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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 16.05.2006
Aktenzeichen: 11 ME 110/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 100 a
StPO § 477 II 2
1. Nimmt der Dolmetscher durch Weitergabe von Untersuchungsergebnissen an dritte Tatverdächtige zielgerichtet auf laufende Ermittlungsverfahren Einfluss, kann dieses Fehlverhalten einen die Unzuverlässigkeit begründenden nachhaltigen Vertrauensverlust der am gerichtlichen Verfahren Beteiligten in seine persönliche Integrität nach sich ziehen.

2. § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO erlaubt unter den angegebenen Voraussetzungen (hier: zur Abwehr von erheblichen Gefahren) die Übermittlung der im Rahmen einer Überwachungsmaßnahme nach § 100 a StPO ermittelten Informationen und auch deren zweckgemäße Verwendung in einem der Gefahrenabwehr dienenden Verwaltungsverfahren.


Gründe: Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen ihre Streichung aus der Liste der allgemein beeidigten Dolmetscher. Die im Jahr 1979 in Kasachstan geborene Antragstellerin wurde am 12. Februar 2003 als Dolmetscherin und Übersetzerin der russischen Sprache für die Gerichte und Notare des Landgerichts B. allgemein beeidigt und im Anschluss daran in das beim Landgericht geführte Verzeichnis der allgemein beeidigten Dolmetscher und Übersetzer aufgenommen. Die Antragstellerin ist in einer Rechtsanwaltskanzlei beschäftigt. Die Rechtsanwälte dieser Kanzlei vertraten Beschuldigte in einem Ermittlungsverfahren, in dem einer Täterbande vorgeworfen wurde, Pkws zu beschaffen, diese zu zerlegen oder durch Veränderungen der Fahrgestell- bzw. Fahrzeugidentitätsnummern zu "frisieren", um die Fahrzeuge bzw. Fahrzeugteile dann entweder in osteuropäischen Ländern oder in Deutschland selbst zu veräußern. Im Rahmen der Ermittlungen wurden aufgrund richterlicher Beschlüsse mehrere Mobilfunktelefonanschlüsse der beschuldigten Personen überwacht. Dabei wurde festgestellt, dass die Antragstellerin mehrere Telefongespräche mit verschiedenen Beschuldigten vom Telefonanschluss der vorerwähnten Rechtsanwaltskanzlei aus führte. Es entstand der Verdacht, dass die Antragstellerin Inhalte polizeilicher Ermittlungstätigkeit sowie Aussagen von Verfahrensbeteiligten an Tatbeteiligte weitergegeben habe. Auf Anforderung des Antragsgegners übermittelte die Staatsanwaltschaft C. die bei ihr geführten Strafakten einschließlich der Erkenntnisse aus der gerichtlich angeordneten Telefonüberwachung. Ausweislich der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft C. vom 28. September 2004 wurde u.a. ein Telefonat vom 5. Juli 2004 zwischen der Antragstellerin und einer Person mit dem Namen "D." (E. F.) protokolliert. Wegen des Inhalts wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Beschlusses verwiesen. Mit Widerrufsbescheid vom 4. Oktober 2005 verfügte der Antragsgegner unter Anordnung der sofortigen Vollziehung, dass die Antragstellerin aus der Liste der allgemein beeidigten Dolmetscher und Übersetzer gestrichen wird und die Antragstellerin die beglaubigte Abschrift des Vereidigungsprotokolls vom 2. Dezember 2003 zurückzugeben hat. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus: Die Antragstellerin sei aus der Liste der allgemein beeidigten Dolmetscher zu streichen, weil sie sich durch die Weitergabe von Kenntnissen aus einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren an potenzielle Beschuldigte bzw. Tatbeteiligte als unzuverlässig erwiesen habe. Die vom Dolmetscher geforderte Zuverlässigkeit beschränke sich nicht nur auf die fehlerfreie und richtige Übersetzung, sondern erstrecke sich auch auf die im Zusammenhang mit der gerichtlichen Tätigkeit erforderliche allgemeine Lauterkeit und Korrektheit des Dolmetschers und Übersetzers. Die am gerichtlichen Verfahren Beteiligten vertrauten darauf, dass ein