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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 13.03.2006
Aktenzeichen: 11 ME 315/05
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 32 I
AufenthG § 32 II
AufenthG § 32 III
AufenthG § 32 IV
AufenthG § 34 I
AufenthG § 4
AufenthG § 8 I
1. Ist dem minderjährigen Ausländer durch die Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschland im Wege des Sichtvermerks eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Kindernachzugs erteilt worden, stellt der nach Einreise gestellte Antrag nicht einen (Erst-)Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dar, sondern einen Verlängerungsantrag.

2. Gegenüber dem Antrag eines minderjährigen Ausländers auf Verlängerung der ihm zum Zwecke des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis kann sich die Ausländerbehörde nicht darauf berufen, der Antragsteller habe die maßgebliche Altersgrenze inzwischen überschritten.


Gründe: Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Sein Geburtsdatum wurde durch Urteil des Landgerichts B. vom 14. Februar 2002 im Wege der Annullierung einer anderslautenden Eintragung im Personenstandsregister auf den 20. Juni 1987 berichtigt. Die Mutter des Antragstellers verstarb im Jahr 1987 in der Türkei. Der Vater des Antragstellers lebt seit 1992 dauerhaft im Bundesgebiet und erhielt im Oktober 1996 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die als Niederlassungserlaubnis fortgilt. Der Antragsteller beantragte im März 2001 bei der Deutschen Botschaft in Ankara zunächst erfolglos die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Form des Sichtvermerks für den Kindernachzug zu seinem in Hannover lebenden Vater. Nach Ergehen des Urteils des Landgerichts B. vom 14. Februar 2002 beantragte der Antragsteller am 29. April 2002 erneut bei der Deutschen Botschaft in Ankara die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Form des Sichtvermerks für den Kindernachzug zu seinem Vater. Die Antragsgegnerin verweigerte unter dem 27. Mai 2002 ihre Zustimmung zu der Einreise des Antragstellers mit der Begründung, dessen Identität sei nach wie vor nicht geklärt. Die Auslandsvertretung lehnte daraufhin den Antrag des Antragstellers mit Bescheid vom 14. August 2002 ab. Mit Urteil vom 19. November 2004 - VG 25 A 250.02 - verpflichtete das Verwaltungsgericht Berlin die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Ankara, dem Antragsteller die am 29. April 2002 beantragte Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks zum Zwecke des Kindernachzugs zu erteilen. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus: Der Antragsteller habe Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Form des Sichtvermerks zum Zwecke des Kindernachzugs zu seinem Vater. Die in § 20 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AuslG genannten Voraussetzungen lägen vor. Für die Altersgrenze in § 20 Abs. 2 Nr. 2 AuslG sei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich. Am 29. April 2002 habe der Antragsteller das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt. Die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2 AuslG seien ebenfalls gegeben. Der Antragsteller reiste daraufhin am 28. Januar 2005 mit einem am 26. Januar 2005 in Ankara ausgestellten Visum, das vom 27. Januar 2005 bis zum 26. April 2005 befristet war, in das Bundesgebiet ein und beantragte am 11. Februar 2005 die "Erteilung/Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis". Das Begehren wertete die Antragsgegnerin als Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 23. Mai 2005 ab. Gleichzeitig forderte sie den Antragsteller auf, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Vollendung des 18. Lebensjahres zu verlassen und drohte dem Antragsteller für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung gab sie an, dass im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen des Kindernachzugs gemäß § 32 AufenthG nicht vorlägen. Den vorläufigen Rechtsschutzantrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 12. September 2005 abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Vater des Antragstellers, B. A., besitze keinen der beiden in § 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannten Aufenthaltstitel. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG werde nur Ausländern erteilt, die unanfechtbar als Asylberechtigte anerkannt seien oder denen unanfechtbar der Status eines sog. Konventionsflüchtlings zugebilligt worden sei. Zu dem genannten Personenkreis gehöre der Vater des Antragstellers nicht. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG scheide aus, weil der Antragsteller nicht zusammen mit seinem Vater seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt habe. Die Antragsgegnerin habe auch die in § 32 Abs. 2 AufenthG bestimmten Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zutreffend verneint. Der Antragsteller beherrsche die deutsche Sprache nicht. Auch erscheine es nicht gewährleistet, dass sich der inzwischen volljährige Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen könne. Der Antragsteller habe bis auf die wenigen Monate seines Aufenthalts im Bundesgebiet sein gesamtes Leben in der Türkei verbracht. Selbst für den Fall, dass er dort sechs Jahre mit Erfolg die Schule besucht habe, könne von einer günstigen Integrationsprognose in einem absehbaren Zeitraum nicht ausgegangen werden. Die Regelung in § 32 Abs. 3 AufenthG komme für den Antragsteller nicht in Betracht, weil er das 16. Lebensjahr bereits vor dem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vollendet habe. Das Vorliegen eines Härtefalles gemäß § 32 Abs. 4 AufenthG sei ebenfalls nicht ersichtlich. Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt eine Abänderung des angegriffenen Beschlusses. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die Versagung des begehrten Aufenthaltstitels rechtswidrig ist. Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren überwiegt deshalb das private Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an einer möglichst raschen Beendigung seines Aufenthalts. Der Antragsteller hat voraussichtlich einen Anspruch auf Verlängerung der ihm im Wege des Sichtvermerks durch die Deutsche Botschaft in Ankara erteilten Aufenthaltserlaubnis vom 26. Januar 2005. Nach § 34 Abs. 1 AufenthG ist die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 zu verlängern, so lange u.a. ein personensorgeberechtigter Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bestreitet die Antragsgegnerin mit der Begründung, bei dem von dem Antragsteller am 11. Februar 2005 gestellten Antrag handele es sich nicht um einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, sondern um einen Antrag auf (Erst-)Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der am 26. Januar 2005 durch die Auslandsvertretung für einen befristeten Zeitraum ausgestellte Sichtvermerk dürfe nicht als Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis missverstanden werden. Bei dem Sichtvermerk handele es sich weder nach dem AuslG noch nach dem AufenthG um eine Aufenthaltserlaubnis. Mit diesem Vorbringen dringt die Antragsgegnerin nicht durch. Dem Antragsteller wurde am 26. Januar 2005 eine befristete Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Kindernachzugs erteilt. Dass die Aufenthaltsgenehmigung in Form eines Sichtvermerks erteilt wurde, ändert nichts an der Rechtsqualität als Aufenthaltserlaubnis. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 AuslG ist die Aufenthaltsgenehmigung vor Einreise in Form des Sichtvermerks (Visum) einzuholen. Das Visum ist demnach formell eine Aufenthaltsgenehmigung, obwohl es in § 5 Abs. 1 AuslG, der als Arten der Aufenthaltsgenehmigung Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltsbewilligung und Aufenthaltsbefugnis aufführt, nicht erwähnt wird. Es handelt sich um eine eigenständige Form der Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung neben der Erteilung vor oder nach der Einreise gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AuslG i.V.m. §§ 9, 10 DVAuslG. Voraussetzungen und Inhalt richten sich hingegen nach den §§ 5 ff. AuslG. In der Sache ist das Visum deshalb je nach Zweck und Dauer des Aufenthalts Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsbewilligung oder Aufenthaltsbefugnis (Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 3 Rdnr. 25 u. § 5 Rdnr. 5). Bei dem dem Antragsteller am 26. Januar 2005 ausgestellten Sichtvermerk handelt es sich um eine Aufenthaltserlaubnis. Unter Anmerkungen wird in dem Visum als Grund der Einreise "Familienzusammenführung" angegeben. Die Aufenthaltsgenehmigung nimmt damit Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. November 2004 - VG 25 A 250.02 -, mit dem die Deutsche Botschaft in Ankara verpflichtet wurde, dem Antragsteller auf der Rechtsgrundlage der §§ 20 Abs. 2 i.V.m. 17 Abs. 2 AuslG die beantragte Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks zum Zwecke des Kindernachzugs zu erteilen. An dieser Rechtslage hat sich nach Inkrafttreten des AufenthG nichts geändert. Zwar wird das Visum jetzt als eigenständiger Aufenthaltstitel in § 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG neben Aufenthaltserlaubnis und Niederlassungserlaubnis erwähnt. Damit entfällt aber lediglich für das kurzfristige Schengen-Visum nach § 6 Abs. 1-3 AufenthG die Notwendigkeit einer Fiktion der Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis durch die