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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 29.06.2007
Aktenzeichen: 10 MC 147/07
Rechtsgebiete: AufenthG, EMRK, GG


Vorschriften:

AufenthG § 25 Abs. 5
EMRK § 8 Abs. 1
EMRK § 8 Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 1
Zu den Anforderungen eines rechtlichen Abschiebungshindernisses aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) bei jungen Volljährigen.

Auch die Bindungen eines volljährigen Kindes zu seinen Eltern unterliegt dem grundrechtlichen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG). Es ist jedoch nicht zu beanstanden, wenn den Bindungen eines volljährigen Kindes zu seinen Eltern im Vergleich zu denen eines minderjährigen Kindes ein geringeres Gewicht beigemessen wird.

Zum Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK (Einwand des Ausländers, faktischer Inländer zu sein)


NIEDERSÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT LÜNEBURG BESCHLUSS

Aktenz.: 10 MC 147/07

Datum: 29.06.2007

Gründe:

Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Februar 2006 anzuordnen, bleibt ohne Erfolg.

Es kann dahinstehen, ob der Antrag zulässig ist, da der Antrag jedenfalls unbegründet ist. Im Rahmen eines Antrages nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Dabei ist zu prüfen, ob das Interesse des Antragstellers an der vorläufigen Aussetzung der Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Durchsetzung überwiegt. Bei der in diesem Rahmen zu treffenden eigenen Ermessensentscheidung des Gerichts kommt es maßgeblich darauf an, ob der Rechtsbehelf, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet werden soll, voraussichtlich Erfolg haben wird.

Nach der für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und in Anbetracht der dem Senat zur Verfügung stehenden Zeit nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass die Klage des Antragstellers nicht erfolgreich sein wird. Der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin ist aller Voraussicht nach rechtmäßig. Zur Begründung im Einzelnen verweist der Senat in entsprechender Anwendung des § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. März 2007 (Az.: 12 A 2422/06) angeführten Gründen, denen er weiterhin folgt.

Die mit der Antragsschrift dagegen erhobenen Einwände des Antragstellers rechtfertigen eine andere Entscheidung nicht.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass im Hinblick auf den Schutz der familiären Bindung des Antragstellers gemäß Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK seine Ausreise rechtlich unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist oder bezogen auf § 5 Abs. 3 Halbsatz 2 AufenthG die Antragsgegnerin verpflichtet ist, dem Antragsteller trotz Vorliegens eines Ist-Ausweisungsgrundes (§ 53 Nr. 1 AufenthG) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der grundrechtliche Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG auch die familiären Bindungen des volljährigen Kindes zu seinen Eltern erfasst. Dabei ist zu beachten, dass der grundrechtliche Schutz der Familie unmittelbar keinen Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet gewährt. Die Ausländerbehörde hat jedoch bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, u.a. bei Ermessensentscheidungen, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine Bindungen an im Bundesgebiet berechtigterweise lebende Familienangehörige angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, DVBl. 2006, 247; Beschlüsse der 1. Kammer des 2. Senats vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02 -, DVBl. 2003, 1260, vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59 und vom 1. August 1996 - 2 BvR 1119/96 -, NVwZ 1997, 479; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 19/96 -, BVerwGE 106,13). Für die ausländerrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, wobei eine Betrachtung des Einzelfalles geboten ist. Es unterliegt keinen rechtlichen Bedenken, dass das Verwaltungsgericht den Bindungen eines volljährigen Kindes zu seinen Eltern im Vergleich zu denen eines minderjährigen Kindes ein geringeres Gewicht zugemessen hat. Hierbei hat es zutreffend berücksichtigt, dass mit Erlangung der Volljährigkeit die vollständige rechtliche Selbständigkeit in allen Lebensbereichen eintritt und die bis dahin bestehende elterliche Sorge entfällt. Damit geht die Verantwortung von den Eltern auf den Volljährigen über und die Familie verliert ihre Aufgabe als Erziehungsgemeinschaft. Der Antragsteller hat bereits sein 21. Lebensjahr vollendet. Er hat weder konkret dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass er trotz seiner Volljährigkeit in besonderer Weise auf den Beistand und die Unterstützung seiner Familienangehörigen angewiesen ist oder die Familienangehörigen seines Beistands bedürfen. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, dass seine schützenswerten familiären Bindungen in ihrer Bedeutung die ausländerrechtlichen Belange an der Aufenthaltsbeendigung aufgrund des erheblichen strafbaren Verhaltens des Antragstellers überwiegen. Aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten sind die Voraussetzungen einer Ist-Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben. Zwar ist dem Antragsteller besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zuzubilligen. Jedoch liegen in den Fällen der Ist-Ausweisung (§ 53 AufenthG) im Regelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für eine Aufenthaltsbeendigung vor (§ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG), so dass der Ausländer trotz besonderen Ausweisungsschutzes in der Regel auszuweisen ist (§ 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). In Abwägung mit den schützenswerten familiären Bindungen des Antragstellers überwiegen deshalb die öffentlichen Belange, die für eine Aufenthaltsbeendigung streiten.