allgemein beeidigter Dolmetscher persönlich integer sei und nicht in einer steuernden Weise Einfluss auf Verfahren nehme, welche die Rechtsfindung erschwere bzw. verhindere. Dieses Vertrauen habe die Antragstellerin enttäuscht, indem sie ausweislich der Telefonüberwachungsprotokolle, deren Inhalt zur Abwehr einer Verletzung des Schutzgutes "Zuverlässigkeit und Funktionsfähigkeit der Justiz" verwertbar sei, Erkenntnisse aus einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren an Tatverdächtige weitergegeben habe. Der hohe Stellenwert einer zuverlässig arbeitenden Justiz mache die Streichung der Antragstellerin aus der Dolmetscherliste erforderlich. Mit der Weitergabe von Ermittlungserkenntnissen habe die Antragstellerin strafrechtliche Ermittlungsarbeit in ihrem Kernbereich bewusst grundlegend zu stören versucht. Sie habe aktiv-steuernd auf ein Ermittlungsverfahren zugunsten von Tatverdächtigen Einfluss genommen. Ihre damit gezeigten charakterlichen Mängel berührten unmittelbar die Anforderungen, welche für Gerichtsdolmetscher unabdingbar seien. Es liege ein Vertrauensverlust der Justizbehörden in die persönliche und charakterliche Integrität der Antragstellerin vor, der über den einmaligen Verstoß hinaus fortbestehe. Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 28. Februar 2006 vorläufigen Rechtsschutz versagt. Die Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Die Beschwerdegründe, auf deren Überprüfung sich das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen nicht eine Abänderung des angegriffenen Beschlusses. Die Verfügung des Antragsgegners vom 4. Oktober 2005 erweist sich als voraussichtlich rechtmäßig. Das Verwaltungsgericht begründet seine vorläufigen Rechtsschutz gegen die Streichung der Antragstellerin aus der Dolmetscherliste versagende Entscheidung damit, dass sich die persönliche Ungeeignetheit und Unzuverlässigkeit der Antragstellerin aus der Weitergabe von ihr bekannt gewordenen Erkenntnissen aus einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren an dritte Tatverdächtige ergebe. Die Antragstellerin macht mit der Beschwerde geltend, dass das Protokoll der Telefonüberwachung ein unzulässiges Beweismittel sei, das im Verwaltungsverfahren nicht herangezogen werden könne. Der Senat teilt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die die Unzuverlässigkeit begründenden Tatsachen, die aus Aufzeichnungen einer nach § 100 a StPO angeordneten Telefonüberwachung in einem Strafverfahren herrühren, in dem vorliegenden Widerrufsverfahren verwertbar sind. Unstreitig ist, dass die §§ 100 a, 100 b StPO als Rechtsgrundlage für die Tatsachenverwertung im Verwaltungsverfahren nicht in Betracht kommen. § 100 b Abs. 5 StPO regelt nur ein Verwertungsverbot in Strafverfahren. Die Verwendung der aus der Telefonüberwachung gewonnen Erkenntnisse im Verwaltungsverfahren ist nach § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig. Nach dieser Vorschrift dürfen Informationen, die erkennbar durch eine Maßnahme nach § 100 a StPO ermittelt worden sind, u.a. "zur Abwehr von erheblichen Gefahren" übermittelt werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine Befugnisnorm zur Weitergabe von Daten. § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO erlaubt unter den angegebenen Voraussetzungen die Übermittlung und auch die Verwendung der im Rahmen einer Überwachungsmaßnahme nach § 100 a StPO ermittelten Informationen. Mit der Bezugnahme auf einzeln aufgeführte Zwecke ("für Zwecke eines Strafverfahrens, zur Abwehr von erheblichen Gefahren und für die Zwecke, für die eine Übermittlung nach § 18 BVerfGG zulässig ist") enthält die Vorschrift ein Verbot der Übermittlung und Verwendung für andere Zwecke. Die Kehrseite der Verwendungseinschränkung ist die Erlaubnis, die übermittelten Informationen entsprechend der gesetzlichen Zweckbindung zu nutzen. Das Verwaltungsgericht