzelnen. Sie habe entgegen der Darstellung des Verwaltungsgerichts auch nicht allein die objektive Rechtswidrigkeit der Befreiung geltend gemacht, sondern eine vollständige Missachtung ihrer Nachbarrechte.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladenen treten dem entgegen.

Der Beigeladene zu 2) beantragt, die Zuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag mit zutreffender Begründung abgelehnt. Auf das Vorbringen im Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 musste es nicht gesondert eingehen, weil es darauf aus seiner Sicht nicht entscheidungserheblich ankam.

Die textliche Festsetzung 1.2 des Bebauungsplanes begründet keinen - zumal plangebietsübergreifenden - Nachbarschutz. Die Beigeladene zu 1) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der Senat Gliederungen der Nutzungsart nachbarschützende Wirkung nur beimisst, wenn die Gemeinde dies mit der betreffenden Festsetzung bezweckt (ausführlich Beschl. v. 11.12.2003 - 1 ME 302/03 -, BauR 2004, 789; ferner Beschl. v. 31.5.2006 - 1 ME 17/06 -, BauR 2007, 511). Eine solche Absicht lässt sich der Begründung zum Bebauungsplan nicht entnehmen. Danach sollen die erdgeschossigen Schaufensterlagen Einzelhandelsgeschäften vorbehalten bleiben, die in besonderem Maße auf diese publikumswirksamen Lagen angewiesen sind. Daneben soll die Festsetzung der Belebung der fußläufigen Verbindung zwischen Bahnhof und Innenstadt über die Lindenstraße dienen. Gleichzeitig werde eine Stärkung des Standortes und eine Verbesserung der sozialen Kontrolle und öffentlichen Sicherheit erzielt.

Daraus lassen sich nachbarschützende Absichten nicht herleiten. Insbesondere der Begriff der öffentlichen Sicherheit, auf den sich die Antragstellerin vor allem stützt, lässt sich schon wegen der Kennzeichnung als "öffentlich" nicht für eine Schutzwirkung zugunsten privater Dritter fruchtbar machen. Die Antragsstellerin trennt insoweit begrifflich nicht ausreichend zwischen der direkten Schutzabsicht und der mittelbaren Wirkung. Allein der Umstand, dass eine Festsetzung einem Dritten in irgendeiner Weise zugute kommt, reicht für die Herleitung einer nachbarschützenden Absicht nicht aus.

Der Umstand, dass vergleichbare Festsetzungen in allen Bebauungsplänen des Umgebungsbereichs getroffen worden sind, ändert daran nichts. Im Gegenteil ergibt sich aus der von der Antragstellerin hierfür angeführten Begründung zum Bebauungsplan "Innenstadt Teil IV, 1. Änderung" gerade, dass eine Verbesserung der sozialen Kontrolle und öffentlichen Sicherheit dort nicht als besonderer städtebaulicher Grund für den Ausschluss von Vergnügungsstätten herangezogen wurde; als Ziel wurde vielmehr das harmonische Zusammenwirken von Architektur, städtebaulicher Qualität und Nutzungsgefüge benannt. Im Übrigen orientiert sich die Planänderung hierfür an dem Gebietscharakter "eines stark mit Wohnnutzungen durchsetzten Kerngebietes", nimmt also die Bebauung an der Bahn allenfalls nachrangig in den Blick (unbeschadet einer planerischen Absicherung der "Südtangente"), was ebenso gegen ein Aufeinanderbezogensein mit dem hier zugrunde liegenden Bebauungsplan spricht wie der Umstand, dass zwischen den Satzungsbeschlüssen ein Zeitraum von mehr als 10 Jahren verstrichen ist. Der Senat hat zwar auch in einem Fall, in dem zwei benachbarte Bebauungspläne in einem Zeitabstand von 15 Jahren aufgestellt wurden, deutliche Anhaltspunkte dafür finden können, dass diese unter dem Gesichtspunkt des Nachbarschutzes miteinander korrespondieren sollten (vgl. Beschl. v. 27.4.2001 - 1 MB 1190/01 -, BauR 2001, 1239); diese fehlen hier jedoch.