Auch im Hinblick auf den Schutz des Privatlebens des Antragstellers nach Art. 8 Abs. 1 EMRK sind seine Einwände gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts unbegründet. Nach dieser Bestimmung hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens; Art. 8 Abs. 2 EMRK regelt die Zulässigkeit von Eingriffen von staatlichen Stellen in die Ausübung dieses Rechts. Wesentliches Ziel der Vorschrift ist der Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Einmischung der öffentlichen Gewalt in das Privat- und Familienleben. Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens lässt sich nicht schon allein mit dem Argument bejahen, ein Ausländer halte sich bereits seit geraumer Zeit im Vertragsstaat auf und wolle dort sein Leben führen.

Im Hinblick auf den Schutz des Privatlebens kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung grundsätzlich Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann. Ob eine solche Fallkonstellation für einen Ausländer in Deutschland vorliegt, hängt zum einen von der Integration des Ausländers in Deutschland, zum anderen von seiner Möglichkeit zur (Re-)Integration in seinem Heimatland ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Mit zu berücksichtigen ist auch die Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthalts.

Das Verwaltungsgericht hat im Hinblick auf die Integration des Antragstellers zutreffend berücksichtigt, dass er bereits im Alter von sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Er hat deshalb den Großteil seines Lebens in Deutschland verbracht. Er beherrscht die deutsche Sprache und hat in Deutschland seine schulische Ausbildung erhalten. Zwar ist er in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht in der Bundesrepublik zunächst nur geduldet worden, jedoch ist sein Aufenthalt seit ca. 6 1/2 Jahren rechtmäßig. Dennoch vermag der Senat nicht festzustellen, dass der Antragsteller in die hiesigen Verhältnisse derart fest integriert ist, dass ihm eine Ausreise in seinen Heimatstaat nicht zuzumuten ist. Gegen eine derart gefestigte Integration des Antragstellers spricht zunächst, dass er über einen längeren Zeitraum, nämlich bereits seit 2001 und damit unmittelbar nach Legalisierung eines Aufenthalts im Dezember 2000, kontinuierlich und in erheblicher Anzahl Straftaten begangen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schwere der Straftaten ständig zugenommen hat und auch zwischenzeitliche Verurteilungen - insbesondere Jugendstrafen - ihn von der Begehung weiterer, erheblicher Straftaten nicht abhalten konnten. Zudem hat er staatliche Hilfsangebote - etwa die Bewährungshilfe - nicht wahrgenommen und Bewährungsauflagen nicht beachtet. Ferner ist in die Abwägung mit einzustellen, dass es ihm trotz seines Alters bisher nicht gelungen ist, eine berufliche Ausbildung zu beginnen. Auch wenn der Antragsteller zwischenzeitlich den Hauptschulabschluss in der Jugendanstalt erlangt hat, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass er alsbald einen Ausbildungsplatz erlangen wird. Daher ist dem Antragsteller in wirtschaftlicher Hinsicht eine Integration nicht gelungen. Der Senat erachtet die Rückkehr des Antragstellers in sein Heimatland auch deshalb nicht als unzumutbar, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass er dort keine Bezugspunkte vorfinden wird. Nach seinem Vorbringen lebt dort seine Großmutter. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass er bei seiner (Re-)Integration in seinem Heimatland Unterstützung durch Verwandte finden wird.

Ende der Entscheidung

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