hat der Antragstellerin zu Recht entgegengehalten, dass die bloße Übermittlung von Informationen nicht zweckdienlich ist, wenn die ermittelten Erkenntnisse nicht verwendet werden dürfen. Die Antragstellerin macht weiter geltend, als Rechtsgrundlage komme allein § 33 a Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG in Betracht. Nach dieser Vorschrift dürfe die Polizei personenbezogene Daten durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erheben, nicht aber zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Justiz. Die Bestimmung erlaubt die Telefonüberwachung zu den genannten Zwecken durch die Polizei im Gefahrenabwehrrecht. Sie hat präventiven Charakter und damit einen anderen Anwendungsbereich als die Vorschrift des § 100 a StPO, die der Strafverfolgung dient. Die dem Antragsgegner übermittelten Informationen sind nicht im Rahmen einer Telefonüberwachung nach § 33 a Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG, sondern durch eine Telefonüberwachung gemäß § 100 a StPO ermittelt worden. Maßgeblich ist deshalb nicht die Zweckbindung des § 33 a Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG. Entscheidungserheblich ist vielmehr, ob die dem Antragsgegner übermittelten Informationen zur Abwehr von erheblichen Gefahren gemäß § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO dienen. Diese Frage ist zu bejahen. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht den Begriff der erheblichen Gefahr unter Rückgriff auf § 2 Nr. 1 c Nds. SOG ausgelegt hat. Nach dieser Legaldefinition des Begriffes ist eine erhebliche Gefahr eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wie Bestand des Staates, Leben, Gesundheit, Freiheit, nicht unwesentliche Vermögenswerte sowie andere strafrechtlich geschützte Güter. Bei dieser Bandbreite geschützter Rechtsgüter ist auch die Funktionsfähigkeit der Justiz als bedeutsames Rechtsgut einzuordnen. Der Senat teilt auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es bestehe die konkrete Gefahr, dass die Funktionsfähigkeit der Justiz durch den Einsatz nicht zuverlässiger beeidigter Verhandlungsdolmetscher Schaden nehme. Die Verwertungsbefugnis nach § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO ist danach gegeben. Die strafprozessuale Norm des § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO wird im Gefahrenabwehrrecht ergänzt durch § 38 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG. Nach dieser Vorschrift können Verwaltungsbehörden die von ihnen im Rahmen der Aufgabenerfüllung nach diesem Gesetz rechtmäßig erhobenen personenbezogenen Daten speichern, verändern und nutzen, wenn dies zu dem Zweck erforderlich ist, zu dem sie erhoben worden sind. Zum Erheben von Daten im Sinne der Beschaffung von Daten des Betroffenen gehört auch die Übermittlung auf Ersuchen (Böhrenz/Unger/Siefken, Nds. SOG, 8. Aufl. 2005, § 38 Rdnr. 4). Mit der auf sein Ersuchen veranlassten Übermittlung der protokollierten Mitschnitte von Telefongesprächen hat der Antragsgegner als Verwaltungsbehörde rechtmäßig Daten erhoben. Ihre Nutzung dient der Abwehr einer erheblichen Gefahr für das Schutzgut der Funktionsfähigkeit der Justiz. Die Antragstellerin ist unzuverlässig. Nach Ziffer 2 der Allgemeinen Verfügung des Niedersächsischen Justizministeriums - AV d. MJ - vom 15. Oktober 1951 (Nds. Rpfl. S. 194; zuletzt geändert durch AV d. MJ v. 28.4.1975 Nds. Rpfl. S. 104) sind als zu beeidende Personen nur solche auszuwählen, die die erforderliche Sachkunde und persönliche Eignung besitzen. Nach Ziffer 8 c ist der Name des Dolmetschers in dem Verzeichnis der allgemein beeidigten Dolmetscher zu streichen, wenn er sich als unzuverlässig erweist. Die dem Antragsgegner bekannt gewordenen Tatsachen stützen seine Annahme, die Antragstellerin sei unzuverlässig. Nach den in den Beschlussgründen wiedergegebenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerin am 5. Juli 2004 mit E. F. in den Kanzleiräumen ihrer Arbeitgeber ein Telefonat geführt, in dem sie dem Gesprächspartner Einzelheiten aus der anwaltlichen Akte während laufender Ermittlungen mitgeteilt hat. Aus dem Gesprächsverlauf ergibt sich, dass die Antragstellerin zu Beginn des Gesprächs die anwaltliche Akte geholt und sodann Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungen sowie die bisherigen Einlassungen der vernommenen Bandenmitglieder bekannt gegeben hat. Ferner hat die Antragstellerin dem Anrufer auch darüber Auskunft erteilt, inwieweit dessen Name in der Akte vermerkt ist und ob sich Erkenntnisse über abgehörte Telefonanschlüsse ergeben. Dieses vom Verwaltungsgericht dokumentierte Fehlverhalten begründet die Unzuverlässigkeit der Antragstellerin. Mit ihren Telefonauskünften hat die Antragstellerin aktiv-steuernd auf ein Ermittlungsverfahren zugunsten von Tatverdächtigen Einfluss genommen. Die am gerichtlichen Verfahren Beteiligten müssen darauf vertrauen dürfen, dass sich ein Dolmetscher in Ausübung seiner Dolmetschertätigkeit und auch außerhalb seines unmittelbaren Einsatzes als Dolmetscher in Angelegenheiten, die im Zusammenhang mit der gerichtlichen Tätigkeit des Dolmetschers stehen, korrekt verhält. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass einem Dolmetscher, der allgemein beeidigt ist - worauf er im allgemeinen auch werbend hinweist -, auch außerhalb gerichtlicher Verfahren ein gegenüber anderen Sprachmittlern erhöhtes Vertrauen entgegengebracht wird (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 10.4.2006 - 9 S 360/06 -, veröffentl. in juris). Zu Unrecht vermisst die Antragstellerin sowohl in dem Bescheid des Antragsgegners vom 4. Oktober 2005 als auch in dem angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Ausführungen dazu, dass sie auch zukünftig die Funktionsfähigkeit der Justiz durch ihr Verhalten gefährden werde. Der Antragsgegner führt in seinem Bescheid aus, dass die Schwere des Pflichtenverstoßes einen Vertrauensverlust begründe, der über den einmaligen Verstoß fortbestehe. Diese Rechtsposition hat sich das Verwaltungsgericht auf Seite 10 des Beschlussabdruckes zu eigen gemacht, soweit es im Anschluss an die Darstellung der den Untersuchungszweck im Ermittlungsverfahren gefährdenden Telefonauskünfte der Antragstellerin ausgeführt hat, dass sich bei dieser Sachlage nicht die Frage stelle, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein einmaliges Fehlverhalten jedweder Art die Unzuverlässigkeit eines Dolmetschers begründen könne. Dem Verwaltungsgericht ist in seiner Einschätzung zu folgen, dass Art und Schwere des Fehlverhaltens der Antragstellerin einen nachhaltigen Vertrauensverlust der am gerichtlichen Verfahren Beteiligten in die persönliche Integrität der Antragstellerin begründen. Neben dem bereits genannten Fehlverhalten der Antragstellerin, durch Weitergabe von Untersuchungsergebnissen an dritte Tatverdächtige zielgerichtet auf laufende Ermittlungsverfahren Einfluss zu nehmen, offenbaren Wortwahl und Ausdrucksweise der Antragstellerin in den mitgeschnittenen Telefongesprächen - so hat die Antragstellerin die ermittelnden Polizeibeamten mehrfach als "Bullen" bezeichnet - eine nicht hinnehmbare Respektlosigkeit gegenüber der Polizei als einer am gerichtlichen Verfahren beteiligten Behörde, die ebenfalls darauf vertrauen darf, dass ein allgemein beeidigter Dolmetscher die im Zusammenhang mit der gerichtlichen Tätigkeit erforderliche allgemeine Lauterkeit und Korrektheit besitzt. Die Antragstellerin hat charakterliche Mängel offenbart, die befürchten lassen, dass sie auch zukünftig die Funktionsfähigkeit der Justiz durch ihr Verhalten gefährdet. Die aufgezeigten Mängel lassen sich nicht mit einer einmaligen persönlichen Sondersituation der Antragstellerin begründen.

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