Wäre der Auffassung der Antragstellerin zu folgen, dass die fragliche Festsetzung nicht nur dem "trading down"-Effekt entgegenwirken soll (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 4.9.2008 - 4 BN 9.08 -, BauR 2009, 76), sondern durch ihre Bezugnahme auf die "öffentlichen Sicherheit" darüber hinaus nachbarschützenden Charakter mit dem Inhalt habe, dass sie den Schutz von Leib, Leben und Eigentum der Nachbarn bezwecke, wäre letztere Begründung für sich genommen auch kaum tragfähig. Es gibt keinen anerkannten Grundsatz, dass Spielhallen unmittelbar zu einer Gefährdung der genannten Schutzgüter führen. Sie sind in Kerngebieten im Prinzip ohne weiteres zulässig. Auch in den hier fraglichen Bebauungsplänen sind sie nicht generell ausgeschlossen. Wollte die Gemeinde eine unmittelbare Gefährdung von Leib, Leben und Gesundheit der Nachbarn zur Grundlage einer solchen Festsetzung machen, hätte sie hierfür jedenfalls einen wesentlich höheren Begründungsaufwand betreiben müssen.

Die Frage, ob eine Abweichung von selbst nicht nachbarschützenden Festsetzungen im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB "auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist", beurteilt sich nach den allgemein für das Rücksichtnahmegebot entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.9.1986 - 4 C 8.84 -, BauR 1987, 70; Beschl. v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 -, BauR 1998, 1206). Auf die weiteren Differenzierungen, auf die der im Beschluss im Parallelverfahren 1 ME 282/08 noch hinweist, kommt es hier schon deshalb nicht an, weil der Standort der Spielhalle vom Ulmenhof mit etwa 100 m zum Eingang der Spielhalle zu weit entfernt ist, als dass nachbarliche Interessen hier noch eine Rolle spielen könnten.

Unabhängig hiervon greift die Auffassung der Antragstellerin nicht durch, ihr sei schon deshalb vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, weil sich die Antragsgegnerin hinsichtlich zu erteilender Befreiungen vorfestgelegt habe. Bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans hat der Nachbar über den Anspruch auf "Würdigung nachbarlicher Interessen" hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde (BVerwG, B. v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 -, a.a.O.; OVG Saarlouis, Beschl. v. 5.7.2007 - 2 B 144/07 -, a.a.O.). Darüber hinaus geht die Vorstellung fehl, eine Meinung über die Zulässigkeit einer Befreiung dürfe sich die Genehmigungsbehörde überhaupt erst dann bilden, wenn der Antrag auf Befreiung unmittelbar zur Entscheidung ansteht. Das Gegenteil ergibt sich aus den verwaltungsrechtlichen Handlungsinstrumenten des Bauvorbescheides nach § 74 NBauO und der Zusicherung im Sinne des § 38 VwVfG. Diese tragen dem Umstand Rechnung, dass der Bauherr oder ein sonstiger Genehmigungsantragsteller ein berechtigtes Interesse daran haben kann, bestimmte Detailfragen frühzeitig klären zu lassen, bevor er die Kosten für eine komplette Antragstellung auf sich nimmt oder in anderer Weise in das Vorhaben investiert. Daraus folgt, dass eine Festlegung der Genehmigungsbehörde schon im Vorfeld der Antragstellung nicht für sich genommen zu beanstanden ist. Sie kann fehlerhaft sein, etwa wenn sie ohne eine erforderliche Anhörung Dritter erfolgt, wie sie bei einer Zusicherung nach § 38 Abs. 1 Satz 2 VwVfG ggfs. geboten wäre. Unabhängig davon, welche Rechtsqualität hier dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 5. März 2007 beizumessen ist, sind aber Verfahrensfehler der Antragstellerin gegenüber nicht hervorgetreten. Insbesondere ein Beteiligungserfordernis nach § 72 NBauO bestand mangels nachbarschützenden Charakters der fraglichen Festsetzung des Bebauungsplanes nicht (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.2.2005 - 9 ME 62/03 -, n.v.); außerdem würde ein unterstellter Verfahrensfehler auch nur zu einem Erfolg des Rechtsschutzbegehrens führen können, wenn, er sich auf eine materiell-rechtliche Rechtsposition des Betroffenen auswirken könnte (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/ Schmaltz/Wiechert, NBauO, 8. Aufl. 2006, § 72 Rdnr. 96)

Ende der Entscheidung

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