Auslandsvertretungen (Hailbronner, AuslR, Kommentar, Stand: Februar 2006, § 6 AufenthG Rdnr. 2). Für längerfristige Aufenthalte verlangt das Gesetz in § 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - wie bisher in § 3 Abs. 3 Satz 1 AuslG - ein Visum, das vor der Einreise eingeholt werden muss (nationales Visum). Dazu bedarf es der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis nach den Regeln der §§ 7 ff. AufenthG, die in der Form eines Visums durch die deutschen Auslandsvertretungen ausgestellt wird (Hailbronner, a.a.O., § 6 AufenthG Rdnr. 2). Mit dem Begriff des Visums wird somit auch unter der Geltung des AufenthG lediglich die Form des Aufenthaltstitels beschrieben. Der materielle Gehalt des Titels richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis und Niederlassungserlaubnis geltenden Vorschriften (vgl. § 6 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Der Antragsteller erfüllt bei der hier allein gebotenen summarischen Prüfung die Voraussetzungen nach § 34 Abs. 1 AufenthG für die Verlängerung der ihm am 26. Januar 2005 erteilten Aufenthaltserlaubnis. Nach der genannten Vorschrift steht dem nachgezogenen Minderjährigen unter den dort genannten, erleichterten Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf Verlängerung des Aufenthalts zu. Ob der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) ist nicht zu prüfen. Es ist weiter davon auszugehen, dass der Vater des Antragstellers über eine Niederlassungserlaubnis verfügt und der Antragsteller mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Die Antragsgegnerin kann dem Antragsteller nicht entgegen halten, er erfülle nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1, Abs. 2 oder Abs. 4 AufenthG. Der Antragsteller begehrt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 8 Abs. 1 AufenthG. Ein solcher Fall ist gegeben, wenn die weitere lückenlose Zulassung des Aufenthalts ohne Wechsel des Aufenthaltstitels bzw. des Aufenthaltszwecks begehrt wird. Daran kann nach dem Vorgesagten kein Zweifel bestehen. Zwar finden nach § 8 Abs. 1 AufenthG auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung. Diese gesetzliche Regelung eröffnet aber nicht in jedem Fall den Rückgriff auf die für die Erteilung des Aufenthaltstitels geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Zum Teil sind die dort genannten Voraussetzungen auf die erstmalige Erteilung des Aufenthaltstitels zugeschnitten. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Altersgrenze für den Kindernachzug in § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG. Die Altersgrenze ist deshalb für den Antrag eines minderjährigen Ausländers auf Verlängerung der ihm zum Zwecke des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis bedeutungslos (Hailbronner, a.a.O., § 8 AufenthG Rdnr. 4; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 8 AufenthG Rdnr. 4; Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 20 AuslG Rdnr. 21). Die Antragsgegnerin hat deshalb zu Unrecht die begehrte Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung versagt, die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1, Abs. 2 oder Abs. 4 AufenthG lägen nicht vor. Insbesondere ist es der Antragsgegnerin verwehrt, den Antragsteller gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG als minderjähriges lediges Kind, welches das 16. Lebensjahr vollendet hat, einzustufen und von ihm das Beherrschen der deutschen Sprache bzw. eine positive Integrationsprognose zu verlangen. Der Antragsteller hatte zwar zum Zeitpunkt der Stellung seines Antrags vom 11. Februar 2005 das 16. Lebens-jahr vollendet und hätte deshalb im Falle eines Antrags auf (Erst-)Erteilung der Aufenthaltserlaubnis die Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 AufenthG erfüllen müssen. Dem Antragsteller kommt aber zugute, dass ihn das Verwaltungsgericht Berlin mit Urteil vom 19. November 2004 - VG A 250.02 - wegen der Stellung des Visumsantrags am 29. April 2002 vor Vollendung des 16. Lebensjahres als Minderjährigen im Sinne des § 20 Abs. 2 AuslG betrachtet und das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift bejaht hat. Der Antragsteller ist deshalb auch in dem vorliegenden Verfahren auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als Minderjähriger im Sinne der Vorschrift des § 32 Abs. 3 AufenthG, der § 20 Abs. 2 AuslG abgelöst hat, zu behandeln. Erhebliche Sachverhaltsänderungen, die dem Anspruch entgegen stehen könnten, sind nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht ersichtlich. Die von der Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 30. Januar 2006 vorgebrachten Einwände rechtfertigen nicht eine andere Sichtweise.

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